Versorgungsforschung / Health Services Research
Bin ich ein Notfall? Notfallempfinden und Entscheidungskompetenz in akuten Situationen: eine qualitative Erhebung bei Notaufnahmepatient*innenAm I an emergency patient? Emergency perception and decision-making competence in acute situations: a qualitative study of ED patients

https://doi.org/10.1016/j.zefq.2021.07.003Get rights and content

Zusammenfassung

Hintergrund

Eine steigende Anzahl von Patient*innen sucht aufgrund von akuten, aber weniger dringlichen Behandlungsanlässen die Notaufnahmen auf. Ein vertieftes Wissen zum Notfallempfinden und zu Entscheidungskompetenzen von Patient*innen ist daher ein wichtiger Grundstein, um Strategien zur Reduktion der Inanspruchnahme von Notaufnahmen zu entwickeln. Ziel der vorliegenden Studie war daher, bei Notaufnahmepatient*innen das subjektive Verständnis eines Notfalls sowohl allgemein als auch bezogen auf den konkreten eigenen Konsultationsanlass zu erfassen. Zudem sollte eruiert werden, wie die Fähigkeit, in akuten Situationen eine angemessene Entscheidung zu treffen, aus Patient*innenperspektive gesehen wird.

Methode

Es wurden 17 qualitative Interviews mit Patient*innen mittels semi-strukturierten Leitfaden geführt. Die Analyse der Daten erfolgte nach der qualitativen Inhaltsanalyse.

Ergebnisse

Ein Großteil der Befragten führte ihre Notaufnahmekonsultation auf eine subjektive Notsituation zurück. Unter einem Notfall verstanden die Befragten v. a. schwerwiegende und lebensbedrohliche Zustände, infolge derer Betroffene langfristig gesundheitliche Schäden zu befürchten hätten. Insbesondere Unsicherheit hinsichtlich der Einordnung der eigenen Beschwerden und damit verbundene Angst können nach Einschätzung der Interviewpartner*innen Situationen begünstigen, in denen die Notaufnahme alternativlos scheint. Die gesundheitlichen Kompetenzen von Patient*innen wurden im Hinblick auf die Beurteilung von Beschwerden sowie der Entscheidungsfindung in akuten Situationen von einer Mehrheit der Befragten negativ bewertet (“unsichere Patient*innen”). Wenigen Patient*innen - darunter jene mit chronischen Erkrankungen und Erfahrungen im Umgang mit gesundheitlichen Problemen - wurde hingegen eine hohe Kompetenz zugeschrieben („sichere Patient*innen“).

Schlussfolgerung

Ein wichtiger Schritt zur Erreichung einer angemesseneren Inanspruchnahme von Notaufnahmen ist die Förderung der gesundheitlichen Kompetenzen von Patient*innen, um deren Bewertung akuter Situationen und die folgende Entscheidungsfindung zu stärken.

ABSTRACT

Background

The number of patients visiting emergency departments (ED) due to acute but less than urgent treatment needs is increasing. A deeper understanding of emergency perception and decision-making competencies of patients is fundamentally important for developing strategies to reduce ED utilization. The aim of this study was to assess ED patients’ subjective understanding of an emergency in general as well as relating to their own specific consultation. Additionally, the patients’ perspective on the ability to make appropriate decisions in acute situations should be explored.

Methods

Seventeen qualitative semi-structured patient interviews were conducted and analyzed using qualitative content analysis.

Results

The majority of participants attributed their ED consultation to a subjectively perceived emergency situation. Interviewees mostly understood an emergency as a serious or life-threatening constellation associated with impending long-term health damage. They believed that uncertainty concerning the interpretation of their symptoms and associated anxiety may particularly promote situations in which referring to an ED appears to be the only alternative. Patients’ health competencies were assessed negatively by a majority of interviewees with regard to assessment of complaints and decision-making in acute situations (“insecure patients”). In contrast, few patients, including those with chronic disease and experience in dealing with health problems, were considered to have a high level of competence (“confident patients”).

Conclusion

Improving patients’ health literacy skills to strengthen their assessment of acute situations and their decision-making is important in order to promote appropriate ED utilization.

Section snippets

Hintergrund

Die steigende Inanspruchnahme von Notaufnahmen ist zu einer großen Herausforderung im deutschen Gesundheitssystem geworden [1]. Auffällig ist die steigende Anzahl von Patient*innen, die aufgrund von akuten, aber weniger dringlichen Behandlungsanlässen Notaufnahmen aufsuchen [2]. Gründe hierfür sind unter anderem patientenseitige Informationsdefizite hinsichtlich (ambulanter) Strukturen der Notfallversorgung und Versorgungsalternativen sowie ein hohes subjektives Dringlichkeitsempfinden und

Methode

Zur Ermittlung des individuellen patient*innenseitigen Verständnisses von Notfällen und Entscheidungskompetenzen in akuten Situationen, wurde ein qualitativer Forschungszugang gewählt. Dieser ermöglicht neben der Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen [6] auch die Erfassung vielschichtiger Aspekte des Themas „Notfall“, sowohl aus dem persönlichen Erleben der Teilnehmer*innen als Notfallpatient*innen, aber auch aus ihrer allgemeinen Lebenserfahrung und Sicht auf gesellschaftliche

Ergebnisse

Es wurden insgesamt 17 Interviews geführt. Neun Teilnehmer*innen waren weiblich und acht männlich. Das mittlere Alter lag bei knapp 51 Jahren. Details zum Sample finden sich in Tabelle 2.

Zusammenfassung

Ein Großteil der Befragten führte ihre Notaufnahmekonsultation auf eine tatsächlich als Notsituation empfundene Episode zurück. Generell wurden als dergestalt vor allem schwerwiegende und potenziell lebensbedrohliche Situationen bzw. mit der Möglichkeit langfristiger gesundheitlicher Schäden behaftete gesundheitliche Probleme eingestuft. Das Notfallempfinden wird nach Ansicht der Interviewpartner*innen von der subjektiven Schwere der Symptomatik, der Assoziation mit Angst, sowie des nach

Stärken und Schwächen

Die qualitativen Interviews geben einen detaillierten Einblick in die subjektive Notfalldefinition und -einschätzung aus Sicht der Patient*innen mit respiratorischer Symptomatik und zeigen eine umfassende Perspektive auf die Entscheidungskompetenz in akuten Situationen. Der qualitative Forschungsansatz ermöglicht dabei eine tiefergehende Erfassung von Ansichten und Erfahrungen.

Zu den Limitationen zählen mögliche Verzerrungen durch Researcher oder Interviewer Bias sowie die soziale Erwünschtheit

Schlussfolgerung

Die Ergebnisse zeigen, dass Patient*innen ihre Notaufnahmekonsultation überwiegend auf eine subjektive Notsituation zurückführen. Das Verständnis eines Notfalls umfasste dabei unterschiedliche Aspekte der physischen und psychischen Gesundheit und Versorgung sowie des subjektiven Empfindens der Patient*innen. Theoretisch gesehen ist es nicht diskrepant zur normenseitigen Begriffsbestimmung, wobei situativ vor allem der Faktor Unsicherheit dazu führt, dass abweichend gehandelt wird, da die

Förderung

Die Studie wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Verbundprojekt EMANet unter dem Förderkennzeichen (01GY1604) gefördert.

Danksagung

Wir danken allen Patient*innen für ihre Zeit und Bereitschaft zur Teilnahme an den Interviews. Des Weiteren danken wir den Beteiligten des EMANet Forschungsverbundes für die gute Zusammenarbeit und Unterstützung.

Interessenkonflikt

Die Autor*innen geben keinen Interessenkonflikt an. Der Förderer hatte keinen Einfluss auf die Datenerhebung, Datenauswertung sowie Inhalt und Erstellung des Artikels.

Autorenschaft

Alle Autor*innen haben maßgeblich zu der Arbeit beigetragen und erfüllen die Anforderung für die Autorenschaft nach den ICMJE-Empfehlungen. Dies beinhaltete folgende individuelle Beiträge der Autor*innen: MM ist Initiator und Studienleiter des Forschungsnetzwerkes EMANet und Sprecher des Verbundprojekts. SO und FH erstellten den Interviewleitfaden. SO führte die Interviews durch und transkribierte das Material. Die Analyse erfolgte durch SO und FH, die Ergebnisse wurden durch SO, FH, LK und RR

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