1 Einleitung

Zeitdiagnose ist Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst. Von Beginn an bestand die Aufgabe der Soziologie darin, Strukturmerkmale und Strukturdynamiken, insbesondere moderner Gesellschaften, zu rekonstruieren und damit Aussagen über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, deren Ursachen sowie Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt treffen zu können. Seit ihren Anfängen ist Soziologie dabei immer auch „Krisenwissenschaft der jeweiligen Gegenwart“ (Reckwitz u. Rosa 2021, S. 15). Zu denken ist hier an die Tradition einer auf Muster der Lebensführung und ihre historischen Transformationen orientierten verstehenden Soziologie, die sich von Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel herleitet. Die Werkzeuge und Vokabulare, die seitdem zur Verfügung stehen, liefern „zugespitzte Deutungsangebote, die eine gesellschaftliche Selbstaufklärung ermutigen“ (Reckwitz 2021, S. 28). Eine solche Gesellschaftstheorie ist immer noch – wenn auch unter anderen Bedingungen – Kernkompetenz und Kernaufgabe der Soziologie. Dabei zeigen sich nicht nur historische Unterschiede zwischen verschiedenen Ansätzen, sondern die Entwürfe unterscheiden sich auch mit Blick darauf, was verdichtet in den Blick genommen wird, welcher Gegenstandsbereich der Gesellschaft aus welcher Perspektive analysiert wird. Ein spezifisches Augenmerk der soziologischen Gesellschaftstheorie ist freilich die Moderne, womit jener Typus von Gesellschaft gemeint ist, der sich mit Beginn der europäischen Neuzeit herausgebildet hat und seit dem 18. Jahrhundert durch Industrialisierung, Demokratisierung, Verwissenschaftlichung, Säkularisierung und Individualisierung forciert wurde – zumindest gilt dies für Europa und Nordamerika. Gesellschaftstheorie ist damit „im Kern Theorie der Moderne“ (ebd., S. 34), obgleich sich eine Reihe der Grundstrukturen entscheidend gewandelt haben und die Moderne selbst eine Geschichte hat.

Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass auch – und gerade – die Freundschaft ein solcher Gegenstandsbereich ist, in dessen Erforschung die Soziologie ein zeitdiagnostisches Instrument bilden kann. Am Freundschaftsdiskurs lassen sich die Anforderungen der modernen Gesellschaft an das Individuum ablesen und vice versa werden auch gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse in Freundschaftsbeziehungen verhandelt. Das Phänomen der Freundschaft steht somit in einem engen Verflechtungszusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen – in den Blick genommen werden sowohl der funktionale Zusammenhang einer modernen Gesellschaft, ihre Wertideen und Deutungsmuster, als auch die Veränderungen mit Blick auf Subjektivierungsweisen. Unabhängig von der individuellen Ausgestaltung der jeweiligen Freundschaftsbeziehung ist die Freundschaft immer auch Ausdruck und Reaktion auf den Strukturwandel der modernen Gesellschaft; sie fungiert als eine Art „Seismograph“ des sozialen Wandels (Alleweldt 2019, S. 144).

Diese gesellschaftliche Vermitteltheit zu betrachten erfordert zunächst eine kurze Klärung dessen, was in der Soziologie unter dem Phänomen Freundschaft verstanden wird. Im Anschluss daran werden unterschiedliche Argumentationsstränge der soziologischen Zeitdiagnose zusammengetragen, die eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft adressieren und Prozesse der De- und Reintegration einer individualisierten Gesellschaft in den Blick nehmen. Dies ist in der frühen Soziologie der Blick auf eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft. Im Übergang zur Spätmoderne sind es vor allem Prozesse der Individualisierung, in deren Folge ein Wandel der sozialen Strukturen zu einem Wandel der subjektiven Selbstverhältnisse führt. Es kann gezeigt werden, dass Freundschaft als Beziehungsform in einer individualisierten Gesellschaft subjektkonstitutiv wirkt. Freundschaften sind Räume der Selbstthematisierung und Selbstreflexion und damit Ausdruck der Notwendigkeit und des Gelingens moderner Subjektbildung. Im Freundschaftsgeschehen werden Selbstbezugnahme und individualisierte Resonanzen im Erleben mit anderen möglich.

2 Merkmale von Freundschaft

Freundschaft wird in der Soziologie als ein Strukturtypus persönlicher Beziehungen (Lenz 2009) verstanden, eine frei wählbare, auf Gegenseitigkeit basierende, relativ dauerhafte, dyadisch-persönliche Beziehungsform mit unterschiedlichen Nähegraden (vgl. Schmidl 2017; Stiehler 2009). Vorgestellt wird Freundschaft als reziproke Beziehungsform (vgl. Nötzoldt-Linden 1994), die sich besonders durch eine Nicht-Institutionalisierung auszeichnet (Schobin et al. 2016). Basierend auf einer subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit, Zuneigung und Sympathie, leben Freundschaften von einem gemeinsamen Wissensbestand und einem eigenen Werte-Regelgefüge (vgl. Stiehler 2009, S. 384; Auhagen 1991). Loyalität, Vertrauenswürdigkeit und Verpflichtung gehören von jeher zur sozialen Grammatik der Freundschaft, die es den Individuen erlaubt, „die Freundschaft als eine moralisch eigensinnige Beziehungsform von anderen Interaktionsverhältnissen abzugrenzen“ (vgl. Honneth und Rössler 2016, S. 144; Spencer und Pahl 2006). Damit wird auch deutlich, dass Freundschaft nicht nur auf äußeren Zuschreibungen beruht, sondern ein Produkt von Eigenleistungen ist, in die die Beteiligten aktiv involviert sind. Langjährige Freundschaftsbeziehungen verbinden uns mit unserer Biographie, sie vermögen im Durchleben und Durchleiden schwieriger Lebensphasen ein Moment der Kontinuität und Kohärenz zu stiften. Über Freundschaften gelingt Resonanzerfahrung (Rosa 2018) – ein elementarer Teil einer gelingenden Lebensführung. Harmut Rosa zufolge lassen sich Resonanzverhältnisse als normativ aufgeladene ‚gute’ Verhältnisse begreifen, die positive Rückmeldung, Zufriedenheit und ein lustvolles Erleben ermöglichen; Verhältnisse, in denen „Subjekte davon überzeugt sind, mit etwas verbunden zu sein, das genuin antwortfähig ist“ (ebd., S. 357): „Freunde zu haben ist nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie deshalb wichtig, weil sie uns anerkennen und wertschätzen, sondern weil sie uns Antwort geben und zu berühren vermögen und weil wir sie erreichen können; sie sind für uns erste und zweite Stimmgabel zugleich“ (ebd., S. 334).

3 Die frühe Zeitdiagnose: die „differenzierte Freundschaft“ und ihre stabilisierende Funktion

In dem Versuch, Freundschaft begrifflich und phänomenal zu bestimmen, wird bereits deutlich, dass sie als Beziehungsform auf den langfristigen Prozess der Individualisierung verweist. In den Blick gerät damit jene historische Entwicklung, die im Laufe gesellschaftlicher Modernisierung dazu geführt hat, dass sich das Individuum aus größeren Kollektiven und festen Strukturen lösen konnte. Freundschaft wird in diesem Zusammenhang mit der Erwartung verknüpft, das freigesetzte und verunsicherte Individuum einer enttraditionalisierten Gesellschaft aufzufangen. Die frei wählbare und nicht formalisierte Beziehungsform „Freundschaft“ scheint dabei hochgradig zweckmäßig.

Georg Simmel, der den Grundstein für eine soziologische Freundschaftsforschung gelegt hat, sieht in der modernen Gesellschaft einen Wechsel von einem bloß äußerlichen Zusammensein hin zu einer inhaltlichen Beziehung (1890, S. 101). Die moderne Gesellschaft, die Simmel vor Augen hat, ist eine Gesellschaft, die sich in eine Vielzahl sozialer Sphären ausdifferenziert. Der moderne, individualisierte Mensch zeichnet sich nach Simmel dadurch aus, dass er vielen verschiedenen Kreisen und Gruppen angehört. Das Bild dieses modernen Menschen erschließt zugleich das Bild der modernen Freundschaft, denn mit ihr wird die Erwartung verknüpft, das individualisierte (freigesetzte) und damit auch verunsicherte (fragmentierte) Individuum aufzufangen.

Das ‚ganzheitliche‘ Freundschaftsideal, wie es in der Antike entworfen und durch die Romantik fortgeführt wurde, lässt sich in der modernen Welt allerdings nicht mehr ohne weiteres verwirklichen. Demgegenüber legt Simmel in dem Konzept der „differenzierten Freundschaft“ (1890) dar, wie durch den gesellschaftlichen Wandel eine neue Form der Freundschaftsbeziehung entsteht: Waren in vormodernen Gesellschaften die verschiedenen Lebensbereiche vernetzt und waren sie zudem alle von denselben Wertordnungen durchzogen – hatte man noch das Gefühl in der ‚gleichen Welt‘ zu leben (Berger et al. 1975, S. 60) –, so fehlt mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der einzelnen Lebensbereiche ein solches integratives und stabilisierendes Element. Die „differenzierte Freundschaft“ als Beziehungsform ist somit die Folge einer vormals einheitlichen Lebenswelt, die sich in viele Lebensbereiche auffächert und in der nur mehr Ausschnitte der Person zur Geltung kommen können. Differenzierte Freundschaften sind demnach solche, „die uns mit einem Menschen von der Seite des Gemütes, mit einem anderen von der geistigen Gemeinsamkeit her, mit einem Dritten um religiöser Impulse willen, mit einem Vierten durch gemeinsame Erlebnisse verbinden“ (Simmel 1992, S. 401). In diesem Konzept der „differenzierten Freundschaft“ wird das antike (aristotelische) Ideal der Verbindung ganzer Personen dennoch eingelöst, gerade auch weil die Menschen lediglich fragmentarisch an sozialen Begegnungen teilnehmen. Obgleich solche Freundschaften je für sich begrenzt sind, werden die Beziehungen aus dem Inneren der ganzen Persönlichkeit erlebt.

Auf dieser Argumentation aufbauend kontextualisiert auch Friedrich Tenbruck (1964) Freundschaft historisch über den Zusammenhang von sozialer Differenzierung und Individualisierung. Er analysiert Freundschaft als Form persönlicher Beziehungen, die Menschen nicht vorwiegend oder ausschließlich in engen, zweckbestimmten und leistungsorientierten Rollen zusammenführen. Tenbrucks soziologische Freundschaftsbestimmung basiert auf gesellschaftlichen Strukturen; ein Zusammenhang sozialer Institutionen, die als ein Netz von aufeinander abgestimmten sozialen Rollen ein geregeltes Zusammenleben erst ermöglichen. Die Individualität des Einzelnen basiert auf der Freisetzung von traditionalen sozialen Strukturen und Daseinsformen: „Die Entdeckung des Ichs im Sinne der Individualität setzt eine Differenzierung der sozialen Struktur voraus.“ (ebd., S. 439). Da die Freisetzung auch Unsicherheit und Einsamkeit nach sich zieht, haben Freundschaften eine stabilisierende Funktion. Ihre spezifische Bedeutung ist, dass über sie Individualität aufgebaut und auch gefunden werden kann: „In der Konzentration der Freunde aufeinander finden beide sich auf doppelte Weise auf ein Ich festgelegt“ (ebd., S. 441).

Bis hierher lässt sich festhalten: In der frühen soziologischen Zeitdiagnose wird Freundschaft als Beziehungsform konzipiert, die die Lebensbedingungen einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft einfängt. Freundschaft erscheint als die adäquate Form persönlicher Beziehungen. Im Zuge des gesellschaftlichen Differenzierungsschubs (u. a. Entstehung des modernen Industriekapitalismus, Bürokratie, Staatlichkeit, berufliche Differenzierung) wird die Beziehungsform Freundschaft für die und den Einzelnen bedeutsam, da ihr eine stabilisierende Funktion zukommt. Freundschaften werden in Situationen wichtig, in denen tradierte Beziehungen und Rollen aufbrechen und nur mehr unzureichend Orientierung bieten. Freundschaften sind Tenbruck zufolge „die Ergänzung einer inkompletten sozialen Struktur“ (ebd., S. 453). Wahre Freundschaft, so auch sein Zeitgenosse Siegfried Kracauer (1971), vermag die und den Einzelnen vor den Zumutungen des modernen Lebens zu retten, sie wird gar zur Zufluchtsstätte vor den Zumutungen des modernen Lebens (ebd., S. 49). Das Augenmerk ist auch hier auf die vorherrschenden Lebensbedingungen einer komplexer werdenden Gesellschaft gerichtet. Über die Freundschaft finden freie und unabhängige Menschen zueinander und es wird möglich, sich als ‚ganze‘ Personen zu begegnen: „Während ich überall sonst genötigt bin, mich in tausend Lebenskreisen zu zersplittern, hier ein Stückchen zu nehmen, dort ein Quäntchen zu geben, darf ich ihm [gemeint ist der Freund oder die Freundin] so gesammelt und umfänglich nahen, wie ich bin und wie ich mich fühle“ (ebd., S. 47). Im Widerhall der Freundschaft wird das Selbstgefühl gestärkt (ebd., S. 48).

4 Der aktuelle Freundschaftsdiskurs: Freundschaften im Spannungsfeld von Anforderungsstrukturen und moderner Lebensführung

Eine ähnliche Argumentationslinie, wenn auch unter anderen gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Vorzeichen, findet sich auch im aktuellen Freundschaftsdiskurs. Auch gegenwärtig übernehmen Freundschaftsbeziehungen eine unausgesprochene kompensatorische Funktion bei der Bewältigung der Lebensführung. Demzufolge sind sie Ressource und soziales Auffangnetz zugleich, die Anerkennung und Selbstwert vermitteln (vgl. Nötzoldt-Linden 1994).

In den Fokus des aktuellen Freundschaftsdiskurses rücken nun (wieder) die Ambivalenzen und Kontingenzen der modernen (westlichen) Gegenwartsgesellschaft (Wagner 1995; Baumann 1995; Giddens 1995). Diesen Gesellschaftsanalysen gemeinsam ist der Versuch, aktuelle Transformationsprozesse als „Modernisierung moderner Gesellschaften“ (Beck 1986, 2001) zu beschreiben und empirisch zu fassen: u. a. die zunehmende Deregulierung von Erwerbsarbeit, Entstandardisierung und Flexibilisierung von Arbeitszeit, verstärkte und verdichtete Leistungsanforderungen, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit und Leben (Bröckling 2007; Lohr und Nickel 2009; Moldaschl und Voß 2003; Kocyba und Voswinkel 2007; Voß 2007) sowie Prekarisierungsprozesse (Motakef 2015). All dies hat im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu erheblichen Veränderungen in der Art und Weise geführt, wie Menschen ihr Leben planen und gestalten können. Auch die Bewältigung des Alltags selbst ist zu einer komplexen Leistung geworden (Jurczyk et al. 2014; Jurczyk 2020). In diesem Zusammenhang wird auch die zunehmende Bedeutung von Freundschaften diskutiert. Freundschaften werden gar zum Fluchtpunkt sozialer Hoffnungen (Bude 2008) erklärt und zum wahrscheinlichsten Beziehungstyp der Zukunft erkoren. Denn wo Ehe- und Familienbeziehungen brüchig werden, sich verändern und vervielfältigen, scheint Freundschaft eine in vielerlei Hinsicht stimmige Form persönlicher Beziehung zu sein. Freundschaften überdauern nicht selten Partnerschaften, Nachbarschaften und Organisationsmitgliedschaften (Bude 2017). Mit Freund*innen scheint es möglich, den Zumutungen durch Individualisierung, Subjektivierung und Entgrenzung Paroli zu bieten (Stiehler 2019, S. 10).

Wie strukturelle Kontexte das Freundschaftserleben beeinflussen, ist mithin vor allem eine empirische Frage. Eine der wenigen empirischen Untersuchungen zur gegenwärtigen Freundschaftspraxis im Erwachsenenalter ist die über „(d)ie differenzierten Welten der Frauenfreundschaften“ von Erika Alleweldt (2013). Anhand eines Milieuvergleichs werden Bedeutung und Funktion des Freundschaftserlebens vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Anforderungsstrukturen der Arbeitswelt und der Individualisierung der Lebenswelt aufgespannt. Die Studie gibt somit einen Einblick in das Spannungsverhältnis, in dem sich Freundschaften heute bewegen: das ideale, ganzheitliche Freundschaftsverständnis auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Freundschaftsrealität, in dem die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit verarbeitet werden muss. Alle Frauen der Untersuchung projektieren ein ganzheitliches Freundschaftsideal, wünschen sich Intimität und Aufgehobensein in Freundschaftsbeziehungen. Zugleich sind sie überfordert, wenn es darum geht, solche Freundschaften auch tatsächlich zu führen, weil die Ausdifferenzierung und Vervielfältigung moderner Alltagswelten und Berufsrealitäten es erschweren, Freundschaften als gemeinsamen Lebensraum zu (er)leben. Mit der These einer „Profanisierung der Freundschaft“ (ebd., S. 224) wird pointiert, dass das Freundschaftsverständnis immer weniger von der normativen Frage nach der ‚guten‘ Freundschaft bestimmt wird; für viele spiele die Anzahl der Freund*innen eine Rolle. Große Freundeskreise sind der Inbegriff sozialer Anerkennung. Auf der Ebene der konkreten Beziehungspraxis sehen sich die Interviewpartnerinnen einem verdichteten Alltag mit den vielfältigen Anforderungen des Erwerbslebens ausgesetzt. Dominant werden beispielsweise der Organisationsaufwand (einen Termin für ein Treffen zu finden) sowie das Beziehungsmanagement (Treffen werden zu Terminen, die es abzuarbeiten gilt), um den Freundeskreis am Leben zu halten. Im Vergleich zu adoleszenten oder postadoleszenten Freundschaftsphasen sowie im Vergleich mit ihren Partnerschaften haben die Frauen im Alltag kaum etwas gemeinsam; das Gemeinsame scheint sich „vor allem im privaten Gespräch über die außerhalb der Freundschaft liegenden Lebenskreise zu erschöpfen“ (ebd., S. 225). Insgesamt kann die Studie zeigen, dass über die Einbeziehung des sozialen Kontextes offensichtlich wird, wie Freundschaften über gesellschaftliche Prozesse determiniert werden (ebd., S. 227). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie von Steve Stiehler (2009, 2019), der Männerfreundschaften empirisch in den Blick nimmt. Der „Charakter von Freundschaft“ wird von den gesellschaftlichen Kontexten beeinflusst, vor allem ist es der Erwerbsarbeitswandel und die damit einhergehende Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, der Einfluss auf Freundschaften nimmt. Formuliert wird u. a. eine zunehmende Fragmentierung von lebensabschnittsbezogenen Freundschaften unter Männern (Stiehler 2019, S. 172).

Insgesamt gründet Freundschaft auf Individualisierung und zugleich ist sie eine Beziehungsform, mit der die Folgen von Individualisierung bearbeitet werden können. Die Wertschätzung der Freundschaft erfährt allerdings unter den Bedingungen moderner Gesellschaften eine pragmatische Auslegung: sie wird funktionalisiert, instrumentalisiert und auch profanisiert. Hier zeigt sich die Kehrseite der „differenzierten Freundschaft“ im Sinne Georg Simmels. Die individualisierten Individuen der Moderne begegnen sich kaum mehr in ihrer Gesamtheit und damit als Vertraute, denn in einer sich auffächernden Lebenswelt können jeweils nur mehr Ausschnitte der Person zur Geltung kommen. Die moderne Freundschaft wird damit „hochgradig zweckmäßig und notwendig“ (Schmidl 2017, S. 179).

5 Individualisierung und Selbstthematisierung: Freundschaft als Raum der Reflexion und Selbstthematisierung

Im Konnex von Differenzierung und Individualisierung zeigt sich Freundschaft anschlussfähig an Analysen, die eine moderne Kultur der Selbstthematisierung (Burkart 2006) und – damit im Zusammenhang stehend – die Konstitutionsbedingungen des modernen Subjekts und dessen Subjektivierungsweisen (Reckwitz 2021) herausstellen. Freundschaften sind in dieser Lesart Ausdruck der Notwendigkeit sowie des Gelingens moderner Subjektbildung, weil Selbstbezugnahme und Resonanzerfahrung (Rosa 2021) im Erleben mit Anderen möglich werden. Freundschaft erlaubt, sich selbst im Bezug auf einen anderen zu erfahren. So ermöglichen Freundschaftsbeziehungen auf der einen Seite Selbstbezugnahme, auf der anderen Seite werden die individualisierten Individuen über Freundschaften rückgebunden an Gesellschaft. Freundschaften erweisen sich in dieser Perspektive als eine Vergesellschaftungsform par excellence. Systemtheoretisch gewendet ist Freundschaft ein Mittel, um persönliche Verbindungen („intime Systeme“) herzustellen (Luhmann 1982, 1981). Freundschaft ist (wie die Liebe) in erster Linie eine Semantik, über die es möglich wird, intim zu kommunizieren. Die zeitgeschichtliche Kontextualisierung des Phänomens Freundschaft ergibt sich daraus, dass dieser Zeichenvorrat auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, die als funktional differenzierte Veränderungen beschrieben werden können.

Verschiedene Entwicklungen, vor allem aber die Psychologisierung der Kultur seit den 1960er-/1970er-Jahren mit ihrer Therapie- und Beratungskultur, haben zur Entwicklung einer Kultur der Selbstthematisierung beigetragen (vgl. Burkart 2006; Hochschild 2003; Illouz 2006). Den Siegeszug eines therapeutischen Diskurses hat u. a. Eva Illouz (2020) ausführlich analysiert. Gemeint ist damit ein an der Psychologie und Psychotherapie orientiertes formales und spezialisiertes Wissenssystem sowie ein kulturelles Bezugssystem, „an dem sich unsere Selbstwahrnehmungen und die Vorstellungen, die wir uns von anderen machen, ausrichten und das darüber hinaus bestimmte emotionale Praktiken hervorbringt“ (ebd., S. 28). Der therapeutische Diskurs zielt, der Individualisierungsthese folgend, auf eine zunehmende Eigenaktivität im Sinne individueller Selbstverantwortung und Selbstsorge, d. h. auf eine optimierte Selbstführung des Subjekts. Mangelnde Selbstsorge und fehlende Aktivität wird dieser Lesart folgend als ein „Ausweis individueller Unfähigkeit oder persönlichen Unwillens“ (Lessenich 2008, S. 83; Röcke 2021) begriffen. Zum therapeutischen Diskurs gehören der Korpus eines institutionalisierten wissenschaftlichen Wissens und das populäre und popularisierte (Alltags‑)Wissen, wie es beispielsweise in der boomenden Ratgeberliteratur, aber auch in Talkshows und Internetforen dargestellt wird – allesamt Szenerien, die eine emotionsorientierte Gegenwartskultur prägen. Hinzu kommt eine spezifische Sprachkultur, denn gerade die Sprache spielt im therapeutischen Diskurs eine zentrale Rolle. Über sie werden Gefühlskategorien definiert und sie stellt vor allem auch die Möglichkeiten bereit, wie Gefühle ausgedrückt, verhandelt und gehandhabt werden können, wie wir uns selbst erklären, nicht zuletzt aber auch, wie wir uns anderen mitteilen (vgl. dazu auch Swidler 2001). Insgesamt hält der therapeutische Diskurs eine völlig neue „kulturelle Matrix“ (Illouz 2020, S. 21) bereit, in der Metaphern, Erzählschablonen und erklärende Bezugsrahmen das Verständnis von uns selbst und das der anderen prägen. Auf Freundschaften übertragen funktioniert das Therapiemodell wie eine Art Drehbuch, das letztlich Orientierung bietet: um über einen Beziehungsstatus nachzudenken, um das Freundschaftsgeschehen zu reflektieren, um Bedürfnisse und Ansprüche nach sozialer Nähe oder Distanz geltend zu machen oder zu verhandeln.

Damit lassen sich Freundschaften als ein Beziehungsformat begreifen, in der Individualität und Subjektivität – nicht nur, aber vor allem auch – im Medium dialogischer Kommunikation und in der (meta)kommunikativen Praxis zum Ausdruck gebracht werden. Durch eine solche reflexive Praxis intensiviert sich auch die Selbstwahrnehmung der Individuen als Subjekte. Zugleich wird eine solche Selbstvergewisserung im Rekurs auf die eigene Biographie relevant. Das heißt, erst über die Biographie und die biographische Kommunikation kann sich die Suche nach dem Selbst entfalten. Was macht mich aus? Was ist das Besondere an mir? Was unterscheidet mich von anderen? Ähnlich wie dies Luhmann (1982) für die Liebe beschrieben hat, verspricht die Freundschaft authentisches Ich-Erleben, soziale Relevanz und eine „Validierung der Selbstdarstellung“ (ebd., S. 208). Für Luhmann sind in einer hochgradig differenzierten Gesellschaft Intimbeziehungen bekanntlich stark von unpersönlichen, rollenspezifischen Kommunikationen geprägt. Gleichzeitig und ebenfalls als Folge steigender Differenzierung werden die Menschen immer mehr als einzigartige Individuen in Anspruch genommen; sie haben Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Aus diesen diskrepanten Anforderungen – Anonymisierung zum einen und Individualisierung zum anderen – ergibt sich kompensatorisch ein Bedarf an persönlicher Kommunikation im Nahfeld, weil es hier möglich wird, seine individuelle Besonderheit geltend zu machen und als ‚ganzer Mensch‘ gesehen zu werden. Die Freundschaft ist gerade durch ihre Orientierung an der ganzen Person diffus angelegt, nicht funktional spezifisch und somit nicht institutionalisiert (Schobin et al. 2016, S. 50). Obgleich sie damit in einer funktional differenzierten Gesellschaft überflüssig wird (es für alle ihre Funktionen aus einer systemtheoretischen Perspektive heraus heute funktionale Äquivalente gibt), ist sie nach wie vor existent und bezieht ihre Relevanz und Bedeutung daraus, dass sie im Kontext von gesellschaftlichen Krisenszenarien einen Raum bietet, Individualisierung zu bearbeiten.

Diffusions- und Fragmentierungserfahrungen der Moderne werden also aufgefangen über eine Kultur der Selbstthematisierung (Burkart 2006, S. 11), deren Entwicklung im Zusammenhang mit der Herausbildung der individualisierten modernen Gesellschaft steht. Neu daran ist allerdings nicht die Selbstbezugnahme an sich, sondern ihre Verbreitung und Veralltäglichung, Institutionalisierung und Kultivierung. Sie stellt sich für den Einzelnen und die Einzelne als Aufgabe in der Moderne in nachdrücklicher Weise dar (vgl. Burkart 2006; Herma 2019; Schroer 2006). Möglich wurde eine solche Entwicklung auch deshalb, weil dafür Räume und kulturell eingespielte Formen der eigenen Selbstdarstellung und Selbstthematisierung zur Verfügung stehen, die institutionell abgesichert sind. Die klassische Palette reicht von der Beichte über die Autobiographie und das Tagebuch bis hin zur Psychoanalyse (vgl. Hahn 2000). Holger Herma (2019, S. 37) nennt solche Institutionen der Selbstthematisierung „Bezugsräume des Selbst“ und erweitert ihr Verständnis konzeptionell um ganz alltägliche Beziehungsbegegnungen, worunter eben auch Freundschaften zu verstehen sind. Gemeint sind damit die Kontexte, Institutionen und Räume, in denen Individuen Gelegenheit erlangen, über sich selbst zu sprechen. Solche Bezugsräume sind zahlreich und mittlerweile sehr ausdifferenziert. Ob jemand also einen Online-Blog wählt, einen Roman schreibt, das therapeutische Gespräch sucht oder mit Feund*innen über sich spricht, wesentlich dabei ist der Modus der Bezugnahme auf das eigene Selbst respektive die Möglichkeit, sich in der Begegnung mit anderen dem eigenen Leben reflexiv zuzuwenden. Mit Holger Herma sehen wir das Selbst als ein „Ergebnis der (selbst-)reflexiven Zuwendung auf das eigene Ich“ (ebd., S. 46). Es wird möglich, sich von anderen zu unterscheiden und sich als Handlungszentrum zu erfahren. Der Referenzpunkt der (biographischen) Selbstreflexion ist das eigene Leben und die signifikanten Anderen in Nahbeziehungen. Das Freundschaftsgeschehen bietet somit Gelegenheit, sich in der Begegnung mit anderen dem eigenen Leben reflexiv zuzuwenden. Es offeriert einen Raum für Selbstbezugnahme und Selbstvergewisserung – Freundschaften werden damit gleichsam zu einer Bedingung der Möglichkeit moderner Subjektivierung. Freundschaft schafft aber nicht nur einen Möglichkeitsraum für Selbstthematisierung, denn umgekehrt stellt dieser auch erst die Grundlage für die Konstitution einer Freundschaft dar, indem er eine spezifische Art der Intimität – auch über Selbstthematisierung – ermöglicht (Cocking und Kennett 1998). Im Gegensatz zur Paarbeziehung ist das Freundschaftsmuster mit Blick auf Ansprüche an den oder die andere allerdings dehnbarer und auch aufgeschlossener, zumal das Versprechen nach persönlicher Höchstrelevanz unter Freund*innen entfällt.

6 Fazit: Moderne Freundschaft: Ambivalenzen einer strukturierten Individualisierung

Insgesamt, so lässt sich festhalten, entfaltet Freundschaft ein beträchtliches Potenzial für die soziologische Zeitdiagnose: Die Geschichte moderner Freundschaft ist ohne den Verweis auf gesellschaftliche Individualisierungsprozesse nicht nachzuvollziehen. Umgekehrt lässt sich fragen, welche Rolle Freundschaften im Kontext aktueller Veränderungsprozesse moderner Gegenwartsgesellschaften spielen. Schon für Georg Simmel und auch Friedrich Tenbruck bilden Freundschaft, Individualität und sozialer Wandel einen Zusammenhang. In Zeiten sozialer Unsicherheit entsteht notwendigerweise die Beziehungsform Freundschaft, denn die individualisierten Menschen – herausgelöst aus kollektiven Daseinsformen – sind einsame Menschen (Tenbruck 1964, S. 430), die in einer sich zersplitternden Gesellschaft aus einer kollektiven Einbettung entlassen wurden. In der Freundschaft findet der unsichere und orientierungslose Mensch Stabilität. Diese Argumentation zieht sich auch durch den aktuellen Freundschaftsdiskurs. Über Freundschaft wird es möglich, eine ganzheitliche Identität zu erfahren – trotz oder wegen der Diffusions- und Fragmentierungserfahrungen in der modernen Gesellschaft. Hinzu kommt, dass der Stellenwert der Freundschaft entsprechend der sinkenden Stabilität und Akzeptanz anderer sozialer Bindungen wie Familie, Verwandtschaft, Religion steigt.

Doch, und auch das zeigt die Diagnose, ist der Zusammenhang von Freundschaft und Individualisierung längst nicht so einseitig: So beschreiben Studien zur sozialstruktureIlen Betrachtung von Freundschaftsbeziehungen diese in allen wesentlichen klassischen sozialstrukturellen Hinsichten über das Maß des statistisch Erwartbaren hinaus als homogen mit Blick auf Klasse und Milieu, Alter und Lebensphase, Geschlecht, Bildung, Beruf und Status. Freundschaft verbindet Menschen mit ähnlichen soziodemographischen Merkmalen (vgl. Alleweldt 2016; Knecht und Schobin 2016; Liebold und Pfaller 2023). Da die sozialen Lebenskreise bereits sozial strukturiert sind – und Kontakte typischerweise in ähnlichen Settings und in sich überschneidenden Aktivitätsfeldern entstehen –, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auf Menschen zu treffen, die sich mit Blick auf sozialstrukturelle Merkmale ähnlich sind. Für Freundschaften gilt, dass sie jenseits des Zufalls eine Struktur besitzen (vgl. Wolf 1996) und dass statt Seelenverwandtschaft, Einmaligkeit und Freiwilligkeit Restriktionen und Zwänge offenkundig werden, die sich meist hinter dem Rücken der Beteiligten einstellen. Freundschaftsbeziehungen zeigen sich hier weniger als Ausdruck singulärer Subjektivität (Reckwitz 2021) und Garant von Selbstverwirklichung jenseits von Herkunft und sozioökonomischer Zugehörigkeit, sondern eher als strukturierender Sozialisationsfaktor mit Platzanweiserfunktion. Damit wird die Idee der prinzipiell frei wählbaren Beziehungsform Freundschaft durch die soziale Strukturiertheit respektive die gesellschaftliche Vermitteltheit von Freundschaftsbeziehungen in der Gegenwartsgesellschaft auch begrenzt.

Insgesamt zeigt die von der Freundschaftsforschung in Anschlag gebrachte Zeitdiagnose damit ein ambivalentes, ja gar widersprüchliches Bild. Letztlich ist es die Diagnose einer strukturierten Individualisierung, welche das zeitdiagnostische Potenzial der Freundschaft. entfaltet. Freundschaft zeigt sich dabei als zentrale Form der Vergesellschaftung, die über die gesamte Biographie hinweg Subjekte sozial integriert. Was sich bei dieser Integration über Freundschaft ausdrückt, ist das, was schon Ulrich Beck (1986) für die Moderne diagnostiziert hat: Mit Individualisierung geht institutionelle Standardisierung und Institutionalisierung einher. Individualisierung, die auf umfassenden sozialen Freisetzungsprozessen beruht (mehr Menschen durchbrechen die Geschlossenheit ihrer sozialen Horizonte und Gruppen), rückt vor allem das Selbstgestaltungspotenzial ins Zentrum, aber sie ist kein bloßer Zuwachs an subjektiver Autonomie und individuellen Entscheidungsmöglichkeiten. Individualisierung ist insofern strukturiert, weil das freigesetzte ‚individualisierte Individuum‘ einem paradoxen Mehr an Gesellschaft gegenübersteht. Aus dem Zusammenwirken von Freisetzung und neuartigen Modi der Reintegration entsteht ein Akteursmodell der Autonomie und Selbstverantwortlichkeit, das zugleich neue Regelungen und Institutionen mit sich bringt, die wiederum Orientierung bieten sowie neue Verregelungen bedeuten. Die skizzierten Umbrüche der modernen Gesellschaft verleihen so der Freundschaft heute ein spezifisches Profil zwischen hohen Erwartungen und Zumutungen, das sich nicht selten in einer konflikthaften und krisenanfälligen Beziehungspraxis dokumentiert. Die Freund*innen bleiben trotz Freisetzung und einem Mehr an Autonomie abhängig von Bedingungen, die sich mehr oder weniger ihrem individuellen Zugriff entziehen. Nicht minder gewichtige symbolische Vorstrukturierungen regeln nach wie vor, dass Beziehungsverhältnis wie auch gesellschaftliche Erzählformate Einfluss auf die Freundschaft ausüben. Damit wird auch die Ungleichheitsrelevanz von Freundschaft offenkundig, weil so tendenziell die Schichten und Klassen unter sich bleiben und eine soziale Durchmischung seltener ist (vgl. Alleweldt 2016, S. 114; Adams und McCullough 2009).

Mit der Freundschaftsforschung kann sich die Soziologie ein zeitdiagnostisches Instrument zunutze machen, an dem sich die Anforderungen der modernen Gesellschaft genauso ablesen lassen wie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse, deren Einordnung (auch) anhand von Freundschaft verhandelt werden. Anhand von Freundschaftsdiskursen lässt sich nicht nur das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie der mit der Modernisierung verbundenen Prozesse von De- und Reintegration von Individuen rekonstruieren, sondern auch moderne Subjektkonstitution und Subjektverhältnisse.