Reißt sich ein Fußballprofi das vordere Kreuzband (VKB), wird er meist innerhalb weniger Tage operiert. Trotzdem wird die Indikation zur Rekonstruktion oft wissenschaftlich und auch gesundheitspolitisch kontrovers diskutiert.

Das liegt wesentlich an einer kontrollierten randomisierten Studie („KANON trial“) [1, 2], die im New England Journal of Medicine publiziert wurde, ein primär internistisches Journal mit einem hohen Impact-Faktor. Dieser sichert diesem Journal auch hohe mediale Aufmerksamkeit. Trotzdem werden bei dieser Publikationsstrategie primär orthopädische/traumatologische Themen von Reviewern mit primär internistischer Expertise begutachtet.

Es handelt sich um die KANON-Studie der schwedischen Arbeitsgruppe um R. Frobell [1, 2], die in der allgemeinen Presse wissenschaftlich und politisch hohe Wellen schlug. In dieser Studie haben die Autoren die klinischen Ergebnisse von 62 Patienten mit früher Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes (innerhalb von 10 Wochen) mit denen von 59 Patienten mit optionaler aufgeschobener Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes verglichen. Dabei kam in der „Intention-to-treat“-Analyse heraus, dass sich die Ergebnisse (primär: Knee osteoarthritis outcome score [KOOS]4, sekundär KOOS-Subskalen, Tegner, SF 36) beider Behandlungsgruppen vordergründig nicht unterschieden [1, 2]. Es handelte sich eigentlich um die Bestätigung der bis dahin auch meist gelebten klinischen Praxis.

In der Laienpresse wurde das Ergebnis jedoch so interpretiert, dass Kreuzbandrisse zukünftig nicht mehr operiert werden müssen. Diese Interpretation ist unzutreffend und so in der Schlussfolgerung der Studie auch nicht getroffen. Hier wird nur die Gleichwertigkeit einer akuten und aufgeschobenen optionalen Operation postuliert und nicht die Gleichwertigkeit von operativer und konservativer Therapie!

Wenig beachtet wird bei der Interpretation der Studie außerdem, dass 51 % der Patienten in der Gruppe mit optionaler VKB-Rekonstruktion sich aufgrund einer Instabilität für eine Operation entschieden haben (Wechsel der Therapiegruppe; [1, 2]). Wenig beachtet wird auch, dass die nachteiligen Auswirkungen in der Gruppe mit optionaler VKB-Rekonstruktion signifikant höher als in der Gruppe mit akuter Operation waren (40 zu 26, p-Wert: 0,06). Das Verhältnis neu aufgetretener Meniskussymptome und -zeichen lag sogar bei 13:1. Auch zu beachten ist, dass die passive Stabilität beider Behandlungsgruppen sich statistisch nicht unterschied (KT 1000: frühe Rekonstruktion 6,6 mm, optionale aufgeschobene Rekonstruktion 8,3 mm). Diese Stabilitätswerte lassen das in der Studie angewandte Operationsverfahren infrage stellen (fehlende Überwachung der Prozessqualität im Rahmen der Studie?). Dabei spielt ja gerade die wiedererlangte Stabilität eine große Rolle für den Effekt der VKB-Rekonstruktion [4].

Warum wurde diese Studie dennoch so beachtet? Das liegt daran, dass den Ergebnissen kontrollierter randomisierter Studien grundsätzlich hohe Aufmerksamkeit gilt, da dieser Studientyp nach den gängigen Klassifikationen auf der höchsten Evidenzstufe liegt. So zählen z. B. für die Bewertung des medizinischen Nutzens von Therapieverfahren durch den Gemeinsamen Bundesausschuss nur kontrollierte randomisierte Studien. Dabei sind auch die Schwächen randomisierter Studien lange bekannt [6]. Zu diesen Schwächen zählt z. B. die Verzerrung durch die Selektion („selection bias“), ein Problem, dass besonders auf Studien zutrifft, die ein operatives Verfahren untersuchen [3, 6]. Daher lassen sich die Ergebnisse dieser Studien dann nicht auf die Allgemeinheit übertragen (keine Generalisierbarkeit; [3, 6]). Eine weitere wichtige Kritik an randomisierten Studien in der Orthopädie und Unfallchirurgie ist oft die fehlende Standardisierung oder auch Standardisierbarkeit des chirurgischen Verfahrens [3, 6]. Eine Operation ist eben nicht mit einem zu einer Tablette gepressten Medikament vergleichbar [3, 6]. Auch die oben erwähnte „Intention-to-treat“-Analyse ist bei operativen Verfahren kritisch zu sehen, wenn die Patienten aus der nichtoperativen Gruppe das operative Therapieverfahren wählen dürfen. Das Ergebnis wird aber der nichtoperativen Gruppe angerechnet. Anders verhält es sich beim Vergleich zweier Diäten oder zweier medikamentöser Therapien. Wenn von 40 Patienten in Gruppe A nur 5 Patienten das Diätmittel aufgrund von Unverträglichkeit einnehmen und dann nur die Gewichtsabnahme dieser 5 Patienten gewertet wird, dann sorgt dieses Vorgehen für Verzerrung.

Bei der Bewertung der Methoden der evidenzbasierten Medizin (EBM) sollte beachtet werden, dass sich diese primär aus Fragestellungen der inneren Medizin entwickelt haben und dann auf die operative Medizin übertragen wurden. Hier sollte ein Umdenken stattfinden und die EBM an Fragestellungen aus der operativen Medizin angepasst werden. Außerdem sollte sich die medizinische Nutzenbewertung nicht nur auf randomisierte kontrollierte Studien beschränken, sondern auch andere qualitativ hochwertige Daten berücksichtigen wie z. B. die Registerforschung mit ihren hohen Fallzahlen. Hier sehen wir dringenden Handlungsbedarf seitens der orthopädischen Fachgesellschaften.

Aufgrund dieser Problematik und der kontroversen Diskussion zur vorderen Kreuzbandruptur haben die Ligament-Komitees der Deutschen Kniegesellschaft (DKG) und der Deutschen Gesellschaft für Gelenkchirurgie (AGA) ein Konsensusprojekt zum vorderen Kreuzband initiiert. Im ersten Teil geht es um die Fragestellung: „Vordere Kreuzbandruptur operativ oder konservativ behandeln“. Ziel war es, einen evidenzbasierten Konsensus zu etablieren, der später Leitlinien zugrunde liegen kann. Im Rahmen dieses Projektes wurden die Aspekte Folgen der chronischen Instabilität [5], protektiver Effekt der VKB-Plastik [7], kindliche VKB-Rupturen, Funktionsgewinn [4], Timing, Alter und Coper vs. Non-Coper jeweils in systematischen Literaturreviews aller relevanten wissenschaftlichen Daten aufgearbeitet. Die Ergebnisse möchten wir Ihnen nun zusammengefasst in diesem Themenheft präsentieren. Diese Ergebnisse sollen die Grundlage für eine Diskussion und einen möglichen Konsensus zur Indikation zur Kreuzbandrekonstruktion darstellen, den wir dann zu einem späteren Zeitpunkt vorstellen werden.

Die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen können jedoch auch jetzt schon helfen, den individuellen Entscheidungsprozess Operation ja oder nein zu erleichtern. Im ärztlichen Alltag muss weiterhin jeder Patient individuell betrachtet werden, ob Kind, ob Leistungssportler oder wenig sportlich aktive Menschen. Auf Basis der aktuellen wissenschaftlichen Literatur und der ärztlichen Erfahrung muss für jeden Einzelfall eine individuelle Therapieempfehlung getroffen werden.

Herzliche Grüße,

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Andera Achtnich,

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Ralph Akoto,

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Wolf Petersen