Angesichts des jüngsten neoimperialistischen Ausgreifen Russlands wird auch den letzten Verfechtern des modernisierungstheoretischen Diktums vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) bewusst geworden sein, dass die Welt keineswegs vor einer Universalisierung westlich-liberaler Ordnungsvorstellungen steht. Im Gegenteil: Selbst die Säulen der regelbasierten internationalen Ordnung stehen unter Druck wie wohl nie zuvor. Wir sind Zeugen einer Rückkehr zu systemischen Konfrontationen – gerade auch vermeintlich regionale Konflikte haben immer öfter eine geopolitische Dimension, was militärische Großmachtkonflikte wahrscheinlicher werden lässt.

So könnte man in wenigen Sätzen den Ausgangspunkt der Überlegungen Susanne Weigelin-Schwiedrziks skizzieren, die mit „China und die Neuordnung der Welt“ ein überaus lesenswertes thesengespicktes Sachbuch vorlegt. Die renommierte, emeritierte Professorin für Moderne Sinologie und aktuelle Programmdirektorin für China im Wiener Thinktank Center for Strategic Analysis treibt die Sorge vor einem neuen Weltenbrand (S. 206 f.). Ihr Buch erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als geopolitische Bestandsaufnahme, sondern auch als Versuch, neue Mechanismen internationaler Konfliktbearbeitung in einer hochgradig fragilen, multipolaren Welt zu entwerfen (S. 201).

Dazu formuliert Weigelin-Schwiedrzik vier Grundannahmen und Thesen, die sich in ihrem Buch über vier Kapitel hinweg verweben: Erstens befinden wir uns der Autorin zufolge an der Schwelle zu einer multipolaren Weltordnung. Russland versuche, an die Machtstellung der früheren Sowjetunion anzuknüpfen – und mit der Volksrepublik China gebe es mittlerweile eine dritte Weltmacht, die in direkte Konkurrenz zu den USA trete. Zweitens seien die internationalen Beziehungen in erster Linie als Geschichte von Hegemonialkonflikten zu deuten. Vor diesem Hintergrund plädiert Weigelin-Schwiedrzik für mehr Realismus und einen dezidierten Blick auf Machtstreben, Konkurrenz und Konflikte zwischen Großmächten (S. 210). Drittens sei zudem eine stärkere Geopolitisierung des politischen Denkens erforderlich, das heißt Konflikte wie der russische Krieg in der Ukraine oder der Taiwan-Konflikt müssten von allen Beteiligten vor allem geopolitisch problematisiert werden (ebd.). Im Rahmen der gegenwärtigen „Neuordnung der Welt“ brauche es viertens neben den Weltmächten USA und China weitere Machtpole wie die Europäische Union, die als dringend notwendiger vermittelnder Akteur auftreten könnte – denn die aktuellen geopolitischen Konflikte in diesem „neue[n] Kalte[n] Krieg“ (S. 18) seien durch die involvierten Großmächte allein nicht mehr lösbar.

Die Grundlage der Weltsicht der Autorin bildet der historische Exkurs in Kapitel 2 des Buches. In Fortführung des Diskurses um sogenannte Weltordnungskonzepte untersucht Weigelin-Schwiedrzik unter Rückgriff auf einen Theorieansatz strategischer Dreiecke die Beziehungen zwischen den USA, der Sowjetunion beziehungsweise Russland und China von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart (S. 67). Den gedanklichen Kern des Buches bilden dann allerdings ihre Überlegungen zu aktuellen geopolitischen Konflikten und möglichen Konfliktlösungsmechanismen. An den Fallbeispielen Krieg in der Ukraine und Konflikt um Taiwan möchte die Autorin zeigen, dass eine Neuordnung der Welt ohne China nicht mehr gelingen könne. So argumentiert sie, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht in die Strategie Chinas passe. China verfolge deshalb einen Mittelweg: Weder habe es Interesse an Russland als strahlendem Sieger noch daran, dass Russland im Falle einer Niederlage zerbricht (S. 17, 27). Vielmehr liege im Kerninteresse Chinas, dass der Krieg zügig ende und sich das Land in diesem Zusammenhang als verantwortungsvoller, vermittelnder Akteur präsentieren könne (S. 23, 39), womit sich die bereits angesprochene Grundüberzeugung der Autorin verbindet, dass es für die Großmächte USA und Russland kaum möglich sei, diesen Konflikt allein zu lösen. Eine ähnliche Schlussfolgerung zieht Weigelin-Schwiedrzig mit Blick auf den Taiwan-Konflikt, bei dem es sich ebenfalls um einen Hegemonialkonflikt handele (S. 203). China und die USA seien hierbei auf die Europäische Union als vermittelnder Akteur angewiesen, denn Europa verfüge über gute Beziehungen zu beiden Großmächten und könne somit konflikteindämmend wirken (S. 201). Auf diese Weise könne sich die Europäische Union zudem als vierter Akteur und kräfteausgleichender Pol in der Weltpolitik positionieren (S. 205).

Dem damit verbundenen Plädoyer der Autorin für eine geopolitisch proaktivere Rolle Europas kann man sich nach der Lektüre dieses Buchs nur zustimmend anschließen. Das gilt auch losgelöst davon, ob man Weigelin-Schwiedrziks Narrativ teilt, Europa habe keine eigenständige Außenpolitik und folge in ihrer Politik dem US-amerikanischen „Drehbuch“ (S. 199 f.). Auch die Forderungen nach mehr Realismus und geopolitischem Denken erscheinen vor dem Hintergrund ihrer Ausführungen überzeugend. Als Leser_in fragt man sich allerdings, warum die Autorin mit Blick auf die Konfliktbearbeitung in einer multipolaren Welt ausschließlich auf Verhandlungen zwischen Großmächten setzt, den Mechanismen und Strukturen der regelbasierten internationalen Ordnung hingegen keine explizite Bedeutung beimisst.

Weigelin-Schwiedrzik legt ein hochaktuelles Sachbuch vor, das der Leserschaft ein tiefergehendes Verständnis für die komplexen geopolitischen Dynamiken unserer Zeit eröffnet. Die kompakte Schrift ist eine unbedingte Leseempfehlung für alle, die die Welt von heute besser verstehen wollen; zugleich ist sie ein wichtiger Debattenbeitrag, dem eine möglichst breite Rezeption nur zu wünschen ist.