Gut 30 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem damals prognostizierten Triumphzug der liberalen Demokratie ist sowohl im Feld der empirischen Demokratiemessung als auch in der demokratietheoretischen Grundlagenreflexion Ernüchterung eingekehrt. So stellt der neueste Bericht von „Freedom House“ einen inzwischen 15 Jahre währenden „long-term democratic decline“ fest. Dieser Niedergang „has become increasingly global in nature, broad enough to be felt by those living under the cruelest dictatorships, as well as by citizens of long-standing democracies.“Footnote 1 Auch auf Grundlage des Datensatzes „Varieties of Democracy“ kommt man zu einem ernüchternden Ergebnis: „Die Erosion demokratischer Normen, die zunehmende Macht der Exekutiven sowie abnehmende Medienfreiheit sind weltweite Symptome einer dritten Welle der Autokratisierung.“Footnote 2 Ein Verlust an Demokratie zeigt sich nicht nur in sogenannten Transitionsdemokratien etwa in Asien und Südamerika, sondern mittlerweile auch in einigen osteuropäischen Staaten. Doch selbst mit Blick auf die etablierten Demokratien des Westens gibt es Anzeichen eines Rückgangs ihrer Qualität. So stellen Wolfgang Merkel und seine Co-Autoren in einer jüngeren Publikation eine „neue Zerbrechlichkeit der deutschen liberalen und rechtsstaatlichen Demokratie“Footnote 3 fest. Dieser Trend – und als solchen muss man den empirischen diagnostizierten Rückgang demokratischer Regime beziehungsweise deren Substanzverlust bezeichnen – hat nun auch in der demokratietheoretischen Diskussion zu einem Paradigmenwechsel geführt. Waren kritische Stimmen, wie die von Colin Crouch oder Peter MairFootnote 4, die mit Blick auf die etablierten Demokratien des Westens eine Entwicklung hin zur „Postdemokratie“ diagnostizierten, zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch randständig und mussten sich als „empirieferne Theoretiker“Footnote 5 bezeichnen lassen, so hat sich das Bild inzwischen grundlegend verändert. Krisentheorien der Demokratie sind mittlerweile in den Mainstream gerückt. Schaut man auf den politikwissenschaftlichen Büchermarkt der letzten Jahre, so fällt eine deutliche Zunahme von Titeln ins Auge, die eine „Regression“Footnote 6, „Krise“Footnote 7, einen „Zerfall“Footnote 8 oder auch Anzeichen eines „Sterbens“Footnote 9 der Demokratie zum Gegenstand haben. Es handelt sich dabei zumeist um Abhandlungen, die erkennbar vor dem Hintergrund der aktuellen Welle des Populismus verfasst worden sind. Namentlich der Brexit sowie die Wahl von Donald Trump zum 45. US-Präsidenten, also als populistisch bezeichnete Erschütterungen in den beiden Kernländern der liberalen Demokratie, haben für eine demokratietheoretische Unruhe gesorgt. Überwiegende Einigkeit besteht bei den Autorinnen und Autoren der gegenwärtigen Krisenliteratur in der Verurteilung des Populismus als demokratiegefährdend und antiliberal. Entsprechend häufig lassen sich bei ihnen normative Vergewisserungsfloskeln finden, die nicht nur strukturell der populistischen Gut‑/Böse-Dichotomie entsprechen, sondern diese in der Konsequenz auch reproduzieren. Zudem wird oftmals auf der letzten Seite der jeweiligen Monografien an die guten Bürgerinnen und Bürger appelliert, gemeinsam die Demokratie gegen die ‚bösen‘ Feinde zu verteidigen. Geradezu paradigmatisch kommt dies etwa in „Der Zerfall der Demokratie“ von Yascha Mounk zum Ausdruck: „Zum Glück gibt es vieles, was wir tun können, um die liberale Demokratie gegen das anbrechende Zeitalter des Populismus zu verteidigen.“ Konkret schlägt er vor, dass „wir […] den Populisten auf der Straße Paroli“ bieten oder „unsere Mitbürger an die Vorzüge der Freiheit und der demokratischen Selbstbestimmung erinnern“Footnote 10. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt schreiben am Ende ihres internationalen Bestsellers „Wie Demokratien sterben“: „Die Demokratie ist ein Gemeinschaftsunternehmen. Ihr Schicksal hängt von uns allen ab.“Footnote 11 Ähnliche Appelle und inhaltsleere Floskeln – etwa, dass gegen die Krise der Demokratie nur mehr Demokratie helfe – finden sich auch auf vielen der letzten Seiten der im Folgenden zu besprechenden Neuerscheinungen. Die These dieses Besprechungsessays lautet, dass in solchen demokratietheoretischen Wohlfühlphrasen mehr eine Ratlosigkeit über die Zukunft der Demokratie beziehungsweise eine nostalgische Sehnsucht nach einer vermeintlich intakten liberalen Demokratie, als es die ‚bösen‘ Populisten noch nicht gab, zum Ausdruck kommt, als dass es den Autorinnen und Autoren gelingt, überzeugende Auswege aus der gegenwärtigen „Krise“ aufzuzeigen.

1 Die Warnung vor dem neuen Despotismus

Am Anfang steht jedoch der Blick in die Zukunft der Demokratie, zumindest wenn man die Warnung von John Keane in den letzten Zeilen seines Buches über „The New Despotism“ ernst nimmt:

Dare to image that in the end most people fail to realize they are being marched inch by inch toward the scaffold. Might we then draw the conclusion that despotism is fated to play the lead role at center stage in the daily lives of many hundreds of millions of people in the coming years of this century? Or perhaps even that despotism is the future of democracy? (S. 255)

Keanes Abhandlung ist mit dem Ziel verfasst, durch eine möglichst drastische Beschreibung der Regierungspraxis autokratischer Staaten die Gefahren zu beschwören, denen sich inzwischen auch die liberalen Demokratien des Westens ausgesetzt sehen: zunehmende ökonomische Ungleichheit und kulturelle Verunsicherungen haben zu Demokratieverdruss und zum Aufstieg von Populisten geführt, die insbesondere von weißen Angehörigen der Arbeiterklasse sowie der unteren Mittelklasse gewählt würden (S. 5). Dieser Prozess habe nahezu alle liberalen Demokratien erfasst, verstärkt durch die zunehmende Unzufriedenheit der Öffentlichkeit mit den mangelnden Führungsqualitäten und den Mainstream-Narrativen der Politiker, das Abschmelzen der Mitgliedschaft der politischen Parteien und die Vergiftung der Wahlen durch mehr oder weniger illegale Spenden. Hinzu komme eine Ausbreitung der Überwachungstechnologien, eine öffentliche Verwaltung, die von Etatkürzungen geplagt sei, sowie „bitter cultural clashes over racial and religious identity“ (S. 9). Darüber hinaus wachse die Wahrnehmung, dass nationale Parlamente und Regierungen zunehmend grenzüberschreitenden Unternehmen und governance-Strukturen, die den Bürgern und ihren gewählten Vertretern gegenüber keine Rechenschaft schuldig sind, ausgeliefert sind. Keanes Ziel ist nun gerade nicht, dieser verbreiteten Diagnose, die er einleitend zugespitzt zusammenfasst, ein weiteres Mosaiksteinchen oder ein etwas anders gelagertes Bild hinzuzufügen. Auch geht es ihm nicht um die Frage nach den Ursachen und daraus abgeleitet nach möglichen Gegenmitteln. Hingegen sei die grundlegende Idee des Buches „that the principles and practices of constitutional power-sharing democracies […] can be snuffed out at home, bit by bit, by means of the quiet seductiveness of new forms of power and methods of government found in China, Russia, Saudi Arabia, Singapore, and elsewhere“ (S. 12).

Keane begreift den neuen Despotismus als „a new type of pseudo-democratic government led by rulers skilled in the arts of manipulating and meddling with people’s lives, marshaling their support, and winning their conformity“ (S. 14). Daher stehen auch regelmäßig durchgeführte Wahlen oder andere Formen der Bürgerbeteiligung wie deliberative Foren, mit denen etwa in China experimentiert wird, nicht notwendig im Gegensatz zur despotischen Herrschaft. Vielmehr, und gerade darin unterscheidet sich der neue Despotismus Keane zufolge von autokratischer Herrschaft, könne man eine pervertierende Simulierung demokratischer Formen der Legitimierung beobachten. Entscheidend ist, dass diese scheindemokratischen Praktiken für den Machthaber – und es sind ausschließlich Männer, deren Herrschaftspraxis Keane beschreibt – nicht gefährlich werden können, Wahlen also nicht „fair und frei“ sind, wofür es zahlreiche Beispiele gibt. Auch unterscheiden sich die neuen Despotien insofern von totalitären Systemen, als dass die Staatsangehörigen größtenteils in Ruhe gelassen werden; es wird nicht versucht, sie umzuerziehen. Genauso wenig fänden Einschüchterungsversuche statt – zumindest, solange sich die Staatsangehörigen nicht oppositionell verhalten.Footnote 12 Despotische Herrscher haben „no great need of paramilitaries, street violence, bricks tossed through windows, or early morning visits by the secret police. Seduction, not repression, is their defining quality“ (S. 17). Vielmehr komme es auf die Manipulation der öffentlichen Meinung und darauf an, dass eine hinreichend große Mittelklasse sich ungestört ihres konsumorientierten Lebens erfreuen könne (S. 63). Entsprechend wichtig seien staatliche Fürsorgeprogramme, die Keane zufolge aber nicht mit dem keynesianistischen Wohlfahrtsstaat zu verwechseln seien. Die Programme und Subventionen, die gerade in rohstoffreichen Staaten recht großzügig ausfallen können, seien eher vergleichbar mit der mittelalterlichen Praxis in Europa, wonach Herren Pfründe im Austausch für die Loyalität ihrer Untertanen vergaben (S. 60).

Ökonomisch betrachtet würde in despotischen Ländern ein „new kind of state capitalism“ (S. 51) vorherrschen. Staatliche Amtsinhaber und ökonomische Eliten arbeiteten Hand in Hand. Keane skizziert am Beispiel von Russland, China, Saudi-Arabien und dem Iran, aber auch von Ungarn, wie ökonomischer Wettbewerb zugunsten von Vetternwirtschaft und einem hohen Grad an Korruption ausgehebelt wird. Politische Eliten und ökonomische Oligarchen verschmelzen zu einer Art Beutegemeinschaft. Allerdings laufen letztere immer auch Gefahr, in Ungnade zu fallen, wie sich prominent in Russland und China beobachten lässt.

Keane hat sich wesentlich von Alexis de Tocqueville inspirieren lassen und von dessen Warnung vor einem sanften Despotismus, wie er sie am Ende des zweiten Bandes von „Über die Demokratie in Amerika“ entfaltet hat. Es handelt sich dabei um „eine gewaltige, bevormundende Macht“. Der Souverän „tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk soweit herunter, daß es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist“.Footnote 13 Tocqueville macht für diese Entwicklung nicht zuletzt den bürgerlichen Privatismus verantwortlich und Keane folgt ihm dabei. Und er folgt dem französischen Adligen auch in der Diagnose, dass Demokratien immer Gefahr laufen, in diesen sanften Despotismus umzuschlagen. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb Keane mit Blick auf die von ihm untersuchten Staaten nicht von Autokratien spricht; denn damit werde ein schroffer Gegensatz zwischen Autokratie und Demokratie ideologisch evoziert, der in der Wirklichkeit nicht, oder zumindest nicht mehr so eindeutig existiere (S. 212 f.). Genauso wie die neuen Despotien sich „demokratischer“ Verfahren bedienen können, können sich in den etablierten Demokratien des Westens ebenfalls despotische Regierungstechnologien ausbreiten. Keane zufolge ist das auch tatsächlich der Fall, wobei er aber nicht allein die USA unter Trump im Sinn hat, sondern auch Indien, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Japan nennt, ohne dies jedoch im Einzelnen zu begründen (S. 239). Festzustehen scheint für ihn jedenfalls, dass auch im Westen nicht nur die Mittel der Manipulation und Überwachung existieren, sondern sich zudem jene ökonomischen Strukturen und soziomoralischen Dispositionen ausbreiten, die das, was er als „monitory democracy“ versteht – nämlich ein politisches System mit Machtteilung und einer lebendigen Zivilgesellschaft – zunehmend unterminieren. Eine überzeugende Antwort auf diese Herausforderung vermag er jenseits der Beschwörung von zivilgesellschaftlichem Engagement und dem Aufruf zur Verteidigung der gewaltenteiligen Demokratie (S. 252) indes nicht zu liefern.

Keane bezieht sein Anschauungsmaterial aus einer Vielzahl von empirischen Fallstudien und kombiniert diese, was den besonderen Reiz der Lektüre ausmacht, mit Einsichten aus der Geschichte des politischen Denkens. Neben dem bereits erwähnten Tocqueville beruft er sich unter anderen auf Thukydides, Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu. Wenngleich der Verfasser immer wieder betont, dass es sich um eine neue Regimeform handelt, scheinen zentrale Herrschaftstechniken – klassisch sind hier „Brot und Spiele“ zu nennen – wie auch die Reaktionsweisen der Untertanen doch auf einer langen Tradition zu beruhen. Etwas anstrengend ist freilich der flapsige Stil Keanes, wie insgesamt das Buch wenig systematisch ist. Es soll ganz offensichtlich wachrütteln, lässt sich aber auch als Ausdruck von Verzweiflung lesen.

Das trifft ebenso auf „Die Verlockung des Autoritären“ von Anne Applebaum zu. Das Buch der in Polen lebenden US-amerikanischen Historikerin und Journalistin ist mit einem spürbaren Zorn verfasst, der sich namentlich gegen jene richtet, die sie im Anschluss an Julien Benda als „clercs“ bezeichnet. Damit sind „die geistigen Wegbereiter des Autoritarismus“ (S. 25) gemeint. Es handelt sich um Medienschaffende, die sich nicht länger den Grundprinzipien der liberalen Demokratie verpflichtet fühlen: „Autoren, Intellektuelle, Pamphletschreiber, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten und Memeschöpfer, die der Öffentlichkeit ihr Bild verkaufen“ (S. 24). Auf diese Weise – so Applebaums zentrale These – würde die Machtübernahme von Autokraten vorbereitet beziehungsweise deren Machterhalt gesichert.

Applebaums Buch ist stark persönlich gefärbt. Es gleicht mehr einer Reportage als einer wissenschaftlichen Abhandlung. Die Autorin nimmt den Leser mit auf eine Reise zu zentralen Produzenten einer antiliberalen Weltsicht. Die Personen, die sie vorstellt, entstammen ehemaligen Elitennetzwerken, die etwa während Applebaums politischem Engagement auf Seiten der US-amerikanischen Republikaner oder im Rahmen der Tätigkeit ihres Mannes als polnischer Außenminister entstanden sind. Ihr übergreifendes Narrativ ist, dass diese Personen in der Vergangenheit, als Applebaum sie kennengelernt hat, überwiegend liberal-konservativ gesinnt waren, inzwischen aber aufgrund einer Verklärung früherer Zeiten sowie aus narzisstischer Geltungssucht zu Vordenkern oder zumindest wichtigen Multiplikatoren rechtspopulistischer beziehungsweise offen autoritärer und fremdenfeindlicher Überzeugungen geworden seien.

So nimmt der Leser teil an ihren Gesprächen mit so illustren Gestalten wie dem Direktor des staatlichen polnischen Fernsehens, Jacek Kurski, der Leiterin des Museums „Haus des Terrors“ in Budapest, Mária Schmidt, der „Fox-News“- und Radiomoderatorin Laura Ingraham oder auch Rafael Bardjí, ein ehemaliger Berater des früheren spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar und jetzt einer der führenden Köpfe der Vox-Partei. Am prominentesten in diesem bunten Reigen ist sicherlich Boris Johnson, den sie als geltungssüchtigen Clown und notorischen Ehebrecher charakterisiert, dem sie aber zugleich ein „unheimliche[s] Charisma“ attestiert (S. 74). Applebaum macht aus ihrer Abneigung gegenüber diesen neuen „clercs“ – auch Johnson kann auf eine journalistische Karriere zurückblicken –, Fakten-Verdrehern und Manipulatoren keinen Hehl.

Das ist informativ, teilweise auch unterhaltsam, auf Dauer aber etwas ermüdend zu lesen. Wer mit Applebaum die gleiche Weltsicht der liberalen Mitte teilt – wiederholt werden von ihr auch linke Bewegungen und Parteien mit dem Verdikt des Illiberalismus bedacht, überdies wird die klassische Hufeisentheorie von ihr bemüht (etwa S. 157) –, wird sich in vielerlei Hinsicht bestätigt fühlen. Ja, es gibt diese ‚bösen‘ Männer und Frauen, die teilweise aus Zynismus, teilweise aber auch aus verletzter Eitelkeit mit dem autokratischen Feuer spielen. Nahezu unthematisiert bleiben freilich die strukturellen, insbesondere sozioökonomischen Ursachen des Aufstiegs populistischer beziehungsweise autokratischer Parteien und Politiker. Applebaums Fokus liegt ausschließlich auf der Angebotsseite, die Nachfrageseite politischer Programme beachtet sie nicht. Darin drückt sich letztlich ein elitärer Dünkel gegenüber der ‚Masse‘ der Bürgerinnen und Bürger, den ‚Ungebildeten‘, aus. Diese werden als passives Objekt ohne eigenen Willen, zumindest aber ohne eigene Rationalität gesetzt. Von vorneherein steht für Applebaum fest, dass die Anhänger der neuen Autokraten von den neuen „Demagogen“ verführt werden. Eine Argumentation, die auf eine lange Tradition bis Platon zurückblicken kann, die sich aber schwerlich mit einem demokratischen Menschenbild vereinbaren lässt. Die im deutschen Untertitel zum Ausdruck kommende Frage, „[w]arum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist“, beantwortet Applebaum jedenfalls nicht. Aber vielleicht sollte man das von einem eher journalistischen Buch auch nicht erwarten. Im Folgenden soll daher der Blick auf einige jüngere genuin politikwissenschaftliche Beiträge zur Krisenliteratur geworfen werden.

2 Liberale Selbstvergewisserung zum Ersten: Die Flucht ins Normative

Jan-Werner Müller ist spätestens seit seinem Buch „Was ist Populismus?“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.Footnote 14 Diese Publikation ist zu einem der meistverkauften und meistzitierten Beiträge zur Interpretation des Phänomens geworden. Müller versteht Populismus als ein antipluralistisches und antiliberales politisches Konzept. Populisten nehmen für sich in Anspruch, als Einzige zu wissen, wer zum Volk gehöre und was das Volk denke, und versuchen auf diese Weise, den Raum der demokratischen Debatte zu schließen.

In seinem neuen Buch „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?“, das unter dem Eindruck der US-Präsidentschaft Donald Trumps und der Verfestigung autoritärer Tendenzen in Brasilien, Indien, der Türkei, Ungarn und Polen verfasst wurde, weicht Müller nicht von dieser Definition des Populismus ab: Populisten behaupten, sie allein repräsentierten das ‚wahre‘ Volk. Doch gerade dieser Alleinvertretungsanspruch würde das Volk spalten und demokratische Verfahren aushöhlen. Auch die populistische Forderung nach mehr direkter Demokratie sei ein Lippenbekenntnis, „vielmehr ist die richtige kollektive Antwort auf eine Frage immer schon bekannt“ (S. 39), wie Müller im ersten Kapitel ausführt.

Demokratie hingegen, so verdeutlicht er im zweiten Kapitel mit Verweis auf politiktheoretische Stichwortgeber wie Claude Lefort und Hans Kelsen, bestünde im Wesentlichen gerade darin, offen zu halten, was der Wille des Volkes sei, wie auch in der Kontroverse darüber, wer überhaupt zum Volk gehöre. Müller weist in diesem Zusammenhang überzeugend darauf hin, dass neben den Grundprinzipien der Freiheit und Gleichheit ebenso die „Ungewissheit“ über den Ausgang demokratischer Verfahren zum Wesen der modernen Demokratie gehört. „Demokratie kann als ein System definiert werden, in dem Parteien Wahlen verlieren“ (S. 96). Doch damit nicht genug: „In Demokratien verlieren nicht nur Parteien Wahlen; in echten Demokratien müssen auch mächtige Interessen Wahlen verlieren, zumindest gelegentlich“ (S. 103). Wir wissen aus der empirischen Forschung, dass dies zumindest für die liberalen Demokratien des Westens derzeit nicht der Fall ist, gerade die Interessen der unteren Klassen finden wenig Gehör – und auch Müller zitiert entsprechende Studien.Footnote 15

Was sind die Ursachen für die mangelnde Responsivität liberaler Demokratien? Müller hat bereits im Eingangskapitel auf gesellschaftliche Entwicklungen hingewiesen, die fast alle westlichen Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, betreffen und die er als eine „zweifache Sezession“ (S. 40) beschreibt. Die erste Sezession, so Müller, ist „die der privilegiertesten Gruppen“ (S. 42), das heißt die Tatsache, dass jene Gesellschaftsschicht, die über die höchsten Bildungsabschlüsse, zumeist auch über größere Einkommen wie Vermögen und nicht zuletzt über ein überdurchschnittliches Sozialkapital verfügt, weitgehend unter sich bleibt: „Die Gebildeten und Vermögenden vermischen sich, leben eng beieinander und reproduzieren viele ihrer Privilegien über Generationen hinweg“ (S. 43). Die zweite Abspaltung ist dagegen, dass eine „wachsende Zahl von Bürgern am unteren Ende des Einkommensspektrums“ (S. 50) sich weitgehend von demokratischen Ritualen verabschiedet hat.

Die zugrunde liegende Annahme scheint darin zu bestehen, dass solche Abspaltungen mit der demokratischen Praxis unvereinbar seien. Demokratische Teilhabe, so Müller, verkomme zunehmend zu einem Privileg der „Gebildeten und Wohlhabenden“: „An der Spitze stehen Bürger, die sich stark an der Politik beteiligen, aber gleichzeitig viele Möglichkeiten haben, woanders hinzugehen.“ Die segregierte Nation am unteren Ende bestehe demgegenüber aus „Männern und Frauen, die sich kaum an der Politik beteiligen und eigentlich nirgendwo hingehen können“ (S. 53). Schließlich sei auch die Mittelschicht unter Druck geraten, sodass die zunehmende Angst vor dem sozialen Abstieg, wenn nicht vor dem eigenen, so doch vor dem der eigenen Kinder, für die aktuelle populistische Welle verantwortlich sein könnte (ebd.).

Das gibt Anlass, nach Gegenmaßnahmen zu fragen. Jedoch sind die Instrumente, die Müller im weiteren Verlauf des Buches anführt, um die repräsentative Demokratie wiederzubeleben, mithin also im politikwissenschaftlichen Jargon für mehr Responsivität zu sorgen, nicht wirklich überzeugend. Zum einen schlägt er ein „Gutscheinsystem“ (S. 184) vor, durch das Bürgerinnen und Bürger Parteien ihrer Wahl unterstützen können – um die Oligarchisierung der Parteienfinanzierung und damit der Politik oder auch der Medien zu vermeiden und so für ausreichend Pluralismus zu sorgen. Allerdings räumt er selbst ein, dass entsprechende Versuche bisher kläglich gescheitert sind (S. 182). Ein weiteres Instrument zur Revitalisierung der parlamentarischen Demokratie sind für Müller Lotterieversammlungen, die über jene institutionellen Fragen entscheiden sollen, die von den Parteien aufgrund ihrer spezifischen Interessen nicht gemeinwohlverträglich behandelt werden können, nicht zuletzt die Größe der Parlamente und die Parteienfinanzierung. Das ist sicher ein sinnvoller Vorschlag, aber er dürfte der im ersten Kapitel beschriebenen Aushöhlung der Demokratie durch die „doppelte Sezession“ kaum entgegenwirken.

Kurzum, Müller weicht in institutionelle Reformvorschläge aus, die zwar auf normativer Ebene weitgehend überzeugen, zugleich aber ebenso hilflos wie nostalgisch wirken. Zudem finden sich in diesem Buch immer wieder Passagen, die sich als normative Geschmacksurteile charakterisieren lassen, etwa wenn Müller schreibt, dass „manche Bürger bereit“ seien, „Schäden an der Demokratie in Kauf zu nehmen – wenn ihnen die politischen Demolitionisten einen persönlichen Vorteil versprechen“ (S. 54). Am Ende des Buches darf dann auch der moralistische Appell nicht fehlen, dass es „an uns“ liege, die Demokratie zu retten: „Schließlich beruht Demokratie nicht so sehr auf Vertrauen (in Einzelne oder in Institutionen), sondern auf der Bereitschaft sich anzustrengen“ (S. 226).

Das alles dient letztlich einer liberalen Selbstvergewisserung. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass populistische Politiker und Teile ihrer Wählerschaft sich demokratiegefährdend verhalten – und Müller führt in seinem Buch zahlreiche Beispiele dafür an. Die politikwissenschaftliche Debatte über Populismus und die gegenwärtige „Krise“ der Demokratie darf aber nicht bei dieser Kritik stehen bleiben. Die vergleichsweise hohe Stabilität der liberalen Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den meisten westlichen Staaten hatte viel mit den sozioökonomischen und kulturellen Strukturen des fordistischen Wohlfahrtsstaates zu tun. Diese stehen nun seit einem guten Vierteljahrhundert unter Druck. Die populistische Revolte ist ein deutliches Symptom dieser „Krise“. Eine demokratietheoretische Antwort sollte sich daher nicht darauf beschränken, immer wieder dieselben normativen Grundprinzipien der liberalen Demokratie zu beschwören, sondern möglichst konkrete Vorschläge zur Überwindung der „zweifachen Sezession“ formulieren. Solche finden sich genauso wenig in „Die demokratische Regression“ von Armin Schäfer und Michael Zürn, dennoch gelingt es diesen Autoren, die Ursachenanalyse etwas weiter als Müller zu führen.

3 Liberale Selbstvergewisserung zum Zweiten: Die Bildung soll es richten

Ausgangspunkt des Buches der beiden Politikwissenschaftler Schäfer und Zürn ist das, was sie als eine „demokratische Regression“ bezeichnen. Dabei unterscheiden sie zumindest implizit zwei Verständnisse von demokratischer Regression.Footnote 16 In einem schwachen Sinne ist dort eine demokratische Regression zu beobachten, wo es zu empirisch feststellbaren „Veränderungen von Teilaspekten der Demokratie“ (S. 55) komme, etwa wenn die Meinungsfreiheit oder die Unabhängigkeit der Richter eingeschränkt werden oder nicht länger von „freien und fairen Wahlen“ gesprochen werden könne. Wie eingangs erwähnt, zeichnen sich derartige Qualitätsverluste seit einiger Zeit deutlich in den einschlägigen Demokratieindizes (Schäfer und Zürn stützen sich auf den „Varieties-of-Democracy“-Indikator) ab, mittlerweile eben auch in sogenannten liberalen Demokratien wie in Polen oder den USA.Footnote 17

Wirklich innovativ ist das umfassendere Verständnis von demokratischer Regression, und zwar, weil es sich nicht nur auf die üblich verdächtigen Staaten bezieht, in denen sich seit einiger Zeit autokratische Tendenzen beobachten lassen, sondern zusätzlich die Entwicklung in vermeintlich stabilen Demokratien wie Deutschland, Frankreich oder auch die Staaten Skandinaviens mit in den Blick nimmt. Denn demokratische Regression in diesem stärkeren Sinne bezeichnet die Gleichzeitigkeit von „zwei Veränderungen“: Zum einen konstatieren die Autoren eine „zunehmende Distanz der demokratischen Praxis vom Ideal der kollektiven Selbstbestimmung“. Zum anderen machen sie eine Repräsentationslücke aus. In den Worten von Schäfer und Zürn handelt es sich um „eine Abwendung von (Teilen der) Bürgerinnen von der Demokratie, weil sie sich nicht länger repräsentiert fühlen“ (S. 11). Die Autoren beanspruchen, mit der Diagnose dieser beiden Veränderungen und wohl auch deren Zusammenhanges eine „genuin politische Erklärung“ (S. 17) der gegenwärtigen Malaise der liberalen Demokratie im Allgemeinen und der Ursachen des Populismus im Besonderen zu liefern. Diese politische Erklärung grenzen Schäfer und Zürn dabei von sozioökonomischen und soziokulturellen Erklärungen ab, die sie für verkürzt halten.

Fragt man nun genauer, worin diese politische Erklärung besteht, so führen sie ihre jeweiligen Forschungen der letzten Jahre zusammen. Schäfer hat in vielen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass wir es mit einer zunehmenden Repräsentationslücke zu tun haben, und zwar sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. Insbesondere Menschen mit geringeren Einkommen und niedrigeren Schulabschlüssen haben sich in der Vergangenheit von den demokratischen Prozessen abgewandt. Nicht zuletzt nehmen sie immer seltener an Wahlen teil. Zugleich werden deren Interessen immer weniger von den etablierten Parteien vertreten. Zürn war am „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung“ (WZB) Teil einer Forschungsgruppe, die eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung zwischen „Kommunitaristen“ und „Kosmopoliten“ in westlichen Industriegesellschaften beobachtet hat.Footnote 18

Die politische Erklärung des gegenwärtigen Populismus besteht nun darin, dass es vor allem die „Kommunitaristen“ sind, die sich nicht hinreichend repräsentiert sehen, und daher entweder gar nicht mehr zur Wahl gehen oder zu einer Stimmabgabe für populistische Parteien tendieren. Doch das ist nur die eine Seite der „zwei Veränderungen“. Auf der anderen Seite, und hierfür stehen ebenfalls die Forschungen von Zürn, ist es in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einer „Machtvermehrung nichtmajoritärer Institutionen“ (S. 107) gekommen. Zu diesen gehören etwa Zentralbanken, inter- oder supranationale Gerichte und ganz besonders die Institutionen der Europäischen Union, aber auch multilaterale Organisationen wie die Welthandelsorganisation WTO. Entscheidend sind nun zwei Einsichten: Erstens bezweifeln Schäfer und Zürn völlig zu Recht die Neutralität dieser nichtmajoritären Institutionen (NMIs). Vielmehr tragen sie „dazu bei, dass kosmopolitische Politiken festgeschrieben werden und institutionell einrasten. Mit der Übernahme von Kompetenzen durch NMIs erfolgt eine Entpolitisierung bis dato politischer Fragen“ (S. 115). Diese Analyse verweist auf die eingangs von den Autoren festgestellte zunehmende Abweichung der Regierungspraxis von demokratischen Idealen, insbesondere vom Ideal der Volkssouveränität.

Ursächlich für die „demokratische Regression“ ist aber nicht allein der Umstand der Auslagerung politischer Entscheidungsmaterien in die NMIs, sondern auch der Faktor, dass die kosmopolitische Praxis dieser Institutionen, die zentral in der Stärkung individueller Rechte, obendrein der Rechte von internationalen Investoren besteht, von einer „informellen Koalition der liberalen Globalistinnen“ (S. 81), eben den Angehörigen der kosmopolitischen Klasse, unterstützt wird. Und es sind diese Menschen, die in den „etablierten Parteien, […] in Regierung, Verwaltung, Justiz sowie wichtige[n] Medien und internationale[n] Organisationen“ (S. 81) – man muss in der Wissenschaft ergänzen – tätig sind. Es handelt sich mithin um Menschen an den Schalthebeln der Macht sowie der Ideologieproduktion. Vor diesem Hintergrund ist es also wenig verwunderlich, dass stärker kommunitaristisch orientierte Menschen sich kaum noch repräsentiert sehen und auch den Verlautbarungen über die Segnungen des Kosmopolitismus und der europäischen Integration mit zunehmender Ablehnung begegnen.

Das ist eine starke Analyse, die über Müllers Deutung der Krise der Demokratie und der „zweifachen Sezession“ hinausweist, gerade weil sie mit der Auslagerung von kollektiv verbindlichen Entscheidungen in Elitennetzwerke und supranationale Organisationen die institutionellen Rahmenbedingungen dieser politisch-kulturellen Spaltungsbewegung stärker in den Blick nimmt. Die von Schäfer und Zürn am Ende des Buches ins Spiel gebrachten Therapievorschläge vermögen demgegenüber weniger zu überzeugen. Da finden sich zunächst Allgemeinplätze wie, den „technokratischen Verlockungen“ zu widerstehen (S. 204), den Bürgerinnen und Bürgern zu „vertrauen“ (S. 207) oder auch Kontexte der Ungleichheit abzubauen (S. 208). Doch darüber, wie diese hehren Ziele zu erreichen sein könnten, erfährt man wenig Konkretes. Ein zweites Bündel von Vorschlägen bezieht sich auf eine Reform der nationalstaatlich verankerten Verfahren politischer Beteiligung. Erwähnt werden Losverfahren und mini-publics sowie die Rekrutierungsmuster politischer Parteien (S. 210 ff.). Doch auch hier bleibt vieles im Ungefähren. Zudem sollen die als ursächlich für den Demokratieverfall gekennzeichneten NMIs einer stärkeren öffentlichen Kontrolle ausgesetzt werden. Die Autoren relativieren diese Forderung jedoch gleich wieder, denn das letztlich technokratische „Entscheidungsprinzip der NMIs soll unangetastet bleiben“ (S. 214). Mit Blick auf die supranationale Ebene plädieren Schäfer und Zürn schließlich für die Einführung „transnationaler Wahllisten“ und die Stärkung einer „kosmopolitische[n] Leidenschaft“ (S. 218). Spätestens an dieser Stelle reibt man sich verwundert die Augen. Denn die Analyse der gegenwärtigen „demokratischen Regression“ legt eher ein Weniger und nicht ein Mehr an Kosmopolitismus nahe. Doch dazu können sich Schäfer und Zürn offensichtlich nicht durchringen. Stattdessen kommt am Ende der für liberale Denker klassische Appell an politische Bildung. Die intoleranten Anhänger des „autoritären Populismus“ müssen zur Einsicht in die Unausweichlichkeit des neuen Globalismus gebracht werden. Das zentrale Problem an diesen Lösungsvorschlägen besteht darin, dass hier eine asymmetrische Sortierung der kosmopolitischen und der kommunitaristischen Denkstrukturen vorliegt. Erziehungsbedürftig ist nur die eine Seite. Das widerspricht aber dem Ideal der politischen Gleichheit. Da helfen auch abschließende Beschwörungsfloskeln, wie die „Verteidigung der Demokratie erfordert mehr Demokratie“ (S. 222), nicht weiter.

Auch der britische Soziologe Colin Crouch, dessen Postdemokratiediagnose vor nunmehr fast 20 Jahren den Startpunkt der aktuellen Krisendebatte darstellte, hat sich jüngst mit „Postdemokratie revisited“ nochmals zu Wort gemeldet. Insgesamt sieht er seine damalige These, die zumindest in Deutschland zu großer Resonanz wie auch zu heftigen Kontroversen geführt hat, bestätigt.Footnote 19 So schreibt er am Ende mit Blick auf die Zeit, die seit der Veröffentlichung von „Post-Democracy“ vergangen ist: „Zweifellos sind wir postdemokratischen Zuständen in diesen Jahren um einige Schritte näher gekommen“ (S. 269). Zugleich macht er eingangs auf drei Fehleinschätzungen seines damaligen Buches aufmerksam: erstens die Überbetonung der „Augenblicke der Demokratie“, also von bürgerschaftlichem Engagement, insbesondere aber die Kämpfe der Arbeiterbewegung auf der einen Seite, und die Vernachlässigung der institutionellen Dimension der Demokratie auf der anderen Seite; zweitens die Unterschätzung des „xenophoben Populismus“ und drittens die mangelnde Berücksichtigung der Rolle des Feminismus als Teil der Kämpfe der „mittleren und unteren Klassen“ (S. 10 f.).Footnote 20 Crouch versteht sein Buch daher auch als Beitrag zur Korrektur dieser „Irrtürmer“.

Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem „xenophobischen Populismus“ nimmt großen Raum ein (S. 136–172). Der Autor unterstellt dem Populismus nicht zu Unrecht einen „nostalgischen Pessimismus“. Dabei richtet sich seine Kritik nicht nur gegen offen xenophobische Varianten des Populismus, sondern auch gegen „linke“ Versuche der Rückeroberung nationalstaatlicher Handlungsmacht: „Wenn Teile der Arbeiterbewegung nun aus Pessimismus versuchen, ihren alten Status zu bewahren, indem sie andere ausgrenzen und einengen, geben sie die Offenheit und den Universalismus auf, die immer zentrale Eigenschaften der Linken waren“ (S. 142).Footnote 21 Diese Kritik richtet sich einerseits gegen Parteien wie La France Insoumise oder die britische Labour Party unter Jeremy Corbyn,Footnote 22 sie wendet sich aber andererseits auch gegen politikökonomische Theorien, wie etwa von Wolfgang Streeck, der sich für eine „Rückkehr in die Welt von Bretton Woods“ ausspricht (S. 130). Dieses Vorhaben sei jedoch insofern gefährlich, als der „Entschluss zu einer Ent-Globalisierung“ zum „Abbruch vieler Wirtschaftsbeziehungen“ und in der Folge „zu weiteren Verwerfungen und Kostensteigerungen“ sowie zu „zunehmenden Spannungen“ zwischen den Staaten führen würde (S. 132, 130). Für Crouch steht demgegenüber fest, dass die „Globalisierung nicht rückgängig“ gemacht werden könne, wenngleich sie in vielerlei Hinsicht die Demokratie schwäche, nicht zuletzt durch die Machtverschiebung hin zu transnationalen Unternehmen und internationalen Kapitalmärkten. Den Ausweg aus dieser „verzwickten Lage“ sieht er in der Demokratisierung des Multilateralismus. Hier kommt die Europäische Union ins Spiel, deren weltweiten Vorbildcharakter Crouch unterstreicht. Zwar räumt er den überwiegend „postdemokratischen Charakter“ der Institutionen der EU ein, doch solle man sich davor hüten, „sie wegen ihrer unbestreitbaren demokratischen Defizite zu verspotten“ (S. 133). Mit diesem Vertrauen in supranationale Institutionen und namentlich in die EU befindet sich Crouch in Übereinstimmung mit Schäfer und Zürn, die ja ebenfalls trotz aller Kritik am technokratischen Charakter der NMIs an diesen festhalten. Allerdings drückt sich auch bei Crouch mehr ein Prinzip Hoffnung aus, als dass es ihm gelingt, Wege einer tatsächlichen Demokratisierung der EU aufzuzeigen. Genauso wenig kann er plausibel machen, wie der gegenwärtigen populistischen Revolte, die sich nicht zuletzt gegen multilaterale und supranationale Institutionen richtet, wirksam begegnet werden könnte. Hinzu kommt, dass Crouch selbst nicht nur die EU angesichts der Macht der Konzerne als „tapsige[n] Zwerg“ (S. 25) bezeichnet; darüber hinaus zeigt er in den ersten Kapiteln seines Buches durchaus überzeugend auf, wie im Zeitalter neoliberaler Reformen Korruption und Ungleichheit deutlich zugenommen haben (S. 41–70). Letzteres trifft nun gerade auch auf die Politik der EU zu, die seit den 1990er Jahren und dann verstärkt im Rahmen der Bewältigung der europäischen Schuldenkrise bekanntlich zu einem nachhaltigen Abbau nationalstaatlicher Steuerungskompetenzen, vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, beigetragen hat, wie Crouch anschaulich nachzeichnet (S. 104–124). Auf die Frage, wie die im neoliberalen Elan erfolgte „Überkonstitutionalisierung“Footnote 23 der EU wieder abgewickelt werden könne, um so überhaupt erst demokratische Spielräume auf europäischer Ebene zu eröffnen, liefert der Autor keine Antwort.

Crouch wie auch Schäfer und Zürn haben gewiss Recht darin, dass viele gegenwärtige politische Herausforderungen nur im Rahmen multilateraler Abkommen gelöst werden können und eine Rückkehr zur nationalstaatlichen Souveränität in einem starken Sinne keine überzeugende Option darstellt. Doch sie bleiben eine Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Globalismus beziehungsweise Supranationalismus ebenso schuldig, wie dass sie nicht wirklich Wege aufzeigen, auf welche Weise der zunehmenden Spaltung zwischen kommunitaristisch gesinnten Bürgern – bei Crouch sind es Menschen mit „nostalgisch-pessimistischen Regungen“ (S. 214) – und den Anhängern eines „liberalen Internationalismus“ (S. 226) begegnet werden könne.

Insgesamt bleibt nach der Lektüre von Crouchs Buch ein ambivalenter Eindruck. Einerseits finden sich viele überzeugende Passagen, in denen er die gegenwärtige Demokratiekrise und ihre Ursachen analysiert. Das gilt nicht nur für seine Darstellung des neoliberalen Umbaus der westlichen Demokratien, sondern auch hinsichtlich Crouchs Analyse der damit zusammenhängenden parteipolitischen Verschiebungen. So konstatiert er sowohl eine für die Demokratie problematische Hegemonie der kulturellen Konfliktlinie gegenüber materiellen Fragen als auch in Übereinstimmung mit Nancy Frasers Diagnose eines „progressiven Neoliberalismus“Footnote 24 die Existenz einer „inoffiziellen Koalition“ zwischen jenen, die „in kulturellen Fragen seit den sechziger Jahren auf der Gewinnerseite stehen“ und neoliberalen Ökonomen (S. 232). Dass dies insbesondere mit Blick auf die Entwicklung der ehemaligen Arbeiterparteien eine zutreffende Analyse ist, ist in den vergangenen Jahren mehrfach betont worden.Footnote 25 Andererseits bleibt Crouch genauso wie die bislang besprochenen Autoren einer „kosmopolitischen“ Orientierung treu, und auch er möchte wie schon Schäfer und Zürn der populistischen Gefährdung durch „Bildung“ begegnen. Dabei setzt er seine Hoffnung auch darauf, dass der Anteil derer, die über höhere Bildungsabschlüsse verfügen, kontinuierlich wachse (S. 258 f.): Wenn die „Jungen und Gebildeten“, die sich in sozialen Bewegungen engagieren, „weiterhin Zulauf haben und Millionen Menschen dafür sorgen, dass sie erhalten, was sie zum Gedeihen brauchen – Geld, Demonstrationsteilnehmer, aktive Helfer –, wird die Demokratie wieder aufleben können“ (S. 270). Diese Schlusspassage ist freilich in zweierlei Hinsicht wenig überzeugend. Zum einen widerspricht sie der eingangs aufgestellten Maxime, nicht so sehr auf bürgerschaftliches Engagement, vielmehr auf institutionelle Vorkehrungen zu vertrauen. Zum anderen haben wir es auch hier wieder mit einer Beschwörungsfloskel zu tun, die von der vorigen Analyse wenig gedeckt ist.

4 Waren wir jemals demokratisch?

Adam Przeworski, ein polnischstämmiger Politikwissenschaftler, der seit vielen Jahren in New York und Chicago lehrt und einer der Stars der vergleichenden Systemforschung ist, verzichtet am Ende seines Buches über „Krisen der Demokratie“ demgegenüber auf eine derartige Phrase. Stattdessen kommt er zu folgendem Fazit: „Wir haben es nicht einfach mit einer politischen Krise zu tun; diese Krise hat tiefe ökonomische und gesellschaftliche Wurzeln“ (S. 237).

Przeworski hält eingangs die zwar kontingente, aber nicht zufällige Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten als Auslöser für seine Beschäftigung mit den Krisen der liberalen Demokratie fest: „Hätte Trump die Wahl verloren, wären viele Leute, die sich jetzt beeilen, ähnliche Bücher wie dieses zu schreiben, mit anderen Aufgaben beschäftigt, und das gilt natürlich auch für mich“ (S. 7). Nicht nur die Präsidentschaftswahl hätte anders ausgehen können, sondern bekanntlich war auch der Brexit denkbar knapp. Wie einleitend formuliert, waren es nicht zuletzt diese beiden Ereignisse – für Deutschland müssen wohl zudem die Wahlerfolge der AfD erwähnt werden –, die die aktuelle Konjunktur der Krisenliteratur ausgelöst haben. All das hätte nicht passieren müssen. Hillary Clinton hätte die Wahl gewinnen können, die remainers hätten sich durchsetzen können und auch die AfD hätte nach ihrem knappen Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde nach 2013 wieder in der parteipolitischen Bedeutungslosigkeit verschwinden können. Dass es anders gekommen ist, es zu politischen Erschütterungen sogar in vermeintlich stabilen liberalen Demokratien gekommen ist, die auch Przeworski „nie erwartet hätte“ (S. 7), evoziert nicht nur die Frage nach deren Ursachen, sondern zusätzlich die Frage nach der Zukunft der Demokratie beziehungsweise danach, ob die liberale Demokratie noch eine Zukunft hat. Przeworskis Antwort auf die zweite Frage fällt „moderat pessimistisch“ (S. 236) aus.

Insgesamt ist sein Stil wohltuend nüchtern-distanziert, wenn auch in den Konsequenzen etwas schwankend. Es finden sich viele interessante Einsichten, die aber letztlich nicht zu Ende gedacht werden. Vermutlich auch deshalb, weil das Ergebnis allzu ernüchternd wäre. Das zeigt sich bereits bei Przeworskis Demokratiebegriff, den er als „minimalistisch“ beziehungsweise „elektoralistisch“ begreift: „Demokratie ist eine politische Ordnung, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Regierung mittels Wahlen bestimmen und die Möglichkeit haben, sich einer Regierung zu entledigen, die ihnen nicht gefällt.“ Doch was bedeutet das, wenn die gewählten Regierungen immer stärker in internationale Organisationen und Regime eingebunden sind, wie es Schäfer und Zürn beschreiben? Muss man dann nicht zu dem Schluss kommen, dass wir nach dieser minimalistischen Definition von Demokratie schon lange nicht mehr in einer Demokratie leben, denn viele von denen, die uns zumindest teilweise „regieren“, lassen sich nicht abwählen? Ein solcher Schluss findet sich jedoch nicht oder zumindest nicht direkt bei Przeworski. Erst am Ende seines Buches greift er diesen Gedanken wieder auf. Dazu gleich mehr. Mit Blick auf seinen Demokratiebegriff ist zudem hervorzuheben, dass Przeworski explizit die Möglichkeit „illiberaler“ Demokratien einräumt, zum Beispiel, wenn bestimmte Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht beachtet werden oder die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist, wie es gegenwärtig etwa in Polen und Ungarn der Fall ist. Entscheidend sei allein, dass die Möglichkeit besteht, die Regierung mittels Wahlen auszutauschen (S. 17). Mit dieser minimalistischen Definition von Demokratie ist Przeworski ziemlich weit von den Demokratiekonzeptionen von Keane, Müller und auch Schäfer und Zürn entfernt, die jeweils ein liberales, an Rechtsstaatlichkeit orientiertes Verständnis von Demokratie aufweisen; bei Schäfer und Zürn kommt noch die Erwartung hinzu, dass demokratische Verfahren eine besondere Nähe zum öffentlichen Vernunftgebrauch aufweisen müssten.

Allerdings spielen diese konzeptionellen Differenzen im weiteren Verlauf von Przeworskis Analyse zunächst keine größere Rolle mehr. Vielmehr weisen seine Befunde mit Blick auf die etablierten Demokratien des Westens starke Überschneidungen mit denen von Müller – „zweifache Sezession“ –, Schäfer und Zürn – Spaltung in „Kommunitaristen“ und „Kosmopoliten“ – und auch mit Crouchs Darstellung des neoliberalen Umbaus der OECD-Welt auf. Es herrscht Einigkeit darüber, dass es in den vergangenen 20 bis 30 Jahren zu erheblichen Veränderungen in der politischen Ökonomie der westlichen Demokratien gekommen sei, dass sich dies in den soziomoralischen Einstellungsmustern der Bürgerinnen und Bürger niederschlage und dass beides im Zusammenhang mit dem Aufstieg „autoritärer“, „xenophobischer“ Parteien stehe. Przeworski benutzt das Etikett „rechtsradikal“, betont dabei jedoch auch seine „Vorbehalte“ gegenüber dieser Etikettierung (S. 109), wobei nicht klar wird, worin diese Vorbehalte konkret bestehen.

Przeworski ergänzt diese Befunde nun in drei Hinsichten. Erstens enthält sein Buch ein lesenswertes Kapitel über historische Konstellationen, in denen Staaten mit ökonomischen und politischen Krisen konfrontiert waren und diese dann überstanden haben oder auch nicht. Konkret analysiert er die Ereignisse in Deutschland von 1928 bis 1933, in Chile von 1970 bis 1973, in Frankreich von 1954 bis 1962 und 1968 sowie in den Vereinigten Staaten von 1964 bis 1974. Die „Lehren aus der Geschichte“ sind, dass es sowohl auf die spezifischen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als auch die jeweiligen demokratischen Kulturen und Institutionen ankommt, insbesondere darauf, wie robust letztere ausfallen. Darüber hinaus unterstreicht Przeworski aber auch den Faktor der Kontingenz, sodass sich ihm zufolge „nur sehr beschränkte Lehren aus der Geschichte ziehen“ lassen. Die Zukunft der Demokratie „ist ungewiss“ (S. 97).

Zweitens geht er noch etwas gründlicher und zudem grundlegender, als es bei den bislang dargestellten Büchern der Fall ist, auf den Zusammenhang zwischen politikökonomischen Veränderungen, parteipolitischen Entwicklungen sowie der Zunahme demokratieskeptischer, besonders aber antiliberaler Einstellungen ein. Przeworskis Einsichten sind dabei zwar nicht wirklich neu: etwa mit Blick auf die Zentralität der Aufhebung der Kapitalsverkehrsbeschränkungen für die vor allem sozial- und wirtschaftspolitische Entmachtung demokratisch gewählter Regierungen (S. 133 f.), auf die wachsende Spaltung zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern (S. 135), auf die zunehmende Kulturalisierung politischer Konflikte und deren spaltende Kraft – wobei er den „konzeptuellen Zusammenhang zwischen Rassismus und Multikulturalismus“ hervorhebt, bei beiden handele es sich um „Ideologien, die die Gesellschaft in verschiedene Gruppen zerlegen“ (S. 141 f.) – oder hinsichtlich der Veränderung der Wählerbasis populistischer Parteien (S. 165). Aber es gelingt ihm, diese Entwicklungen in einen überzeugenden Zusammenhang zu bringen. Darüber hinaus verweist Przeworski auf den in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Kompromiss von Demokratie und Kapitalismus und kommt, wenn auch wiederum vorsichtig tastend, zu der Einschätzung, dass „dieser Kompromiss mittlerweile zerbrochen“ (S. 31) sei. Auch das ist keine gänzlich neue These, aber sie demonstriert doch im Vergleich die Naivität derer, die der gegenwärtigen Krise der liberalen Demokratie mit mehr moralischer Haltung oder politischer Bildung begegnen wollen.

Das führt zum dritten Mehrwert von Przeworskis Buch. Er stellt abschließend in einem ideenhistorischen Exkurs über die US-amerikanische Ratifizierungsdebatte den zutiefst elitären Charakter der gewaltenteiligen, repräsentativen Demokratie heraus, der nicht zuletzt die Interessen der bürgerlichen Klasse schützt: „Ihre spezifische Form erhielten unsere repräsentativen Institutionen, um den Status quo zu erhalten, der unterschiedlich aussehen konnte, wobei es jedoch stets darum ging, die Eigentumsverhältnisse gegen zeitweilige Mehrheiten abzusichern“ (S. 230). Zwar wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts das Wahlrecht erweitert, doch „wurden neue Hürden zum Schutz vor dem Mehrheitswillen eingeführt“ (S. 231): Verfassungsgerichtsbarkeit, die Delegation der Geldpolitik an „vom Wählerwillen unabhängige Zentralbanken“ sowie die Schaffung sogenannter unabhängiger Aufsichtsbehörden. Und wie Przeworski zu Recht betont, lassen sich auch die währungs- wie wirtschaftspolitischen Regelungen des Maastricht-Vertrages hier einordnen. Darüber hinaus kann man an dieser Stelle die von Crouch skizzierten Maßnahmen zur Eindämmung der Euro-Schuldenkrise ergänzen.

So erweist sich am Ende der konzeptionelle Ertrag eines minimalistischen Demokratieverständnisses. Wenn man Demokratie als die Möglichkeit begreift, politische Entscheidungseliten, die die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, auch wieder abzuwählen, dann zeigt sich, dass die Geschichte liberaler Regime sich dadurch auszeichnet, gerade das zu verhindern. Und die von Schäfer und Zürn, Crouch und eben auch Przeworski geschilderten institutionellen Machtverlagerungen sind nur die bislang letzte Stufe dieser Entdemokratisierungsprozesse. Die liberale Demokratietheorie hat das immer zu verschleiern versucht, doch es tritt mehr und mehr hervor: Wir sind nie demokratisch gewesen.

5 Besprochene Literatur

  • Applebaum, Anne: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist, übers. v. Jürgen Neubauer, 208 S., Siedler, München 2021 (engl. 2020).

  • Crouch, Colin: Postdemokratie revisited, übers. v. Frank Jakubzik, 278 S., Suhrkamp, Berlin 2021 (engl. 2020).

  • Keane, John: The New Despotism, 320 S., Harvard UP, Cambridge, MA/London 2020.

  • Müller, Jan-Werner: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie?, übers. v. Michael Bischoff, 270 S., Suhrkamp, Berlin 2021.

  • Schäfer, Armin/Zürn, Michael: Die demokratische Regression, 247 S., Suhrkamp, Berlin 2021.

  • Przeworski, Adam: Krisen der Demokratie, übers. v. Stephan Gebauer, 253 S., Suhrkamp, Berlin 2020 (engl. 2019).