1 Einleitung

Erzählen und Argumentieren sind basale kulturelle, kommunikative und sprachliche Handlungen. Obwohl sie einige strukturelle und funktionale Gemeinsamkeiten aufweisen und aufs engste verbunden sein können, werden die Beziehungen zwischen Erzählen und Argumentieren in der linguistischen Forschung nur selten systematisch beleuchtet. Dabei ist offensichtlich, dass Argumentationen bisweilen narrativ entfaltet werden und dass Narrationen mitunter argumentativ aufgebaut sind.Footnote 1

Sowohl Erzählungen als auch Argumentationen konstituieren sich aus Äußerungsabfolgen, die, wie schon in der Rhetorik der Antike betont wurde, der Persuasion dienen können. Im Aufbau der klassischen politischen Rede bereitet die narratio die argumentatio vor und ist mit ihr verwoben. Sie schildert eine Ausgangssituation und schafft damit die »Fakten«, auf die sich die Argumentation bezieht. In diesem gewöhnlichen Fall, und das scheint neben der Beispielerzählung oder dem exemplum die augenscheinlichste Beziehung zwischen Argumentation und Narration, fungieren narrative Äußerungen als Prämissen oder Argumente in Argumentationen. (Vgl. Hannken-Illjes 2019, S. 33–37)

Seien sie strukturell oder funktional: Die Bezüge zwischen Erzählen und Argumentieren sind vielfältig. Der vorliegende Beitrag nimmt die Spezifik verschwörungstheoretischer Erzählung und Argumentation genauer in den Blick. Die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien als Erzählung, in denen Argumentationsmuster eine prägende Rolle für die Etablierung verschwörungstheoretischen Wissens spielen, geht zurück auf Stumpf/Römer (2018).Footnote 2 Breil/Römer/Stumpf (2018) untersuchen Argumentationsmuster und Topoiverbünde innerhalb der Chemtrails-Verschwörungstheorie. Im Anschluss an die genannten Studien werden Verschwörungstheorien als eine spezifische Form der Erzählung begründet. Darüber hinaus wird diese als argumentativ aufgebaut beschrieben, wodurch – so die Annahme – verschwörungstheoretische Erzählungen erst mehr oder weniger kohärent und sinnvoll werden. Dies gilt es im Folgenden zunächst theoretisch und anschließend anhand eines Beispiels zu erörtern.

2 Zur persuasiv-argumentativen Funktion von Erzählungen

Ein zentrales rhetorisches Element der Wahlkampagne zur Bundestagswahl 2017 der SPD war der Einsatz biographischer Segmente, die der Image-Bildung des Kanzlerkandidaten Martin Schulz dienten (vgl. Römer 2018a). In diversen Auftritten charakterisierte Schulz sich als »kleinen Mann« aus der Provinz, der nach seiner Karriere als Schulabbrecher, gescheiterter Fußballprofi und Alkoholiker seine zweite Chance genutzt und den Aufstieg geschafft habe (so etwa in seiner Parteitagsrede vom 19. März 2018). Dieser Lebensweg wurde mit dem Hochwert- und SPD-Fahnenwort Solidarität verknüpft, wenn Schulz davon sprach, seine zweite Chance dank der Unterstützung von Familie, Freunden und den Jusos erhalten und genutzt zu haben. Schließlich sei es ihm nur durch den Zusammenhalt und harte Arbeit gelungen, zum erfolgreichen Buchhändler und Bürgermeister von Würselen aufzusteigen. Als Kommunalpolitiker habe er Politik von der Pike auf gelernt.

Dies wiederholte Schulz in Reden, Talkshows und Interviews beständig, wodurch ein sozialdemokratisches Heldenimage vom authentischen und emphatischen Politiker von unten aufgebaut wurde, das ihn als den Richtigen legitimieren und Bürger*innen davon überzeugen sollte, ihn zu wählen.

Dieses Beispiel ist prototypisch für eine erzählende Art der Geschehensdarstellung, die sich im Resultat als Erzählung charakterisieren lässt. Die einzelnen, auf die Gesamterzählung bezogenen Äußerungen lassen sich als narrative Äußerungen verstehen. Der Ausdruck Narration ist produkt- und prozessorientiert. Er bezeichnet sowohl den Vorgang des Erzählens als auch dessen Ergebnis.

Erzählen ist, allgemein gesagt, eine Kulturtechnik, eine konstruktive Tätigkeit und in einem etwas engeren Verständnis ein Muster der Versprachlichung. Dabei werden Erlebnisse, einzelne reale oder fiktive Begebenheiten bzw. Informationen mithilfe von Sprache in eine sequenzielle Ordnung gebracht und so als scheinbar kohärenter Wirklichkeitsausschnitt dargestellt. Elementar ist die »sprachliche Darstellung einer Veränderung, eines Wandels in der Zeit« (Bubenhofer/Müller/Scharloth 2013, S. 423).Footnote 3

Für linguistische Analysen von Erzählungen als Muster der Versprachlichung können sowohl die narrativen Äußerungen und die konkreten sprachlichen Mittel in ihren erzählspezifischen Funktionen als auch die Regeln ihrer Verknüpfung bzw. die abstrakte Struktur von Erzählungen interessant sein. (Vgl. Gülich/Hausendorf 2000, S. 371–374; Hannken-Illjes 2019, S. 32)

Im Alltag und auch in der politischen Kommunikation sind Erzählungen maßgeblich »an der Herstellung scheinbar ›objektiver‹ Tatsachen« (Spieß/Tophinke 2018, S. 194), an der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeiten beteiligt. Wirklichkeitskonstruierend sind Erzählungen, indem sie Erlebtes, Begebenheiten und Informationen organisieren. Nach Weidacher (vgl. 2018, S. 315) wirkt Erzählen dabei wie ein Filter: Als bedeutsam erachtete Informationen werden von belanglosen getrennt und temporal oder kausal zu einer Sinneinheit miteinander verbunden. Durch Selektion und Anordnung also wird das Erzählte sinnvoll, kommunizier- und verstehbar. Die Struktur von Erzählungen ergibt sich aus ebendieser »Sequenzierung von Ereignissen« (Weidacher 2018, S. 315).

Insbesondere in der öffentlich-politischen Kommunikation haben Erzählungen eine wichtige Orientierungsfunktion:

Erzählungen stellen […] – meist nicht ganz uneigennützige – Angebote dar, die dem Adressaten dabei helfen sollen, sich in komplexen oder als komplex empfundenen Situationen zurechtzufinden, aber auf eine Art und Weise, die den Intentionen des Textautors entspricht. Zum Beispiel können in einer Erzählung Kausalzusammenhänge aufgezeigt oder auch postuliert werden, die dem Rezipienten eine Situation erklären und sie so durchschaubar machen. Dies und eine der Erklärung häufig immanente Bewertung ermöglichen ihm, sich in dieser Situation zu orientieren und dementsprechend seine Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. (Weidacher 2018, S. 315)

Selektion und (kausale) Anordnung von Informationen, Intention des Erzählenden, Bewertung der Situationsdarstellung, all dies deutet auf eine ideologische Perspektivierung, auf die Vermittlung von Werten und Einstellungen im Rahmen der erzählten Wirklichkeit hin. Werden die Rezipient*innen von den Ereignisabläufen und -zusammenhängen, vom vermittelten Weltbild überzeugt, handeln sie entsprechend der Intention des Erzählenden, erfüllt die Erzählung zugleich eine persuasive Funktion (vgl. Weidacher 2018, S. 315).Footnote 4

Auch verschwörungstheoretische Erzählungen sind auf Persuasion angelegt, weil sie versuchen, davon zu überzeugen, dass sich Ereignisse anders zugetragen haben als in den allgemeinen Wirklichkeitsdarstellungen. Sowohl beim Infragestellen der offiziellen Version eines Geschehens als auch im Rahmen der Legitimierung der verschwörungstheoretischen Deutung kommen Argumentationen zum Einsatz. Demnach sind verschwörungstheoretische Erzählungen argumentativ. Der vorliegende Beitrag interessiert sich in diesem Zusammenhang weniger für die Frage, ob einzelne narrative Äußerungen innerhalb verschwörungstheoretischer Erzählungen – im Sinne der narratio – argumentativ funktionalisiert werden oder ob narrative Äußerungen als sprachliche Realisierungen von Topoi auftreten (dass jeder Topos sich narrativ realisieren lässt, etwa als Geschehensdarstellung oder Beispielerzählung im Rahmen von Analogieschlüssen, arbeitet Klein (2019) heraus). Im Anschluss an die Analyse topologischer Diskursformationen (Römer 2017) interessiert sich der vorliegende Beitrag vielmehr dafür, welche kontextspezifischen Topoi in verschwörungstheoretischen Erzählungen verwendet werden, welche Beziehungen die Topoi untereinander haben und ob sich daraus ein für Verschwörungstheorien charakteristisches Strukturmuster ergibt, durch welches verschwörungstheoretische Erzählungen erst mehr oder weniger kohärent und sinnvoll werden. Dem liegen bestimmte argumentationstheoretische Annahmen zugrunde, die Gegenstand des folgenden Abschnitts sind.

3 Argumentation und Topos

3.1 Argumentation

Unter strukturellen Gesichtspunkten sind Argumentationen wie Erzählungen auf eine bestimmte Weise sequenzierte sprachliche Äußerungen, die zusammen ein scheinbar kohärentes Beziehungsnetz ergeben. Im Anschluss an die rhetorisch und pragmatisch orientierte moderne ArgumentationstheorieFootnote 5 lässt sich Argumentation funktional gesehen als Handlungstyp für den Umgang mit problematisierten und in der Folge rechtfertigungsbedürftigen Geltungsansprüchen bestimmen.

In argumentativen Sequenzen wird im Wesentlichen eine Äußerung mit fraglichem, problematischem oder strittigem Geltungsanspruch durch ein bestimmtes Denkprinzip (Schlussregel nach Toulmin 2008 [1958]) an als zweifelsfrei unterstellte oder »legitimierte bzw. legitime Geltungsansprüche« (Kopperschmidt 2005, S. 75) angeschlossen. Auf diese Weise soll sie in eine Äußerung mit unstrittigem, unproblematischem oder nichtfraglichem Geltungsanspruch überführt werden. So gilt auch für Argumentationen, was teilweise schon über Erzählungen gesagt wurde: Durch Anknüpfen an kollektive Überzeugungen und regelhaftes In-Beziehung-Setzen von Äußerungseinheiten machen sie Sachverhalte verstehbar.

Die formallogische Gültigkeit des Schlusses spielt bei der auf Plausibilität bedachten Argumentation in alltäglichen und politischen Kommunikationsbereichen keine Rolle. Überzeugend im Sinne von plausibel ist eine Argumentation eben dann, wenn sie an das von vielen Menschen Geglaubte bzw. Gewusste anschließt.

Meist sind neben den Denkprinzipien oder Schlussregeln die geteilten Gewissheiten, an die angeknüpft wird, um einen Geltungsanspruch zu legitimieren, für die linguistische Argumentationsanalyse von Interesse. Insbesondere in Arbeiten zur Untersuchung des öffentlich-politischen Sprachgebrauchs wird die Analyse von Argumentationen als Analyse von typischen Argumentationsmustern oder -topoi betrieben.

3.2 Topos

Bereits in den ältesten Schriften zur Topos-Forschung, nämlich in den Aristotelischen Abhandlungen zur Topik, lässt sich keine präzise Definition des Topos-Begriffs finden; ebenso wenig in den Büchern des Aristoteles zur Rhetorik. Im Rahmen der Wiederentdeckung und Reinterpretation der Aristotelischen Argumentationslehre durch die moderne Argumentationstheorie (siehe Anm. 5) werden unter Topoi so verschiedene Dinge verstanden wie deduktive oder nicht-deduktive Schlussverfahren, Fundorte für Argumente, Heuristiken/Suchformeln für das Auffinden von Argumenten und Prämissen, Prämissen selbst, wissenschaftliche, dialektische und/oder rhetorische Syllogismen, allgemein anerkannte Meinungen, Schlussregeln/Beweisformeln im Sinne Toulmins, allgemeine/besondere bzw. formale/materiale oder kontextabstrakte/kontextspezifische Argumentationen, Argumente, aber auch Argumentationsmuster, die zwingend notwendig oder auch nur überzeugend sind.

Zwei Auffassungen des Topos-Begriffs in der modernen Argumentationstheorie sind hervorzuheben:

Zum einen die Auffassung als Suchformel. Diese betont den heuristischen Charakter eines Topos als Ort, an dem geeignete Voraussetzungen oder einleuchtende Prämissen bzw. Argumente aufzufinden sind, d.h. »zu wissen, welches Argument wo zu suchen ist« (Pielenz 1993; S. 37), um ein Problem zu lösen. Dieses Verständnis entspricht etwa dem rechtswissenschaftlichen Topos-Konzept von Theodor Viehweg. Topik wird dort als ein rein »prämissensuchendes Verfahren« (Viehweg 1974, S. 39), ein Verfahren zur Suche nach allgemeinen Gesichtspunkten oder Grundsätzen, die zur argumentativen Lösung juristischer Probleme herangezogen werden können, verstanden.

Zum anderen die Auffassung als Beweisformel. Diese betont den Charakter eines Topos als auf ein Ziel gerichtete argumentative Denkbewegung bzw. Schlussregel im Sinne Toulmins, welche den Übergang von der strittigen These zur Schlussfolgerung erlaubt und damit die Überzeugungskraft einer Argumentation sichert. Letztere Betrachtungsweise entspricht weitestgehend dem in der Linguistik verbreiteten Topos-Begriff (Wengeler 2003).

Grundlegend für das allgemeine Verständnis eines Topos im hier vertretenen Sinne sind zwei Begriffe der antiken Argumentationstheorie:

  1. 1.

    Argumentieren in alltagssprachlichen oder in öffentlichen Diskursen beruht, wie bereits angedeutet, auf bloß wahrscheinlichen Prämissen, »die nicht als wahre oder sogar evidente Prinzipien qualifiziert sind« (Rapp/Wagner 2004, S. 18). Diese wahrscheinlichen Prämissen speisen sich aus kollektiv anerkannten Meinungen, die Aristoteles Endoxa nennt. Insofern die Endoxa kollektiv anerkannt sind, können sie als verstehensrelevanter Hintergrund vorausgesetzt werden, der Adressat fügt sie von selbst hinzu, was bedeutet, dass ein Sprecher im Diskurs zum Zweck der Argumentation »ohne weitere Vorverständigung« (Ptassek 1994, S. 1134) an sie anschließen kann. (Vgl. Aristoteles 1999: Rhet. 1357a 13) Endoxa stellen nach Aristoteles (vgl. 1999 Rhet. 1357a 13) die überzeugungskräftigsten Prämissen der Argumentation in praktischen Lebenszusammenhängen bereit. Dieses unhinterfragte und als selbstverständlich unterstellte gesellschaftliche Wissen freizulegen, indem untersucht wird, welche kollektiven Wissenssegmente wie von verschiedenen Akteuren als Ressourcen genutzt werden, um plausible Argumentationen zu bilden, ist zentrales Erkenntnisziel der Analyse von Topoi.

  2. 2.

    Hinsichtlich der auf ein öffentliches Publikum und die öffentliche Meinungsbildung ausgerichteten Argumentation sei das »bedeutendste Überzeugungsmittel« (Aristoteles 1999: Rhet. 1355a 11) das Enthymem. Darunter lassen sich spezifische, auf einen inhaltlich bestimmten Problembereich bezogene Schlussverfahren verstehen. Nach Spitzmüller (2005, S. 280) ist die Gültigkeit von Enthymemen folglich »im Diskurs verankert […]« und nicht wie beim klassischen wissenschaftlichen Syllogismus absolut. Wie für Argumentieren in alltagssprachlichen oder öffentlichen Diskursen typisch gilt auch für das Enthymem, dass seine Prämissen »nur wahrscheinlich sind« und außerdem, »daß sie teilweise implizit bleiben und schließlich, daß die Struktur nicht immer die eines logisch gültigen Schlusses ist« (Kienpointner 1992, S. 891). Es handelt sich also nicht um formallogisch gültige und aus den Prämissen notwendige Schlüsse, sondern um »quasi-logische oder alltagslogische Schlussverfahren, die auf […] Plausibilitäten zielen« (Wengeler 2003, S. 178).

Zusammenfassend gesagt lässt sich der hier verwendete allgemeine Topos-Begriff wie folgt umreißen: Ein Topos ist ein auf einen bestimmten Gegenstand oder Diskurs bezogenes gesellschaftliches Denkprinzip (im Sinne eines Enthymems), nach dem Argumentationen gebildet werden (können), deren Schlüssigkeit oder Konklusion aus Prämissen folgt, die anerkannte Meinungen (im Sinne der Endoxa) sind. Topoi schöpfen demnach aus habituellen Denkweisen und vorherrschenden kollektiven Überzeugungen. Auf dieser Eigenschaft beruht ihr Plausibilitätspotenzial.Footnote 6

4 Inhaltsbezogene und strukturbezogene Toposanalyse

Im Rahmen polito- und diskurslinguistisch orientierter Arbeiten wurde der Topos-Begriff der antiken Rhetorik unterschiedlich rezipiert. Demnach lassen sich zwei toposanalytische Forschungsperspektiven unterscheiden: eine inhaltsbezogene und eine strukturbezogene. Die inhaltsbezogene Toposanalyse (vgl. Wengeler 2003) fragt nach den typischen Argumentationsmustern innerhalb thematisch und zeitlich begrenzter Diskurse. Unter einem Topos versteht Wengeler (2007, S. 166) einen »Argumentationstopos«, wie ihn Aristoteles in den Schriften zur Topik und Rhetorik einführt. Dabei macht er sich die Vagheit des Topos-Begriffs insofern zunutze, als ein Topos bei ihm kategorial zwischen inhaltlich unbestimmter formaler und inhaltlich bestimmter materialer Topik oszilliert. In diesem Sinne fasst Wengeler Topoi als Schlussregeln auf, die einerseits auf allgemein-formalen Schlussmustern beruhen und andererseits an diskursspezifische Wissenssegmente anknüpfen. Die Rede ist von kontextspezifischen Topoi, die für einen Themenbereich im öffentlich-politischen Diskurs signifikant sind und mit denen innerhalb dieses Bereichs plausible Argumentationen realisiert werden. (Vgl. Wengeler 2007, S. 169) Deren Analyse soll »Erkenntnisse über das Denken, (Fühlen) und Wollen historischer Subjekte und Gruppen und somit über das soziale Wissen, die Konstruktion bzw. Konstitution sozialer Wirklichkeiten durch Sprache liefern und somit auch Mentalitäts‑, Wissens- und Bewusstseinsgeschichte sein.« (Wengeler 2003, S. 170 f.)

Ebenfalls im Anschluss an den Topos-Begriff der antiken Rhetorik entfaltet Klein (1995, 2000 u.a.) die Idee einer Konstellation abstrakter, themenunabhängiger, epochenübergreifender Basistopoi, die für politische Kommunikation bzw. für die Rechtfertigung politischen Handelns charakteristisch seien (vgl. Klein 2011a, S. 291). Dieser Ansatz unterscheidet sich vom Ansatz Wengelers zum einen dadurch, dass Topoi, wie gesagt, als abstrakte, inhaltlich relativ unspezifische Kategorien modelliert werden und zum anderen durch die Annahme, dass sie stets in ein strukturbildendes Geflecht aus anderen Topoi eingebunden sind. Prototypisch für dieses »komplexe topische Muster« (Klein 2000) sind folgende Bestandteile:

  1. 1.

    Ein Datentopos, d.h. Begründung durch Schilderung einer Ausgangssituation/durch Situationsdaten.

  2. 2.

    Ein Motivationstopos/Valuationstopos, d.h. Begründung durch (Handlungsbereitschaft auslösende) Situationsbewertung.

  3. 3.

    Ein Finaltopos, d.h. Begründung durch Ziele/Zwecke.

  4. 4.

    Ein Prinzipientopos, d.h. Begründung durch Normen und Werte, die der Situationsbewertung und den Argumentationszielen zugrunde liegen.

Diese grundlegenden Topoi bilden nach Klein (2011a, S. 291) das »Grundmuster politischer Argumentation« und seien unverzichtbar für die Rechtfertigung politischer Vorhaben. Aus deren Vernetzung im sprachlichen Handeln soll sich »die Zustimmung zum favorisierten politischen Handeln als Schlussfolgerung ergeben« (Klein 2011b, S. 7). Die Toposkonstellation ist in ihrer Abfolge nicht festgelegt, das Muster kann unvollständig bleiben und es kann – beispielsweise je nach Textsorte – durch weitere Topoi ergänzt werden (vgl. Klein 2019, S. 130 und 134–135).

Im Rahmen einer diskursgeschichtlichen, argumentationsanalytischen Untersuchung des ökonomischen Krisendiskurses in der BRD führt Römer (2017) den Ansatz der Analyse kontextspezifischer Topoi mit der Analyse kontextunabhängiger topischer Muster zusammen. Dabei fungieren die kontextunabhängigen Topoi als Basistopoi, die mit kontextspezifischen Topoi gefüllt werden. Zusammen bilden sie eine »topologische Diskursformation« (Römer 2017, S. 123).

Dadurch kann eine stärkere Konvergenz zu Foucaults theoretischer Bestimmung von Diskursen als Formationssystem von Aussagen und zur Wissens-Archäologie erreicht werden. Die diskursstrukturbezogene Analyse von Topoi gibt Aufschluss über das Organisiert-Sein von Argumentationsmustern und damit über wichtige Eigenschaften des Diskurses nach Foucault im Sinne eines Formationssystems von Aussagen. Die diskursinhaltsbezogene Analyse gibt Aufschluss über das gesellschaftliche Denken und Wissen in einem thematisch bestimmten Diskurs. Indem sie aufdeckt, was Diskursakteure als gültiges Wissen und gültige Fassung der Wirklichkeit anerkennen und nach welchen Prinzipien sie es in der diskursiven Praxis oder im sprachlichen Handeln produktiv einsetzen, um Argumentationsziele zu verwirklichen, leistet die inhaltsbezogene Toposanalyse also einen Beitrag zur Wissens-Archäologie im Foucault’schen Sinne.

Beim Vergleich der topologischen Diskursformationen verschiedener Wirtschaftskrisen können bei gleichbleibender abstrakter Toposkonstellation aus Datentopos, Ursachentopos, Topos der Maxime und Finaltopos historische Kontinuitäten und Wandlungen in den jeweiligen kontextspezifischen Topoi festgestellt werden. So etwa, dass im Rahmen von Begründungen der sogenannten Agenda 2010 im Jahr 2003 unter den Finaltopoi keine Ziele als Prämissen der Argumentationen angeführt wurden, die kapitalismuskritische Implikationen enthalten. Im Diskurs zur Banken- und Finanzkrise 2008 war es hingegen im Rahmen der Begründung politischer Maßnahmen ein vorrangiges Ziel, dem Finanzmarktkapitalismus entgegenzuwirken.

Bevor nun anhand eines empirischen Beispiels der Frage nachgegangen wird, ob sich für Verschwörungstheorien eine topologische Diskursformation ausmachen lässt und welche kontextspezifischen Topoi in verschwörungstheoretischen Erzählungen verwendet werden, muss noch der Begriff ›Verschwörungstheorie‹ geklärt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Begründung von Verschwörungstheorien als spezifische Form der Erzählung.

5 Verschwörungstheorien

5.1 Wissenssoziologische Definition

VerschwörungstheorienFootnote 7 sind fester Bestandteil der modernen Mediengesellschaft. So werden zahlreiche Ereignisse – etwa Migration (vgl. Römer/Stumpf 2019) oder die Corona-Pandemie (vgl. Römer/Stumpf 2020a, 2020b) – verschwörungstheoretisch uminterpretiert. Vor allem das »Internet [hat] großen Einfluss auf die Zirkulation und die Wirkung von Verschwörungstheorien« (Butter 2018, S. 180). Durch das Web 2.0 sind Verschwörungstheorien sichtbarer als früher, jederzeit für jede*n leicht zugänglich und somit ständig verfügbar. Augenscheinlich im Zusammenhang mit dem allgemeinen Verlust an Vertrauen in die staatliche Handlungsfähigkeit und der zunehmenden Skepsis einiger Gesellschaftsgruppen gegenüber dem politisch-sozialen System, den etablierten politischen Parteien und ihren Vertreter*innen sowie den traditionellen Medien finden Verschwörungstheorien gegenwärtig Zustimmung (vgl. Bartoschek 2017).Footnote 8

Anlässlich der gegenwärtigen Corona-Krise und der Verbreitung von Wissenschaftsfeindlichkeit in diesem Zusammenhang forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst in einer Rede vor dem Bundestag Forschung zur Frage, wie man in eine Welt gerate, »die sozusagen eine andere Sprache spricht und die wir mit unserer faktenbasierten Sprache gar nicht erreichen können«.Footnote 9 Verschwörungstheorien sind bereits seit Mitte der 1990er Jahre – vereinzelt auch schon früher – Gegenstand geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung in Deutschland.Footnote 10 Die wissenschaftliche Leitperspektive der frühen Beschäftigung mit Verschwörungstheorien ist essenzialistisch geprägt. Verschwörungstheoretisches Wissen sei illegitim, würde auf unwahren Behauptungen beruhen und im Sinne einer kognitiven Defizitthese sei der Besitz solchen Wissens sowie der Glaube an dessen Gültigkeit Symptom psychischer Erkrankungen (Wahnhaftigkeit, Paranoia). Entsprechende Forschungen konzentrieren sich sodann darauf, die Falschheit und geistige Minderwertigkeit von Verschwörungstheorien respektive Verschwörungstheoretiker*innen nachzuweisen. (Vgl. Anton/Schetsche/Walter 2014, S. 10–11) Eine solche Perspektive liegt in der aktuellen Forschungsdiskussion um Verschwörungstheorien dem Ansatz Butters zugrunde, wenn er sagt, dass diese »falsch sind« und »ins Reich der Fantasie gehören« (Butter 2018, S. 39). Bewertungen dieser Art, die jeder sich als deskriptiv verstehende Linguist wohl hinterfragen müsste, können nur auf Grundlage des eigenen, als richtig unterstellten Weltbildes erfolgen. Was davon abweicht, wird als falsch klassifiziert.

Neuere konstruktivistische Verständnisse lehnen die Festlegung des Wahrheitsgehalts von Verschwörungstheorien ab. Insbesondere im Rahmen wissenssoziologischer Arbeiten wird davon ausgegangen, dass Verschwörungstheorien kollektive Wissenssysteme (über Verschwörungen) seien,

in deren Zentrum Erklärungs- oder Deutungsmodelle stehen, welche aktuelle oder historische Ereignisse, kollektive Erfahrungen oder die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt als die Folge einer Verschwörung interpretieren. Als gesellschaftlich konstruierte Wissensbestände […] erfüllen Verschwörungstheorien die Funktion, menschliches Erleben und Handeln mit Sinn zu versehen. (Anton 2011, S. 119)

Dabei sei Wissen »sozial determiniert« (Anton 2011, S. 27). Es umfasse schließlich alles, was als wirklich gedacht wird und müsse in all seinen Erscheinungsformen – »ohne Ansehen seiner Gültigkeit oder Ungültigkeit« (Berger/Luckmann 2010, S. 3) – untersucht werden (vgl. Anton 2011, S. 27).

Die Sprachwissenschaft kann unmittelbar an den wissenssoziologischen Begriff ›Verschwörungstheorie‹ anschließen. Demnach geht es auch bei der linguistischen Analyse von Verschwörungstheorien nicht um den Nachweis ihrer »Falschheit«. Entscheidend ist, dass Verschwörungstheorien für wahr gehalten werden. Insofern geht es darum, die sprachliche Glaubhaftmachung verschwörungstheoretischen Wissens verständlich zu machen.

5.2 Verschwörungstheorien als Erzählungen

Verschwörungstheorien entstehen mitunter als Reaktion auf Ungewissheiten oder Unsicherheiten. Sie deuten – oft nur schwer erklärbare, krisenhafte – Ereignisse oder Prozesse, die sich nicht oder nicht gut in vorherrschende Deutungsmuster einbetten lassen, geben ihnen damit Sinn und integrieren sie so besser in bestehende Wissenshorizonte (dies gilt natürlich nur für diejenigen, die für verschwörungstheoretische Erklärungen empfänglich sind). Wie in Abschnitt zwei angemerkt, ist Verstehbarmachung ein zentrales Merkmal von Erzählungen. Daher ist es nicht überraschend, dass Verschwörungstheorien grundsätzlich narrativ strukturiert sind.

Wie ebenfalls erwähnt, machen Erzählungen die Welt verstehbar, indem sie selegieren, sequenzieren und dabei Erlebtes, Geschehnisse, Zustandsveränderungen im Zeitverlauf darstellen. Verschwörungstheoretische Erzählungen erkennen wir daran, dass sie »eine Zustandsveränderung zum Schlechten hin« (Seidler 2016) schildern und diese als Folge heimlichen Handelns einer Gruppe von Personen erklären und begründen (vgl. Bartoscheck 2017, S. 22). Empirische Studien (siehe Anm. 2) haben gezeigt, dass dabei die Hypothese wichtig ist, die Verschwörer*innen würden einen Plan verfolgen, um eigennützige Ziele zu erreichen (gemäß der für Verschwörungstheorien typischen Frage cui bono). Dieses angeblich durchdachte Vorhaben, die Verschwörung eben, macht die Verschwörungstheorie sichtbar.

Auch nach Seidler (2016), der Verschwörungstheorien grundlegend als Erzählungen definiert, sind Verschwörungstheorien narrativ, weil sie

niemals bloß behaupten, dass eine Verschwörung existiert, sondern immer eine Zustandsveränderung thematisieren (beispielsweise Revolutionen, Kriege, Terror, Wirtschaftskrisen), die sie anhand konspirativer Handlungsabläufe erklären. Diese Handlungsabläufe ereignen sich jedoch prinzipiell im Verborgenen und müssen durch die Erzählinstanz ›sichtbar‹ gemacht werden. (Seidler 2016, S. 34)

Charakteristisch für verschwörungstheoretische Erzählungen ist außerdem, dass sie sich aus zwei Plots zusammensetzen, »die sich antagonistisch gegenüberstehen« (Seidler 2016, S. 35; vgl. auch Kelman 2012, S. 18). Der sichtbare Plot entspricht der offiziellen Version eines Geschehens. Der unsichtbare Plot entspricht dem verschwörungstheoretischen Handlungsablauf. Letzterer verweist auf den sichtbaren Plot und erzählt ihn unter Annahme einer Verschwörung neu. Der sichtbare Plot und der unsichtbarere Plot werden so aufeinander bezogen, dass sich eine scheinbar logische Erzählung ergibt. Seidler beschreibt das Verhältnis zwischen den beiden Plots als Relation zwischen Texten:

Das Verhältnis der zwei Plots zeigt sich […] als ein Verhältnis der Intertextualität, da der verschwörungstheoretische Text stets auf eine Ereignisdarstellung verweist, die außerhalb des eigenen Texts liegt und die typischerweise im Rahmen massenmedialer Berichterstattung verortet ist. Dieser externe Text fungiert hier als visible plot, während die Verschwörungstheorie lediglich den invisible plot beziehungsweise die ›geheime Wahrheit‹ als zweiten Plot hinzufügt. (Seidler 2016, S. 36)

Das heißt, verschwörungstheoretische Erzählungen weichen nie vollständig vom sichtbaren Plot ab; es handelt sich um Gegenerzählungen, die stets an bestehende »Geschichten« anknüpfen und sich an diesen bedienen. Dabei deckt der unsichtbare Plot »Defekte« im sichtbaren Plot auf und deutet ihn im Sinne der Verschwörungstheorie um (vgl. Kelman 2012, S. 6).

Im Anschluss an Goffman (1989) versteht Seidler diesen zentralen Aspekt verschwörungstheoretischen Erzählens als Framing, d.h. einem gegebenen Sachverhalt wird kommunikativ durch Neuorganisation der »Fakten« ein bestimmter Sinn gegeben: »Der ›invisible plot‹ entsteht vor allem dadurch, dass der externe ›visible plot‹ insgesamt in den Rahmen ›Verschwörung‹ gesetzt wird und dann je einzelne Elemente im Sinne dieser Rahmung Bedeutung erhalten.« (Seidler 2016, S. 37)

Das Aufdecken von Ungereimtheiten im sichtbaren Plot wird auch als »Rahmenangriff« (Seidler 2016, S. 41) konzipiert. Die verschwörungstheoretische Erzählung greift den Rahmen oder das Interpretationsschema des sichtbaren Plots an und setzt den Rahmen ›Verschwörung‹ an seine Stelle. Jeder Vorgang kann auf diese Weise zum Gegenstand einer Verschwörungstheorie werden. Wissenschaftliche und mediale Erklärungen beispielsweise werden dabei häufig nicht anerkannt.

Herauszuarbeiten mit welchen sprachlichen Mitteln der »Rahmenangriff« erfolgt und wie verschwörungstheoretisches Wissen legitimiert wird, ist Ziel der linguistischen Analyse von Verschwörungstheorien. Neben diversen sprachlichen Mitteln, die wir an anderer Stelle untersucht haben (vgl. Anm. 2), kommen dabei Argumentationen zum Einsatz, insofern gemäß der Plotstruktur Geltungsansprüche einerseits infrage gestellt werden und andererseits erhoben werden. Indem verschwörungstheoretische Erzählungen Informationen so selegieren und sequenzieren, dass sie fragliches Wissen, nämlich den strittigen Zusammenhang einer Verschwörung, als Konklusion zu begründen versuchen, sind sie nicht nur narrativ, sondern auch argumentativ aufgebaut. Dies soll im letzten Abschnitt des Beitrags veranschaulicht werden.

6 Beispielanalyse

6.1 Bill und Melinda Gates und die Corona-Krise

Insbesondere in »Alternativmedien« im Internet, die sich als unabhängig verstehen und sich gegen den politisch gelenkten »Mainstream« – die Elite – in Stellung bringen, finden sich zahlreiche konspirative Gegenerzählungen zu den Ursachen, Hintergründen, Folgen usw. der Corona-Pandemie.

So veröffentlichte am 3. Mai 2020 der ehemalige Radiomoderator Ken Jebsen auf seinem inzwischen gesperrten YouTube-Kanal KenFmFootnote 11 ein ca. 30-minütiges Video mit dem Titel »Gates kapert Deutschland!«.Footnote 12 Bis Ende August wurde das Video weit über drei Millionen Mal aufgerufen.Footnote 13 Die populäre verschwörungstheoretische Erzählung, welche Jebsen in dem Video bedient, lässt sich wie folgt paraphrasieren:

Hinter der Corona-Pandemie, die als relativ harmlose Grippe (00:12:44–00:12:46)Footnote 14 bezeichnet wird, stecke das US-amerikanische Milliardärs-Ehepaar Bill und Melinda Gates. Mittels finanzieller Einflussnahme auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und gezielter Investitionen würden sie den Plan (00:06:30) verfolgen, eine Impfpflicht über die Hintertür (00:06:36–00:06:39) einzuführen, um daran zu verdienen. Die Bundesregierung würde diese Pläne durch entsprechende Maßnahmen politisch umsetzen. Außerdem würde durch die Impfung und die Ausstellung eines Impfpasses Menschen eine digitale Identität (00:25:05–00:25:09) zugewiesen werden, die über eine cloud von privaten Konzernen (00:15:57–00:16:00) laufe, wodurch das Ehepaar Gates die totale Kontrolle (00:15:50–00:15:54) über alle Menschen erlangen könne. Schließlich prophezeit Jebsen eine digitale Diktatur (00:16:08–00:16:13). Mit Verweis auf Artikel 20 des Grundgesetzes der BRD müsse die Bevölkerung sich dem entgegenstellen (00:16:16–00:16:17).

Neben dem Ehepaar Gates werden mit der amerikanischen Elite (00:02:17–00:02:20) und der Pharmaindustrie (00:15:04–00:15:07) zwei weitere Verschwörerinnen genannt, denen Jebsen in populistischer Manier wir, die 83 Millionen Bürger (00:18:44–00:18:48) gegenüberstellt. Und auch die Politik, die Medien und die Wissenschaft (namentlich der Virologe Christian Drosten) seien Teil der Verschwörung.

Insgesamt weisen die Äußerungen in dem Video alle Merkmale einer verschwörungstheoretischen Erzählung auf: Sie deuten die Corona-Krise als Resultat einer Verschwörung und geben ihr so einen spezifischen Sinn, machen sie auf eine bestimmte Weise verstehbar. Dabei werden aus den möglichen Erklärungen im Sinne der Verschwörungstheorie bestimmte ausgewählt, z.B. dass die Gates hinter der Corona-Krise stecken würden und – gemäß der Frage cui bono – im Verborgenen eigennützige Ziele verfolgen würden. Dies deckt die Verschwörungstheorie auf. Es wird also nicht einfach nur behauptet, dass eine Verschwörung existiert, sondern die Corona-Krise wird anhand ebendieser konspirativen Handlungen, die dem unsichtbaren Plot entsprechen, erklärt.

6.2 Analyse der argumentativen Topoi

Der verschwörungstheoretischen Erzählung liegt eine bestimmte topologische Diskursformation zugrunde, welche die Verschwörungstheorie erst als kohärent und plausibel strukturiert. Sie besteht im Kern aus drei Typen von Gründen oder abstrakten Basistopoi, die sprachlich je verschieden durch kontextspezifische Topoi gefüllt werden: dem Datentopos, dem Ursachentopos und dem Topos der Maxime.Footnote 15

  1. 1.

    Innerhalb der narrativen und argumentativen Gesamtstruktur fungiert als oberste Prämisse der Datentopos. Er beschreibt die Ausgangslage, in der wir uns Ende 2020 befinden würden. Kontextspezifisch kann er als Gefahrentopos gefasst werden: Wegen der Corona-Krise bzw. wegen der politischen Maßnahmen zur Bewältigung der Krise seien Deutschland und das Grundgesetz massiv in Gefahr (00:00:52–00:00:56). Wir würden uns in einem unrechtmäßigen, illegitimen Zustand befinden (vgl. 00:18:19–00:18:36).

  2. 2.

    Als weitere Prämisse fungiert der Ursachentopos. Er benennt ausgehend von der Situationsbeschreibung die Ursachen der Krise und erklärt, wer durch welches Verhalten Schuld an ihr hat. Das heißt, er kennzeichnet nach dem Grundsatz des cui bono die Verschwörer*innen: Die Einschränkungen seien von Bill und Melinda Gates initiiert, aus Gründen des Profits (das bestimmt aktuell bill and melinda gates foundation (00:01:47–00:01:52); die bill and melinda gates foundation finanziert die weltgesundheitsorganisation zu über 80% und bestimmt dort ganz knallhart was gesundheit ist (00:02:39–00:02:48); sie [die Gates] haben sich auch bei unserer bundesregierung miteingekauft sie finanzieren herrn drosten mit sie finanzieren auch die die das robert-koch-institut finanzieren mit sie haben auch medien gekauft (00:03:02–00:03:13)). Kontextspezifisch könnte er als Elitentopos gefasst werden: Weil bestimmte Eliten profitieren, sind sie ursächlich verantwortlich für die Krise.

  3. 3.

    Schließlich fungiert der Topos der Maxime als Prämisse. Damit sind Äußerungen gemeint, die die Notwendigkeit bestimmter Handlungen auf Basis gesellschaftlicher und politischer Leitbilder, Prinzipien, Normen und Werte begründen. Kontextspezifisch kann er als Grundrechtetopos definiert werden: In seinem Video beruft sich Jebsen mehrfach auf das Widerstandsrecht in Artikel 20 des Grundgesetzes (ich rufe sie dazu auf sich an den artikel 20 des grundgesetzes zu erinnern (00:16:17–00:16:23); ich möchte den beamten folgendes sagen artikel 20 richtet sich auch an sie (00:18:18–00:18:23)).

Diese drei Topoi bilden ein topisches Muster, eine relativ stabile Sequenz, die in ihrer Abfolge nicht festgelegt ist. Vielmehr werden sie zu verschiedenen Zeitpunkten des Videos immer wieder aufgegriffen und unterschiedlich gefüllt, um eine Verschwörung quasi-logisch zu plausibilisieren. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Topoi die Notwendigkeit zu bestimmten Handlungen, insbesondere legen sie die Schlussfolgerung nahe, Gegenwehr zu leisten, was Jebsen auch verbalisiert. Hierzu zwei Beispiele:

  • deswegen möchte ich an dieser stelle die deutsche bevölkerung explizit dazu aufrufen sich dem entgegenzustellen (00:16:13–00:16:20).

  • du musst deinen arsch auf die straße bringen (00:28:23–00:28:25).

Die Konklusion, die mit der Verschwörungstheorie bzw. mit der topischen Struktur derselben aus Datentopos, Topos der Ursache und Topos der Maxime einhergeht und sich in den Belegen ausdrückt, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir brauchen eine neue Regierung (weil Deutschland und das Grundgesetz beschützt werden müssen/weil wir fremdbestimmt sind). Wie radikal Jebsen argumentiert, zeigt sich etwa, wenn er mit Berufung auf das Grundgesetz der Staatsgewalt ihre Legitimität abspricht: und wenn die polizei sagt, das ist verboten, dann musst du einfach sagen, das interessiert mich einen dreck, weil das gesetz, was die polizei im moment durchzusetzen versucht, widerspricht diesem gesetz es ist illegal es ist nicht legal und eine solche regierung kann abdanken (00:28:25–00:28:40).

Rhetorisch-stilistisch auffällig ist, dass einzelne Topoi insbesondere durch das Mittel der Aufzählung oder Enumeration realisiert werden, so beispielsweise der für die Begründung der Verschwörungstheorie bzw. des unsichtbaren Plots zentrale Ursachentopos. Das Aufgezählte ist häufig anaphorisch verbunden bzw. die Sätze fangen immer gleich an. Die musterhaften Aneinanderreihungen stellen einen katalogartigen Zusammenhang bzw. eine quasi-logische Beziehung zwischen bestimmten Ereignissen oder Personen her. In seiner kontextspezifischen Fassung wird der Topos in zwei verschiedenen Varianten realisiert:

  1. 1.

    Jebsen weist darauf hin, worüber das Ehepaar Gates, also die Verschwörer, alles bestimmen. Das Argumentationsmuster in dieser Variante wird nach folgendem Schema gebildet: Ob (Sie) X, das bestimmen nicht Sie, das bestimmt aktuell die Bill and Melinda Gates Foundation. In die X‑Stelle treten u. A.: ihre kinder […] von ihnen besucht werden können (00:01:16–00:01:24); ihre kinder in die schule gehen können (00:01:24–00:01:27); ihren beruf ausüben können (00:01:27–00:01:29); sich einem anderen menschen im öffentlichen raum mehr als 1,50 Meter nähern können (00:01:29–00:01:33); eine maske tragen (00:01:33–00:01:35); dieses land noch weiter im lockdown ist (00:01:35–00:01:38); in den urlaub fliegen können (00:01:38–00:01:40); urlaub machen können auch mit dem auto in österreich (00:01:40–00:01:43).

  2. 2.

    Jebsen zählt auf, wen die Gates alles gekauft haben. Das Argumentationsmuster in dieser Variante wird folgendermaßen gebildet: Das Ehepaar Gates kauft/finanziert X. In die X‑Stelle treten u. A.: weltgesundheitsorganisation (00:02:37; 00:02:55; 00:09:39; 00:19:36), bundesregierung (00:03:02), herr drosten (00:03:05), das robert koch-institut (00:03:11), medien (00:03:13), spiegel (00:03:14), die zeit (00:03:15), johns hopkins university (00:03:20).

Mit seiner Verschwörungstheorie adressiert Jebsen u.a. die medizinkritische, wissenschaftsleugnende »Querdenken-Bewegung«. Im Zusammenhang der Adressierung besteht eine weitere Auffälligkeit darin, dass im Rahmen von Analogietopoi bzw. Geschichtsvergleichen, die die zentrale Konklusion der verschwörungstheoretischen Erzählung, Widerstand zu leisten, stützen, zahlreiche Parallelen zwischen der Corona-Pandemie, der DDR und dem Nationalsozialismus gezogen werden. Was sich zurzeit in Deutschland ereignet, sei höchst gefährlich […] für dieses land (00:01:02–00:01:06). Man könne die Zahlen 33, 89 und 20, also 2020, durchaus in einem Satz nennen (00:01:08–00:01:09). Am häufigsten lassen sich allerdings DDR-Vergleiche finden:

  • warum wir haben in deutschland dieses große problem dass wenn etwas gesetz ist wir das schon zweimal durchgezogen haben es gab für all diese es gab für auschwitz gab es gesetze und gab für die schießbefehle und das was wir uns in der ddr gegenseitig angetan haben gab es immer auch gesetzesvorlagen und wir sind dem immer mitgegangen und wir sollten jetzt beim dritten mal dem nicht mitgehen denn das führt uns total in die versklavung (00:22:12–00:22:34).

  • das ist genau wie damals 89 als mielke, egon krenz und erich honecker gesagt haben, es muss immer so weitergehen und die bürger haben sich darüber hinweggesetzt und sind haben die mauer niedergerissen das war auch illegal dafür gab es kein gesetz aber das ist der einzige weg in die freiheit (00:28:40–00:28:52).

  • und da waren es auch volkspolizisten die auch von ganz oben gesagt bekommen haben schießt doch vielleicht auf die leute oder geht mit panzern dagegen vor und das haben sie nicht gemacht und deswegen leben wir heute in einem vereinigten deutschland (00:18:56–00:19:05).

Die revolutionäre und aggressive Widerstandsrhetorik sowie die Gleichsetzung von Demokratie und DDR-Diktatur sind ein typisches Phänomen (neu-) rechter Diskurse im »alternativmedialen« Kontext. Die Rede von einer illegitimen Regierung, davon, dass unsere Regierung lüge, dass wir in einer DDR 2.0 leben würden, dass wir eine neue Wende bräuchten usw. ist neben der argumentativen Einbettung in Aufforderungen zum Widerstand als eine Form narrativen Identitätsmanagements zu verstehen. Damit ist gemeint, dass durch bestimmte Äußerungen Identität gezielt gebildet, kommuniziert und gestärkt wird. Konkret sollen sich Rechte angesprochen fühlen. Die Vergleiche sind aber willkürlich, es handelt sich um gezielte geschichtspolitische Verzerrungen, die argumentativ instrumentalisiert werden. Sie dienen letztlich der Legitimierung der eigenen antidemokratischen Ziele.

7 Schluss

Anhand des Beispiels konnte gezeigt werden, dass die verschwörungstheoretische Erzählung durch eine bestimmte topologische Struktur konstituiert ist, bestehend aus Datentopos, Topos der Ursache und Topos der Maxime. Diese strukturbildende Toposkonstellation ist auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau mit kontextspezifischen Topoi gefüllt, die sprachlich mittels bestimmter Erzählsegmente oder auch durch rhetorische Mittel wie das der Aufzählung realisiert werden. In weiteren Untersuchungen wäre zu prüfen, inwiefern eine übergreifende, für Verschwörungstheorien typische topologische Diskursformation angenommen werden kann und worin sich die kontextspezifischen Topoi unterscheiden.