Zusammenfassung
Dieser Beitrag gibt einen Einblick in das Kinderschutzsystem der Schweiz. Er beschreibt die bundesrechtlichen Grundlagen, Aufgaben und Rolle der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, sowie relevante Prozesse von der Meldung einer Gefährdung bis zur Entscheidung über Kinderschutzmaßnahmen. Der Artikel schließt mit der Erörterung aktueller Herausforderungen und Debatten.
Abstract
This article provides an overview of the Swiss child protection system. It describes its legal foundation in the federal civil law, the functions and role of child and adult protection authorities, and core processes from reporting to decision-making on child protection measures. The article concludes by addressing current challenges and debates.
Das politische System der Schweiz weist den 26 Kantonen hinsichtlich der Ausgestaltung der Bildungs‑, Gesundheits-, und Sozialsysteme weitreichende Kompetenzen und Aufgaben zu. Eine Folge davon ist eine vergleichsweise große Vielfalt an Organisationsmodellen. Dies gilt auch für die Kinder- und Jugendhilfe und den Kinderschutz. Bis 2012 lag die Zuständigkeit für Kinderschutzmaßnahmen (z. B. Inobhutnahmen) in weiten Teilen der Schweiz bei kommunalen Laienbehörden. Eine 2013 vollzogene Reform brachte die Einführung der neue Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB), die als „interdisziplinäre Fachbehörden“ konzipiert sind und damit die Professionalisierung der Entscheidungsinstanz im Kinderschutz.
Die Kompetenzen der KESB ähneln denen der Familiengerichte in Deutschland. Eine flächendeckende Versorgung mit „Jugendämtern“ oder äquivalenten Fachdienste kennt die Schweiz ebenso wenig wie ein national geltendes Gesetz, das Zugänge zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe regelt. Zehn Jahre nach der Reform zeigt sich, dass die Reform Verbesserungen gebracht hat, aber nach wie vor Entwicklungsbedarf besteht.
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf den zivilrechtlichen Kinderschutz in der Schweiz und damit auf jene Behörden, die autorisiert sind, Maßnahmen zum Schutz des Kindes auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten anzuordnen. Wir stellen den rechtlichen Rahmen vor, gehen auf Besonderheiten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ein und beschreiben typische Vorgehensweisen. Zum Schluss skizieren wir aktuelle Herausforderungen im Kinderschutz in der Schweiz.Footnote 1
Rechtlicher Rahmen
Die Institutionalisierung des Schweizer Kinderschutzsystems ist erheblich geprägt durch den dezentralen (Braun 2003) und kleinräumigen Föderalismus des politischen Systems der Schweiz. Die 26 Kantone besitzen weitreichende Kompetenzen. So darf der Bund gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5a BV) „nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen“ (Art. 43a BV) übernehmen. Entsprechend zeichnet sich Kinderschutz in der Schweiz nicht durch ein einheitliches System, sondern durch ein Patchwork von 26 kantonalen Varianten aus.
Grundsätzlich haben die Eltern das Kindeswohl zu wahren und die Verantwortung dafür zu tragen (Art. 301/302 ZGB). Ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ist bisher nicht explizit im Gesetz verankert. Die Schweizer Regierung wurde vom Parlament jedoch beauftragt, ein solches Recht zu verankern. Ein entsprechender Gesetzesentwurf befindet sich gegenwärtig (November 2023) in der vorparlamentarischen Beratung („Vernehmlassung“).
Ein staatlicher Eingriff in die elterliche Autonomie ist zivilrechtlich dann vorgesehen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht von sich aus Abhilfe schaffen oder dazu außerstande sind (Art. 307 Abs. 1 ZGB). Das Kindeswohl (und die Kindeswohlgefährdung) sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die im Zivilrecht nicht weiter konkretisiert werden; im Gesetz findet sich nur der Hinweis, dass sich Gefährdung auf die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität des Kindes beziehen kann (Art. 314c Abs. 1 ZGB). Nach gängiger Rechtslehre müssen diese Begriffe im konkreten Fall ausgelegt werden unter Berücksichtigung des (altersgemäßen) Kindeswillens, weiterer Rechtsnormen und des aktuellen human- und sozialwissenschaftlichen Wissens (Gautschi 2021). Eine Gefährdung kann auch dann vorliegen, wenn eine Schädigung des Kindeswohl noch nicht eingetreten, aber ernstlich vorauszusehen ist (Hegnauer 1999).
Liegt eine Kindeswohlgefährdung vor, muss die dafür zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde geeignete Maßnahmen zum Schutz des Kindes treffen. Dabei stehen der Behörde Maßnahmen mit unterschiedlicher Eingriffsintensität zur Verfügung. Zu den Maßnahmen zählen Ermahnungen, Weisungen (bspw. eine Erziehungsberatung in Anspruch zu nehmen), die Einrichtung einer Erziehungsaufsicht (Art. 307 Abs. 3 ZGB) oder einer Beistandschaft (Art. 308 ZGB). Eine Beistandschaft bedeutet, dass eine Person beauftragt wird, den Eltern „mit Rat und Tat“ zur Seite zu stehen; ein Beistand bzw. eine Beiständin kann auch punktuell Rechte und Interessen des Kindes vertreten; eine Beistandschaft kann auch mit einer konkreten Einschränkung der elterlichen Sorge verbunden werden. Die Aufhebung des elterlichen Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB) geht in der Regel mit einer außerfamiliären Unterbringung einher. Der stärkste Eingriff ist die Entziehung der elterlichen Sorge (Art. 311/312 ZGB). Die Behörde ist angehalten, freiwilligen Maßnahmen den Vorrang zu geben (Subsidiarität), die elterliche Sorge- und Erziehungstätigkeit durch geeignete Hilfearrangements zu ergänzen und nicht zu substituieren (Komplementarität), und nicht stärkere (aber auch nicht schwächere) Maßnahmen zu beschließen, als zur Abwendung der Gefährdung erforderlich sind (Verhältnismäßigkeit) (KOKES 2017).
Melderecht- und Meldepflichten
Grundsätzlich haben alle Personen das Recht eine Meldung an die KESB zu machen, falls das Kindeswohl bzw. die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes möglicherweise gefährdet ist (Art. 314c Abs. 1 ZGB). Dieses Recht kommt auch Personen mit einem Berufsgeheimnis zu, mit Ausnahme von Personen, die an ein strafrechtliches Berufsgeheimnis gebunden sind (Art. 314c Abs. 2 ZGB).
Eine Pflicht, Meldung an die KESB oder die Vorgesetzte zu machen, besteht für Fachkräfte, die berufliche regelmäßig Kontakt zu Kindern haben sowie Personen in amtlicher Tätigkeit, die eine Gefährdung der Integrität des Kindes vermuten, der sie im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht selbst begegnen können (Art. 314d ZGB).
Regionale Kindesschutzbehörden als zentrale Akteure im zivilrechtlichen Kinderschutz
Zentraler Akteur im zivilrechtlichen Kinderschutz sind die bereits erwähnten regionalen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB). Zu deren Aufgaben gehören unter anderem die Abklärung der Notwendigkeit von behördlichen Maßnahmen zum Schutz des Kindeswohls sowie die Anordnung, Anpassung oder Aufhebung solcher Maßnahmen.
Die aktuell 124 regionalen KESB haben im Jahr 2013 im Zuge der Revision des Erwachsenenschutzrechts insgesamt 1415 Vormundschaftsbehörden abgelöst. Die Revision verfolgte das Ziel einer Professionalisierung der Behörde, welche gerade in der deutschsprachigen Schweiz häufig auf kommunaler Ebene angesiedelte Laienbehörden waren. Bundesrechtlich ist lediglich vorgesehen, dass die Behörde aus mindestens drei Mitgliedern besteht und multiprofessionell zusammengesetzt sein muss. Darüber hinaus können die Kantone eigene Regelungen treffen. Die Einzugsgebiete der KESB unterscheiden sicher erheblich. Sie umfassen zwischen 6000 und 506.000 Einwohner_innen (KOKES 2023).
Die im zivilrechtlichen Kinderschutz für die Koordination zwischen den Kantonen zuständige Organisation hat die Empfehlung ausgesprochen, dass in den Entscheidungsgremien der KESB die Fachbereiche Recht, Sozialarbeit und Pädagogik/Psychologie vertreten sind (VBK 2008). Die einzige vorliegende Erhebung zur Zusammensetzung der Behörde zeigt, dass in den ersten beiden Jahren nach Einführung dieser Behörde zu diesem Zeitpunkt fast alle Behörden über mindestens drei Mitglieder mit Qualifikationen in Recht und Sozialer Arbeit verfügten (Rieder et al. 2016). Bezüglich der Positionierung der Professionen hat eine qualitativ-explorative Studie keine Schärfung eines fachlich-inhaltlichen Zuständigkeitsbereichs Sozialer Arbeit innerhalb dieser multi-professionellen Entscheidungsgremien („Spruchkörper“) feststellen können (Emprechtinger und Thönnissen Chase 2022). Vielmehr sehen sich die Mitglieder der multiprofessionellen Behörde vor der Herausforderung, sich Wissen und Fähigkeiten der jeweils anderen Professionen anzueignen, wodurch sich ein Profil von Kindes- und Erwachsenenschutzgeneralist_innen herausbilde.
Von der Meldung bis zur Kinderschutzmaßnahme
Meldungen der potenziellen Gefährdung eines Kindes erfolgen überwiegend von beruflichen Akteuren. Der größte Anteil der Meldungen geht zurück auf den Strafrechts- (ca. 30 %) und den Gesundheitsbereich (ca. 26 %), gefolgt vom Sozialbereich (ca. 18 %) (Jud et al. 2021). Obschon Schulen am häufigsten im beruflichen Kontakt mit schulpflichtigen Kindern sind, erfolgt durch sie nur ein geringer Teil der Meldungen (ca. neun Prozent). Ca. 13 % der Meldungen wird durch die Eltern selbst vorgenommen. Meldungen durch Verwandte (ca. drei Prozent) oder Selbstmeldungen durch Kinder (ein Prozent) sind hingegen sehr selten.
Erfährt die KESB von einer potenziellen Gefährdung, hat sie darüber zu entscheiden, ob sie eine Kindeswohlabklärung einleiten muss (Biesel et al. 2017). Ebenfalls eingeschätzt werden muss, ob aufgrund einer schwerwiegenden Gefährdung und unmittelbarem Schutzbedarf Soforthilfen notwendig sind. Eine Abklärung erfordert in der Regel eine Einschätzung über Vorliegen, Art, Schwere und Hintergründe der Kindeswohlgefährdung, verbunden mit einer Einschätzung der Notwendigkeit und Angemessenheit von Unterstützungsleistungen sowie der Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern, solche Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Der zuletzt genannte Einschätzungsgegenstand ist insofern bedeutsam, als die Bereitschaft der Eltern, Unterstützung bei der Abwendung der Gefährdung anzunehmen, ausschlaggebend ist für die Legitimität von Einschränkungen elterlicher Autonomie, die mit der Anordnung von Leistungen verbunden ist (Schnurr und Gautschi 2023).
Die betroffenen Personen müssen von der KESB persönlich angehört werden (Art. 447 ZGB). Auch Kinder müssen von der KESB oder einer Drittperson angehört werden, außer das Alter oder gute Gründe lassen dies nicht zu (Art. 314a ZGB). Basierend auf Selbsteinschätzungen von Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden wurden 64 % der Kinder, die in Kinderschutzverfahren involviert waren, angehört (Rieder et al. 2016). Eine Studie verweist darauf, dass trotz rechtlich korrekter Durchführung von Anhörungen, Eltern und Kinder häufig nicht ausreichend über ihre Rechte und die Abläufe des Verfahrens informiert sind (Schoch et al. 2020, 2023). Das Gesetz verpflichtet die KESB bei Fällen, in denen eine Fremdunterbringung verhandelt wird oder bei denen die Sorgeberechtigten in Bezug auf Fragen des persönlichen Kontakts mit dem Kind unterschiedliche Interessen zum Ausdruck bringen, das Einsetzen einer unabhängigen Vertretung des Kindes zu prüfen (Art. 314abis ZGB, Art. 299 ZPO). Dies wird jedoch insgesamt selten eingesetzt und die Anwendung dieses Gesetz variiert inter- und intrakantonal (Hitz Quenon und Matthey 2017; Weber Khan und Hotz 2019).
Basierend auf dem Abklärungsbericht, dem Bericht der Anhörung, weiteren Akten und ggf. spezifischen Gutachten entscheidet die KESB, ob zivilrechtliche Maßnahmen notwendig sind oder ob mit den Eltern Leistungen vereinbart werden können. Auf Basis von Studienergebnissen ist davon auszugehen, dass es nur in besonders herausfordernden Fällen zu einer ergebnisoffenen Diskussion im multi-professionellen Gremium kommt und häufig der Empfehlung des jeweils fallführenden Behördenmitglieds gefolgt wird. Im Gremium scheint zudem eher über rechtliche als über sozialarbeiterische Aspekte diskutiert zu werden (Emprechtinger und Thönnissen Chase 2022). Sind Eltern, das Kind oder eine nahestehende Person mit der Entscheidung nicht einverstanden, können sie Beschwerde bei der gerichtlichen Beschwerdeinstanz einlegen (Art. 450 ff. ZGB).
Zum Stichdatum 31. Dezember 2021 waren 2,9 % der Kinder der Wohnbevölkerung von einer Kinderschutzmaßnahme betroffen (KOKES 2022). Bei 0,4 % der Kinder bestand eine Weisung und bei 2,3 % der Kinder eine Beistandschaft. Bei 0,3 % der Kinder war eine Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrecht entschieden wordenFootnote 2 und lediglich bei 0,02 % der Kinder eine Entziehung der elterlichen Sorge. Zwischen den Kantonen gibt es erhebliche Unterschiede bezüglich des Anteils an den jeweiligen Kinderschutzmaßnahmen. Zur Frage, wie viele Kinder in der Schweiz außerfamiliär untergebracht sind, gibt es keine verlässlichen Zahlen.
Fachkräfte und Standards in Kindeswohlabklärungen
Die Verantwortung für die Durchführung von Gefährdungseinschätzungen im Rahmen von Kindesschutzverfahren (in der Schweiz meist als „Abklärung“ oder „Kindeswohlabklärung“ bezeichnet) liegt bei der KESB. Einige KESB haben eigene interne Dienste eingerichtet, die diese Abklärungen durchführen. Ein größerer Teil der Abklärungen im Kinderschutz wird jedoch an externe Dienste delegiert (Rieder et al. 2016). Dies können beispielsweise (kantonale oder regionale) Kinder- und Jugenddienste, regionale Sozialdienste (vergleichbar mit dem ASD) oder auch Anbieter Sozialpädagogischer Familienbegleitung sein. Zwischen der ersten Kontaktaufnahme mit der Familie durch die abklärende Fachkraft und der Weiterleitung des Berichts an die auftraggebende KESB liegen in der Regel fünf bis sechs Monate.Footnote 3 Es wird geschätzt, dass der kleinere Teil der Fachkräfte regelmäßig Abklärungen durchführt, während die Mehrheit der Fachkräfte weniger als einmal pro Monat mit einer Abklärung beginnt (Gautschi 2021). Anekdotisch ist bekannt, dass solche Abklärungen sowohl von Einzelpersonen, aber auch in „Tandems“ von zwei Fachkräften durchgeführt werden, wobei letztere teilweise unterschiedlichen Professionen angehören.
Auf Basis einer Stichprobe einer Studie zur Entscheidungsfindung in Abklärungen in der deutschsprachigen Schweiz lässt sich schließen, dass der überwiegende Teil der Abklärenden einen Abschluss in Sozialer Arbeit hat (Gautschi 2021). In der Stichprobe waren dies 83 %, gefolgt von Recht, Psychologie und einer pädagogischen Ausbildung mit jeweils 4 bis 5 %. Auffallend ist, dass von den Sozialarbeitenden lediglich 8 % der Fachkräfte über einen konsekutiven Master-Abschluss verfügten. Anders war dies insbesondere bei Psycholog_innen, von denen 96 % einen Abschluss auf Master-Stufe hatten. Die Fachhochschulen der Schweiz kennen nur generalistische Studiengänge in Sozialer Arbeit auf Bachelor- und Masterstufe, die in unterschiedlichen Zuschnitten Vertiefungen anbieten. Für Sozialarbeitende, die sich für spezifische Handlungsfelder oder Funktionsrollen qualifizieren möchten, bieten sie eine breite Palette von Weiterbildungen an. Die Fachhochschulen für Soziale Arbeit bieten Weiterbildungsstudiengänge zu Kinderschutzthemen im Umfang von 15 bis 60 ECTS an. Der Anteil an abklärenden Fachkräften ohne eine Weiterbildung zu Kinderschutzthemen dürfte erheblich sein. In der erwähnten Stichprobe hatte ein Drittel der Befragten keinen Weiterbildungsstudiengang von 14 oder mehr Tagen absolviert.
Wie in anderen Ländern gibt es belastbare Hinweise darauf, dass Fachpersonen in Abklärungen bei gleichen Fallsituationen zu unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich des Vorliegens einer Kindeswohlgefährdung und der Notwendigkeit von Maßnahmen kommen (Gautschi 2021). In der Fachdiskussion ist die Notwendigkeit strukturierter Risiko- und Bedarfseinschätzungen weithin anerkannt (z. B. Kindler 2006). Mit dem Berner und Luzernen Abklärungsinstrument (Hauri et al. 2021) und dem Prozessmanual für dialogisch-systematische Kindeswohlabklärung (Biesel et al. 2017) liegen inzwischen zwei forschungsbasierte, strukturierte Verfahren für Abklärungen im Kinderschutz vor, die in der Schweiz entwickelt wurden. Ob und wie diese angewendet werden, wird auf Ebene der Kindesschutzbehörden oder Fachdienstorganisationen entschieden. Es ist davon auszugehen, dass bisher nur ein kleinerer Anteil davon diese oder andere forschungsbasierte, strukturierte Verfahren (bspw. Ruckstuhl und Wagner 2021) einsetzt. Verbreiteter scheint die Anwendung von strukturierten Berichtsvorlagen sowie von Listen mit Risiko- und Schutzfaktoren.
Herausforderungen und Debatten
Abschließend skizzieren wir eine Auswahl von aktuellen Herausforderungen und Debatten im Schweizer Kinderschutz.
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Öffentliches Bild der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde: Mit der Reform des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts sah sich die neue Behörde mit teilweise heftiger Kritik in Medien, Politik und Öffentlichkeit konfrontiert. Politische Vorstöße, die Kompetenzen der KESB zu beschneiden sind jedoch gescheitert. Die interkantonale Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz konnte auf der Grundlage ihrer Entscheidungsstatistik aufzeigen, dass die Zahl angeordneter außerfamiliärer Unterbringungen nach Einführung der Kindesschutzbehörden nicht gestiegen ist. Sätze wie „da müssen wir die KESB einschalten“ dürfte aber dennoch in weiten Teilen der Bevölkerung Ängste oder wenigstens ein starkes Unbehagen auslösen.
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Zugang zu einvernehmlichen („freiwilligen“) Leistungen: Sowohl hinsichtlich des verfügbaren Angebots an Leistungen wie auch hinsichtlich des Zugangs (inkl. Finanzierung) zu diesen bestehen interkantonal wie auch intrakantonal erhebliche Unterschiede. Dies kann zur Folge haben, dass Familien in einigen Regionen eine zivilrechtliche Maßnahme in Kauf nehmen müssen, damit eine notwendige Unterstützungsleistung finanziert wird, während für Familien in anderen Regionen diese Unterstützungsleistung auch bei einvernehmlicher Inanspruchnahme finanziert wird.
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„Leaving Care“– Übergang ins Erwachsenenalter (siehe bspw. Labruyère 2023): Mit dem Erreichen des Erwachsenenalters endet nicht nur die Zuständigkeit der Kinderschutzbehörde für im Rahmen einer zivilrechtlichen Maßnahme außerfamiliär platzierter Kinder, vielerorts können Jugendliche dann nicht mehr in der Familie bzw. dem Heim wohnen bleiben aufgrund der endenden Finanzierung. Damit fallen für die Jugendlichen häufig auch wichtige formelle und informelle Unterstützungsangebote weg. In der Fachdiskussion ist dies weitgehend erkannt. Einige Kantone haben inzwischen rechtliche Möglichkeiten geschaffen, um Unterstützung (unter Konditionen) über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus zu gewähren. Die Lösungsansätze sind jedoch regional und leistungsbezogen unterschiedlich und oft nicht ausreichend bekannt.
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Wissenschaftlich gestützte Abklärungsverfahren, Fachwissen, Qualitätsstandards: Zwar bestehen wie oben genannt erste forschungsbasierte Verfahren für Abklärungen im Kinderschutz. Inwieweit deren Anwendung Entscheidungen der Kindesschutzbehörden beeinflusst und zu angemesseneren Entscheidungen führt, ist empirisch nicht geklärt. Zudem ist davon auszugehen, dass erst eine Minderheit an Kindesschutzbehörden (als Auftraggebende) und abklärenden Diensten (als Ausführende) sich an solchen Verfahren orientiert. Weiter ist davon auszugehen, dass Zugang und reflexive Verwendung von kinderschutzrelevantem Fachwissen zwischen den Fachkräften erheblich variiert. Eine Pflicht zur Weiterbildung zu kinderschutzrelevanten Bereichen besteht nicht. Bestrebungen zu einer Professionalisierung der im Kindesschutz handelnden Akteur_innen finden fast ausschliesslich im Modus von Empfehlungen statt („soft policy“). So wurden jüngst im Auftrag von Fachorganisationen „Transdisziplinäre Qualitätsstandards für den Kindesschutz“ erarbeitet (Leuthold et al. 2023). Wie sie in der Praxis aufgenommen und umgesetzt werden, bleibt abzuwarten.
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Mangel an Empirie und Kennzahlen: Aufgrund der föderalen Struktur sind für die gesamte Schweiz bis jetzt nur Daten zur Anzahl von Kinderschutzmaßnahmen zu einem Stichdatum, sowie Alter und Geschlecht der Kinder verfügbar. Nicht veröffentlicht sind bspw. Zahlen zu Gründen für die Maßnahme (bspw. Typ von Misshandlung oder Vernachlässigung) oder die Anzahl von Gefährdungsmeldungen. Schweizweite Zahlen zu nicht-zivilrechtlichen, also einvernehmlichen Unterstützungsleistungen der Kinder- und Jugendhilfe fehlen komplett. Nicht vorhanden ist außerdem eine schweizweite Statistik zu außerfamiliär untergebrachten Kindern, wobei die Schweizer Regierung statistische Grundlagen dafür schaffen will. Regelmäßig erhobene Zahlen, die Rückschlüsse auf die Verbreitung von Kindeswohlgefährdungen erlauben, sind ungenügend. Einzelne Statistiken (beispielsweise aus dem Strafrechts- und Opferhilfebereich) decken nur Ausschnitte ab und lassen sich nicht miteinander vergleichen. Einzelne, jedoch einmalig durchgeführte Studien, bieten dazu oder zu Teilaspekten zwar eine empirische Grundlage (Jud et al. 2018), können jedoch keine Trends beschreiben.
Notes
Der Beitrag basiert auf Schnurr und Gautschi (2023).
Aus dieser Relation lässt sich kein Hinweis auf die Unterbringungsrate Minderjähriger in der Schweiz ableiten, da sich dieser Wert nur auf die angeordneten außerfamiliären Unterbringungen bezieht. Viele Expert_innen gehen davon aus, dass, auf nationaler Ebene betrachtet, etwa 40 % der außerfamiliären Unterbringung auf Anordnung durch eine KESB zurückgehen, während etwa 60 % mit Zustimmung der Eltern und durch Vermittlung von regionalen/dezentralen Sozial- oder Fachdiensten zustande kommen.
Diese Aussage bezieht sich auf die Deutschschweiz; sie basiert auf Wissen, das wir in Entwicklungsprojekten mit Kindesschutzbehörden, Fachdiensten, Sozialdiensten und in Weiterbildungssettings gesammelt haben.
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Gautschi, J., Schnurr, S. Kinderschutz in der Schweiz. Sozial Extra 48, 35–39 (2024). https://doi.org/10.1007/s12054-023-00651-y
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