Dass ambulante Hilfen zur Erziehung in unterschiedlichen – v. a. familialen – Kontexten stattfinden und aufsuchenden Charakter haben, ist selbstverständlich, verweist aber auf ein nicht triviales Charakteristikum dieser Hilfeform. Zumindest im Vollzug der Hilfeleistung haben die ambulanten Hilfen zur Erziehung – anders als die Heimerziehung oder offene Kinder- und Jugendarbeit – nämlich kein ‚eigenes‘ institutionelles Setting bzw. keinen nach eigenen Kriterien vordefinierten ‚pädagogischen Ort‘. Sie müssen sich auf (familiale) Lebenswelten der Adressat_innen sowie auf Arrangements einlassen, die auch von anderen Institutionen bearbeitet und definiert werden.

Insofern verfügen gerade ambulante Hilfen zur Erziehung nicht in demselben Maße über einen „schützende[n] Apparat, wie ihn die Ärzte mit ihren Kliniken und Praxen, die Juristen mit ihren Verfahrensregeln, selbst die Lehrerinnen mit ihrem Pflichtschulsystem haben“ (Müller 2010, S. 967). In diesem Zusammenhang gilt auch das von Michael Bommes und Albert Scherr (1996, 2000) elaborierte Argument, Soziale Arbeit habe sich nicht als eigenständiges ‚Funktionssystem‘ sowie durch die Herausbildung eigenständiger Organisationsformen ausdifferenziert, für die ambulanten Hilfen zur Erziehung in besonderem Maße. In der Regel geht es gerade den ambulanten Hilfen weniger um ‚spezialisierte Leistungen‘, wie sie typischerweise in spezifischen, gesellschaftlich ausdifferenzierten Funktionskontexten erbracht werden, sondern ihre ‚Spezialisierung‘ besteht gerade darin, nicht gemäß den Rationalitäten und Codes eines spezifischen Funktionssystems spezialisiert zu sein. Das muss kein Professionalisierungsdefizit sein, sondern erleichtert es zum einen „Vermittlung von Zugang zu solchen […] spezifischen Leistungen“ zu organisieren bzw. „Zugänge zu den für die Lebensführung bedeutsamen gesellschaftlichen Bereichen zu eröffnen und drohende Ausschlüsse daraus möglichst zu vermeiden oder rückgängig zu machen“ (Bommes und Scherr 2000, S. 62, 63). Zum Anderen können dadurch Hilfebedürftigkeiten bearbeitet werden, die durch die spezialisierten Leistungen der jeweiligen Funktionssysteme nicht oder nicht angemessen adressiert werden.

Dieser Hinweis ist relevant, weil sich auch empirisch zeigt, dass ambulante Hilfen zur Erziehung häufig diffuse und unstrukturierte Schwierigkeiten im Alltag von Familien bearbeiten und dabei vielfältige und im Einzelnen disparate Dinge zum Gegenstand haben können, sofern sie in den Lebenspraktiken ihrer Adressat_innen thematisch werden. Für die Fragestellung unserer Forschung sind insbesondere solche Praktiken von Interesse, die direkt oder indirekt zum Schulerfolg beitragen.

Thematisierung von Schule durch die Fachkräfte

Die von uns geführten Interviews mit jugendlichen Adressat_innen und Fachkräften verweisen darauf, dass das Thema ‚Schule‘ im Kontext dieser Hilfen in einem hohen Maße thematisch wird. Fachkräfte berichten u. a. von Unregelmäßigkeiten von Schulbesuchen, Mobbing-Erfahrungen in der Schule, einer Vielzahl unterschiedlicher, auch familialer Konflikte, die u. a. um schulische Aspekte kreisen sowie eine breite Palette von Dingen, die im weitesten Sinne als – nicht immer konfliktfreie – ‚Kooperation‘ mit Schule beschrieben werden können. Da gebe es, führt etwa eine interviewte Fachkraft aus,

„total viel unterschiedliche Themen. Oft ist es sowas wie Mobbingerfahrung oder einfach Motivationslosigkeit oder es liegt gar sogar irgendwie eine verdeckte Diagnose vor, wenn etwa noch nicht herausgefunden worden ist, dass sie unter ADHS leiden. Die Schüler und Schülerinnen ecken in der Schule immer wieder an und können sich nicht konzentrieren. Dann gilt es erstmal herauszufinden, was ist denn da los. Manchmal kommt auch noch raus, irgendwie ah da ist vielleicht sogar Autismus vorhanden und deswegen kommt’s immer wieder zu Schwierigkeiten im Leben, aber echt oft auch Mobbing oder eigene Unsicherheiten und Schwierigkeiten, Anschluss zu finden in der Klasse, was sich dann oft eben auch auf die Leistung auswirkt“.

Die Berichte der interviewten Fachkräfte veranschaulichen eindringlich, was auch Befunde einer quantitativen Befragung von Fachkräften in aufsuchenden familienbezogenen Hilfen deutlich machen: Schulbezogene Problematiken sind Teil von und eingebettet in eine Vielzahl von Überforderungen, Erziehungs- wie Beziehungsproblemen, psychischen, emotionalen und materiellen Belastungen und häufig auch von Problemen mit anderen Institutionen und Behörden, die bis hin zu ausländerrechtlichen Bestimmungen und Ausweisungsbescheiden gehen, die mit Beschulungsfragen verknüpft sind.

Probleme mit und in der Schule

Wenn es um Schule geht, werden häufig Probleme in der Schule beschrieben, die im Wesentlichen als Ausdruck von ‚allgemeinen‘ Problematiken der jungen Menschen gedeutet werden. Insbesondere ist die Nicht-Teilnahme an Schule bzw. Schulabstinenz ein Thema, das in der Regel ebenfalls als Folge von nicht schulspezifischen und nicht lernbezogenen Problembelastungen in den Lebenswelten der jungen Menschen beschrieben wird:

„Dass es oft Schulabstinenz“ gebe, führt etwa eine Fachkraft aus, meine, „dass es den Jugendlichen vielleicht so schlecht geht momentan, dass die in so einer vielleicht psychischen schlechten Verfassung sind, dass sie gerade gar nicht mehr in die Schule gehen können“.

Solche lebensweltlichen Belastungen – auf die Auffälligkeiten in der Schule oder Schulabstinenz einen Hinweis geben – werden als der wesentliche Gegenstand der Hilfen und Unterstützungen beschrieben. Diese Belastungen werden in ihrer enormen Vielfältigkeit skizziert – „da gibt’s alles Mögliche, was sein kann“ – und dabei wird verdeutlicht, dass praktisch alles davon im Kontext familienbezogener Hilfen zum Thema werden kann. Unabhängig davon, was in der Hilfeplanung im Einzelnen als Ziel und Gegenstand der Unterstützung fixiert wird, gibt es wenig, was nicht als potenziell ‚hilferelevant‘ gelten kann:

„Also wir haben so fast nichts, was es nicht gibt: Schuldenproblematik, Schulprobleme Kindergartenbegleitung, jaja alles was das Leben betrifft, sag ich immer […]: Geburtsvorbereitung und Beerdigung, also von da bis da.“

Das entspricht in vielerlei Hinsicht dem, was Hans Thiersch (vgl. 1993) als ‚diffuse Allzuständigkeit‘ beschrieben hat – Bommes und Scherr (2000, S. 67) sprechen diesbezüglich von Sozialer Arbeit als „Kommunikation unspezifischer Hilfsbedürftigkeit“ – und auch Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto (vgl. 2018) als einen Grundsachverhalt analysiert haben, der ‚reflexive Professionalität‘ erfordere. Ein Aspekt dieser reflexiven Professionalität manifestiert sich unter anderem darin, nicht ohne weiteres den Kriterien und Funktionsparametern anderer Institutionen zu folgen.

De-Thematisierung schulischer Laufbahnen

Anders als die Soziale Arbeit ist Schule allemal ein gesellschaftlich erfolgreich ausdifferenziertes System, das sich nicht zuletzt dadurch erhält, dass es einen Unterschied zu seiner Umwelt macht (vgl. Treml 1999). Man muss im Einzelnen gar nicht in Abrede stellen, dass Schule auf ‚das Leben‘ vorbereitet und Wissen und Kompetenzen vermittelt, die Gebrauchswerte für jene Menschen haben, die sich diese Wissensbestände und Fähigkeiten erfolgreich angeeignet haben. Aber zunächst formuliert die Schule Aufgaben und dokumentiert die Qualität der Bewältigung dieser Aufgaben als Leistungen, die in Form von Noten und Abschlüssen qualifiziert werden. Es spricht einiges dafür, die bemerkenswerte De-Thematisierung von schulischen Leistungen im Kontext ambulanter Hilfen zur Erziehung vor diesem Hintergrund in den Blick zu nehmen. Schulische Leistungen und ‚Schulerfolg‘ sind ohne Zweifel Kriterien, die primär von der Schule prozessiert werden. Dass sie in den Kommunikationen der ambulanten Hilfen zur Erziehung nicht als zentraler eigenständiger Maßstab der eigenen Unterstützungsleistungen thematisiert werden, ist entsprechend erwartungskonform und spiegelt sich auch in zahlreichen disziplinären Versuchen wider, Kinder- und Jugendhilfe als ‚die andere Seite der Bildung‘ zu formulieren. Ihre Arbeit, so führt eine Fachkraft aus, umfasse einen Bildungsauftrag

„auf jeden Fall, auf jeden Fall. Weil die die meisten Konflikte, die wir bearbeiten, Konflikte in der Schule sind und die Kinder leiden unter Konflikten, auch zuhause. Das beeinflusst ihren Bildungsgang oder ihren Bildungsverlauf und wir versuchen diese Konflikte rauszunehmen. Damit fördern wir indirekt die Kinder, sodass sie auch in der Schule weiterkommen. Wir haben auch einen Bildungsauftrag, wenn wir die Eltern dazu befähigen, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu verstehen, um sie dann auch passend fördern zu können. Wir haben also einen Bildungsauftrag in der Familie, […], wenn wir den Kontakt zur Schule aufnehmen“.

Ein Jugendlicher beschreibt seine Erfahrungen mit den entsprechenden bildungsbezogenen Aktivitäten so: Die Fachkraft „hilft mir manchmal so bei Schulsachen“, wobei mit ‚Schulsachen‘ zwar auch, aber nicht primär ‚Lernen‘, sondern schulische Angelegenheiten im breiten Sinn gemeint sind. Was er allerdings für eher maßgeblich befindet, ist, dass sie „halt auch irgendwann mal Sozialpädagogik studiert“ habe und „zurzeit so ein bisschen probiert, so pädagogisches Zeugs mit einfließen zu lassen, glaube ich“. Der Jugendliche betrachtet dieses ‚pädagogische Zeugs‘ ganz und gar nicht als wie auch immer nutzlos und nebensächlich, sondern in vielfältiger Weise hilfreich, stabilisierend und „halt eigentlich ganz praktisch“. Unter anderem werde er so unterstützt, sich auf die Schule einzulassen und die Anforderungen zu bewältigen und insbesondere empfinde er das ‚pädagogische Zeugs‘ insofern als motivierend, dass er sich zum Abitur durchboxen möchte, um Sozialpädagogik zu studieren – ein Motiv, das sich in einer ganzen Reihe von Interviews mit Jugendlichen findet.

Man muss nicht in Abrede stellen, dass ambulante sozialpädagogische Unterstützung – um eine häufige Formulierung von Fachkräften und Jugendlichen aufzugreifen – ‚indirekt‘ dazu beiträgt, schulische bzw. lernbezogene Anforderungen im engeren Sinne aber auch eine breite Reihe weiterer Anforderungen zu bewältigen, die Schule mit sich bringt. Nichtsdestoweniger bleibt es überraschend, wie selten gerade in den Schilderungen der Fachkräfte die Sicherung von formalem Schul- oder Bildungserfolg als ein Aspekt erörtert wird, der einen originären Teil der eigenen Arbeit ausmacht. Stattdessen wird schulischer Erfolg als ein Ziel der eigenen – z. T. explizit als Bildungs- oder Bildungsermöglichungspraxis verstandenen – sozialpädagogischen Arbeit im engeren Sinne bisweilen recht deutlich zurückgewiesen: „Also“, führt etwa eine Fachkraft aus, „wir verfolgen jetzt nicht das Ziel irgendwie, Person A oder B muss jetzt also das Ziel Abitur oder so erreichen“. Eine andere Fachkraft erläutert, nachdem sie ausführt, dass sie in ihrer Arbeit einen Bildungsauftrag sieht, „naja Bildungsauftrag klingt ja nach so viel Bildung wie möglich, aber wichtig ist halt zu gucken, dass es die passende Bildung ist […] wir brauchen jetzt nicht jeden ins Gymnasium reinprügeln, auch wenn er’s gar nicht möchte“.

Schulerfolg wird insofern vor allem als ein epiphänomenaler Gegenstand verstanden: Durch die Unterstützung bei der Bewältigung von Belastungen und Problemen im Schulkontext, in der Familie und in lebensweltlichen Bereichen werden, so die verbreitete Deutung, „die Kinder auch bessere Leistungen in der Schule erbringen“. Bei praktisch allen interviewten Fachkräften findet sich die Deutung von schulischem Erfolg als Epiphänomen zumindest in einer ‚negativen‘ Variante – „wenn ein Kind täglich unter Konflikten leidet“, kann es sich „nicht […] auf seine Bildung konzentrieren oder erfolgreich in der Schule“ sein. In der Regel wird diese Deutung auch in einer seitenverkehrten ‚positiven‘ Variante akzentuiert. Zumindest für jene jungen Menschen, denen Schule liegt – man will sie ja nicht ‚ins Gymnasium prügeln‘ – wird sich schulischer Erfolg einstellen, wenn die Konflikte, Belastungen und Barrieren fachlich angemessen bearbeitet werden. „Ich erlebe immer wieder“, führt beispielsweise eine der Fachkräfte aus, dass

„ganz viele“ der Kinder und Jugendlichen „sehr intelligent sind und sehr gute Leistungen erbringen könnten. Aber andere Dinge stehen denen im Weg sozusagen und verbauen irgendwie den Weg hin zu einer guten schulischen Leistung. Ja, das sind dann soziale oder psychische Probleme irgendwie, dass die damit konfrontiert sind oder familiäre Probleme auch oder so. Dann schaffen die es einfach irgendwie nicht, die Leistung, oder das, was sie eigentlich können, zu erbringen. Das spüre ich einfach ganz oft und oft wird genau das auch von der Schule rückgemeldet […]“.

Dass das Verständnis der eigenen Aufgabe regelmäßig weniger darin besteht, möglichst gute Leistungen sicherzustellen, sondern eher darin drohende Ausschlüsse zu vermeiden, korrespondiert mit der Funktionsbeschreibung, wie sie Scherr und Bommes (2000) vorgelegt haben. Soziale Arbeit bearbeitet eher jene Voraussetzungen, um in der Schule erfolgreich zu sein, die die Schule selbst nicht bearbeitet, sondern in die Verantwortung der Familie stellt. Diese vorausgesetzte familiale Arbeit wird von den Fachkräften partiell substituiert.

„Wir motivieren immer und sagen, dass Schule wichtig ist und fragen halt auch einfach nach, lassen uns die Hefte zeigen usw. Wir kommen auch mal mit zu Schulveranstaltungen, zu Schulfesten, wir organisieren Schulmaterial, dass die Kinder auch einfach sozusagen gut ausgestattet sind und sich nicht schämen müssen. Das ist tatsächlich ein Problem. Manchmal sind’s die vernünftigen Schuhe und die Kleider, die ganz normalen, dass die nicht gehänselt werden, nicht ausgegrenzt werden. Wir gucken auch, dass die Gelder für die Klassenfahrt da sind ohne, dass es jemand merkt, dass die einfach ganz normal teilhaben, obwohl ihre Eltern vielleicht nicht in der Lage dazu sind, das sicherzustellen. Und wir reden natürlich auch mit Lehrern, was Eltern meistens auch nicht so gut machen, wir gehen zu Elternabenden und so weiter“.

Es findet sich kein Hinweis darauf, dass Fachkräfte Erfolg in der Schule irgendwie als ‚unwichtig‘ erachten. Die Deutung ist eher, dass dieser Erfolg durch eine Vielzahl von lebensweltlichen Belastungen vereitelt wird und es entsprechend die Belastungen sind, die prioritär und mehr oder weniger adressat_innenorientiert bearbeitet werden sollen.

Vor diesem Hintergrund ist es ggf. gar nicht überraschend, wenn z. B. auch die Daten aus der standardisierten Fachkräftebefragung nahelegen, dass gerade Fachkräfte, die sich selbst überproportional stark als adressat_innenorientiert und ‚partizipativ‘ verstehen, die Sicherung von ‚schulischem Erfolg‘ signifikant seltener als Teil ihrer Arbeit verstehen, als Fachkräfte, die sich auch jenseits schulbezogener Fragen stärker am Erreichen formaler (und ‚messbarer‘) Hilfeziele orientieren.

Dass eine ‚lebensweltlich‘ orientierte Kinder- und Jugendhilfe ggf. damit hadert, ‚systemischen‘ Erfolgskriterien eine hohe Bedeutung zuzumessen, ist auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass die interviewten jungen Menschen Schule nur bedingt als einen Ort wahrnehmen, in dem ihre Interessen und Potenziale gefördert werden. Sie berichten fast durchgängig von Mobbing und Ungerechtigkeitserfahrungen in verschiedenen Stationen ihres schulischen Werdegangs und auch davon, dass diese Erfahrungen im Kontext der Hilfen thematisch und zumindest partiell durch Sozialarbeiter_innen bearbeitet und sowohl ‚psycho-sozial‘ aufgefangen als auch vermittelnd, im Kontakt mit der Schule prozessiert werden. Das beinhaltet beispielsweise, dass Sozialarbeiter_innen – mehr oder weniger erfolgreich – in die Schulen gehen, um die Dinge advokatorisch, z. B. mit den Klassenlehrer_innen, ‚zu klären‘, aber auch, dass sie mit den jungen Menschen erörtern, was die Anforderungen und Erwartung sind und wie man sicherstellen kann, dass sie mit den belastenden Situationen in der Schule ‚klarkommen‘. Die jungen Menschen beschreiben, wie Sozialarbeiter_innen Notwendigkeiten und Problematiken im Kontext von ‚Schulbesuch‘ und in der Schule selbst unterstützen bzw. ‚in Ordnung‘ bringen, die ihre Eltern nicht oder in einer nur bedingt hilfreichen Weise zu bewerkstelligen in der Lage sind. Die Fachkräfte fungieren hier somit als „Sprachrohr der Jugendlichen“ und „Vermittler“, wie eine Fachkraft beschreibt.

Insgesamt korrespondieren die Wahrnehmungen der jungen Menschen in einem bemerkenswert hohen Maße mit dem, wie die Fachkräfte ihre Arbeit beschreiben. Eine Unterstützung von Lernaktivitäten wird dabei von den jungen Menschen eher beschrieben – und gewürdigt – als von den Fachkräften selbst. Gleichwohl berichten auch die jungen Menschen nur punktuell von einer aktiven Bezugnahme auf die Sicherstellung erfolgreicher schulischer Leistungen selbst.

Sichtweisen der Adressat_innen

Dabei ist auffällig, dass sich in unseren Interviews bislang nicht eine einzige Ausführung der jungen Menschen findet, die so gedeutet werden kann, dass sie von Fachkräften in ambulanten Maßnahmen irgendwie zu guten oder besseren Leistungen ‚gedrängt‘ werden oder dass diese auf schlechte Leistungen in einer Weise reagieren würden, die die jungen Menschen in einer erkennbaren Form beindrucken würde. Von Fachkräften wird das Thema ‚Druck‘ und ‚Leistungserwartung‘ als eine Belastung thematisiert, der die jungen Menschen ausgesetzt seien. Sie selbst sehen es demgegenüber gerade nicht als Teil ihrer Aufgabe, Jugendliche zum Abitur zu ‚drängen‘. Zwar lässt sich in einer Vielzahl von – unter anderem in eigenen – Familienstudien zeigen, dass sich auf Seiten von Eltern von ‚bildungserfolgreichen‘ Kindern eine gewisse Leistungserwartung findet und in der Regel auch eine von den Kindern wahrgenommene Reaktion auf die Unterbietung dieser Erwartung, daraus lässt sich aber nicht schließen, dass Leistungsdruck wünschenswert wäre. Eine Entlastung der jungen Menschen von Leistungsdruck und eine Eröffnung von Möglichkeiten ihre eigenen Sichtweisen und Interessen zu entwickeln lässt sich ggf. auch als ein emanzipatorisches Gegengewicht zu einem instrumentellen und auf kompetitiven Erfolg gerichteten Bildungsverständnis deuten. Das gilt, zumal die jungen Menschen durchaus von Leistungsdruck – u. a. seitens ihrer Eltern – berichten und diesen problematisieren. Aber dieser Druck geht nicht von den Fachkräften aus. Die Fachkräfte selbst kritisieren den Leistungsdruck der Schule und der Gesellschaft und stellen ihre Arbeit z. T. explizit als eine Art Gegenpol dar, der diesen Druck abmildert und Unterbietungen der entsprechenden Leistungsnormen de-problematisiert.

Im Zweifelsfall substituiert die ambulante Kinder- und Jugendhilfe unter teils erheblich belasteten Bedingungen vieles jener Arbeit, die für ein erfolgreiches Meistern der Anforderungen von Schule Notwendigkeit ist und die in die Verantwortung von Eltern gestellt wird. Es ist auffällig, dass die Fachkräfte zwar diese Arbeit substituieren, aber Erfolgs- und Leistungserwartung, die typischerweise mit dieser Arbeit verbunden sind, gerade nicht akzentuieren, sondern kritisieren und zumindest tendenziell versuchen, diesem Erwartungsdruck entgegenzuwirken.

Zwar werden Unterstützungen der Fachkräfte von Lernaktivitäten, Hausaufgaben machen, auf Klassenarbeiten vorbereiten etc. in den Interviews mit den jungen Menschen in der ein oder anderen Weise thematisch, aber augenscheinlich berichten junge Menschen, deren Eltern etwa aufgrund von Behinderungen dauerhaft eingeschränkt sind eine hinreichende Versorgung sicherzustellen und deren Aufwachsen kontinuierlich bis zur ‚Verselbstständigung‘ durch Fachkräfte begleitet wird, davon eher, als junge Menschen in Hilfeformaten, die sich darauf richten Probleme in Familien zu bearbeiten und die Unterstützung der Familien im Zuge einer mehr oder weniger gelungenen Problementlastung zu beenden. Es spricht einiges dafür, dass die Hilfezugangsformel der ‚Nicht-Gewährleistung des Kindeswohls‘ in einem Spannungsverhältnis dazu steht, Bildungserfolg als maßgebliches Kriterium erfolgreicher Hilfen in den Blick zu nehmen.

Welcher Bildungsauftrag?

In diesem Zusammenhang geht es weniger um das Bildungsverständnis der Fachkräfte oder um die Frage, ob und wie sie ihrem Verständnis fachlich gerecht werden, sondern um die Frage nach einem ‚Bildungsauftrag‘ im Kontext der Hilfen. Paradigmatisch kommt dies etwa in folgender Passage eines Interviews mit einer Fachkraft der SPFH zum Ausdruck:

„Ich betreue jetzt gerade eine Familie, in der das Kind schulabstinent ist. In solchen ist es klar dann auch ein Ziel, dass das Kind oder der Jugendliche wieder in die Schule geht und natürlich ist das dann eine Art von Bildungsauftrag, weil’s aber auch einfach eine Schulpflicht gibt in Deutschland und wir ja dann auch dementsprechend unterstützen. Wir versuchen natürlich, da die Familie so gut wieder zu unterstützen, dass die Kinder wieder in die Schule gehen können. Wir arbeiten letztlich auf rechtlichen Grundlagen und wir unterstützen auch aufgrund von rechtlichen Grundlagen“.

Eine andere Fachkraft akzentuiert im Kern den gleichen Sachverhalt. In Bildungsfragen und Unterstützungen von Bildungswerdegängen

„mischen [wir] bestimmt mit, würde ich sagen. Also irgendwie auf eine Art und Weise mischen wir da mit, aber wir verfolgen jetzt keinen konkreten Bildungsauftrag, weil darum soll‘s in unserer Arbeit also sozusagen gar nicht gehen“.

Eine weitere Fachkraft schließlich führt, nachdem sie erläutert, wie sie versucht, ihre Adressat_innen in Bildungsprozessen zu unterstützen, aus:

„Wir haben keinen Bildungsauftrag. Offiziell nicht ((lacht)). Dann müssten wir ja auch noch einen Plan mehr schreiben. Das ist aber nicht die Aufgabe. Wir sind ja dafür da, sozusagen unsere Klienten zu unterstützen sich selber zu befähigen“

Gegebenenfalls ist die Verhinderung von fundamentalem Scheitern ein ‚Bildungsauftrag‘, zumal „ohne Bildungsabschluss auf eigenen Beinen zu stehen, ist schon schwierig in Deutschland“. Die Sicherung von Bildungserfolg gehört aber nicht zu diesem Auftrag einer sozialrechtlich regulierten Kinder- und Jugendhilfe.

Der Sachverhalt ist ziemlich banal. Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind Fürsorgeleistungen. Sie werden gewährt, wenn das ‚Wohl des Kindes‘ nicht ‚gewährleistet‘ ist und enden idealiter damit, dass die Nicht-Gewährleistung abgestellt wird. Es soll gar nicht in Abrede gestellt werden, dass sich Fachkräfte in diesem Kontext um ein möglichst gutes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen bemühen. Aber worum sich Fachkräfte bemühen bzw. was ihr Selbstverständnis ist und wozu Sozialleistungen eingerichtet sind und für was sie bewilligt werden, sind zwei unterschiedliche Dinge. In Deutschland gibt es keine bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfeleistungen und die Leistungen, auf die Personensorgeberechtigte einen rechtlichen Anspruch haben, sind nicht darauf ausgerichtet, dass Kinder und Jugendliche ihre Potenziale so gut und umfänglich wie möglich entfalten können. Es sind bedarfsgeprüfte Fürsorgeleistungen, die das sicherstellen, was das niedrigste gesellschaftlich akzeptable Niveau ist. Die Leistungen enden, wenn dieses Niveau sichergestellt ist: Eine Schule zu besuchen gehört dazu, schulische Anforderungen zu bewältigen auch – ‚Bildungserfolg‘ nicht.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht gar nicht verwunderlich, dass wir unseren Versuch, vor allem im Feld der familienbezogenen Hilfen zur Erziehung, die Unterstützungserfahrungen von jungen Menschen zu erkunden, die zum Zeitpunkt oder im Verlauf der Hilfe ‚bildungserfolgreich‘ bzw. ‚unwahrscheinlich bildungserfolgreich‘ waren, modifizieren mussten. Mit ‚bildungserfolgreich‘ sollen Kinder gemeint sein, die ein Gymnasium besuchen bzw. Abitur anstreben, mit ‚unwahrscheinlich bildungserfolgreich‘ Kinder, die ein Gymnasium besuchen bzw. Abitur anstreben und dabei einen höheren Bildungsabschluss anstreben als ihre Eltern haben. Wir haben über hundert Einrichtungen kontaktiert. Das Problem bestand nicht darin, Zugang zu den jungen Menschen zu erhalten, sondern dass es offenbar diese Fälle nur ausgesprochen selten gibt. Die Interviews sind mit (unwahrscheinlich) bildungserfolgreichen jungen Menschen geführt worden, die Erziehungsbeistandschaft erhalten und/oder deren Eltern familienbezogene HzE in Anspruch genommen haben. Die konditionale Fürsorgeleistung endet, wenn erfolgreich ein Niveau an Betreuung, Versorgung und Förderung hergestellt wird, das ‚gut genug‘ ist, oder anders formuliert, das das ‚Wohl des Kindes‘ nicht in Frage stellt. Es lässt sich begründet annehmen, dass die Qualität der elterlichen Sorgearbeit – zumindest bezüglich Betreuung, Versorgung und Förderung – die eine erfolgreiche Bewährung im allemal kompetitiven schulischen Leistungswettbewerb voraussetzt, höher als dieses ‚Minimalniveau‘ ist. Sofern diese Annahme zutrifft, verwundert unser Rekrutierungsproblem nicht: Die Maßnahmen enden vor ‚Bildungserfolg‘, nämlich dann, wenn die Voraussetzungen geschaffen sind, die, wie Max Weber vielleicht gesagt hätte, dessen praktische ‚objektive Möglichkeit‘ darstellen. Eine Fachkraft formuliert das so:

„Zu meinem Auftrag gehört es z. B., dass ein Kind wieder zur Schule gehen muss. Dann ist der Auftrag fertig. Wir gehen wieder, wenn gewisse Sachen geschafft sind, bleiben gar nicht bis zum Schluss, weil dann keine Aufträge mehr für uns da sind“.

Fürsorge statt Bildung?

Selbst wenn die Kinder- und Jugendhilfe fachlich in der Lage wäre, ein sozialpädagogisches Bildungsverständnis zu entwickeln, das junge Menschen unterstützt, ihre Interessen, Potenziale und Fähigkeiten zu entfalten und auch im schulischen Bildungssystem ‚unwahrscheinliche‘ Bildungsaufstiege zu erreichen, steht dies in einem Spannungsverhältnis zu einem stark konditionalisierten Hilfesystem, das im Wesentlichen einer Fürsorgelogik folgt. Die Sozialrechtler_innen Knut Hinrichs und Daniela Evrim Öndül (2017, S. 108–109) bringen die fürsorgerechtlichen Prämissen luzide auf den Punkt: „Das Fürsorgerecht, insbesondere das Sozialhilfe- und Jugendhilferecht, stellt das letzte Netz der sozialen Sicherung in Deutschland dar […]. Fürsorge [… orientiert sich an einem] fürsorgerechtlich anerkannten Bedarf [. … Ihr Zweck ist der] Schutz von Person und Menschenwürde sowie des Kindeswohls und Gewährleistung eines (Mindest‑)Standards an Lebens- und Sozialisationsbedingungen [. Fürsorge ist …] Hilfe in einer gegenwärtigen Notlage, soll also weder vergangene Probleme lösen, noch sich zukünftig bei den Betroffenen als Vermögen niederschlagen“. Fürsorgeansprüche sind insofern eher flüchtige und fragile Lückbüßer als ein verlässlicher Schutz gegen soziale Belastungen und Notlagen und vor allem kaum ein Format, dass sich auf die Sicherung von ‚Bildungserfolg‘ richtet – erst recht, wenn der ‚Erfolg‘ mehr und anderes sein soll als die Vermeidung der Unterbietung von Minimalstandards.