Theorie und Forschung in der Sozialen Arbeit bewegen sich gewöhnlich in einem nationalgesellschaftlichen Rahmen, ohne dass dieser expliziert und reflektiert wird. In der deutschen Fachdiskussion wird als Soziale Arbeit gewöhnlich das in den Blick genommen, was unter Bedingungen des deutschen Sozialstaats, des deutschen Rechts und der deutschen Ökonomie geschieht. Dieser Schwerpunkt zielt mit dem Schwerpunkt auf Professionalisierung darauf, diese Blickverengung aufzubrechen. Die Beiträge geben Einblicke in die Geschichte und Gegenwart Sozialer Arbeit in Australien, Costa Rica, Kanada, Nigeria und Thailand.

Bereits ein Gang um den Bodensee würde uns deutlich vor Augen führen, dass Soziale Arbeit bei allen Gemeinsamkeiten der drei Länder im deutschsprachigen Raum in einigen Hinsichten eine unterschiedliche Ausgestaltung gefunden hat. Begegnungen von Sozialarbeitenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wie sie etwa an Tagungen stattfinden, lassen die Unterschiede jeweils rasch aufspringen: Wenn auch an denselben Werten orientiert und weitgehend dieselben theoretischen Diskurse verfolgend, pflegen sich die einen in aller Selbstverständlichkeit auf ihr nationales Sozialgesetzbuch zu beziehen – so, als wäre das deutsche Sozialgesetzbuch quasi universell gültig und in Absehung davon, dass Soziale Arbeit nur in einigen wenigen Ländern der Welt über ein derartige rechtliche Verankerung verfügt –, während die anderen rasch von der Selbstmandatierung der Sozialen Arbeit und der Bedeutung von kleinen Nichtregierungsorganisationen zu sprechen beginnen. Und nie bleibt der Hinweis aus, dass in den föderalen Staaten auch die Bundesländer, Kantone und Kommunen wichtige Ebenen der Gestaltung Sozialer Arbeit darstellen. Denn bedeutsame Unterschiede in der Ausgestaltung der Sozialen Arbeit werden nicht nur im Vergleich der Nationalgesellschaften deutlich, sondern sind auch innerhalb dieser festzustellen.

Am Bodensee oder am Basler Dreiländereck wird insofern im Kleinen konkret greifbar, was mit Blick auf Europa und darüber hinaus weltweit gilt: Die sozialen, politischen, rechtlichen, ökonomischen und soziokulturellen Unterschiede zwischen Nationalgesellschaften und ihrer wohlfahrtsstaatlichen Verfassung sind auch für die Soziale Arbeit, ihre nationalgesellschaftlichen Ausprägungen, folgenreich (Lorenz 2006)Footnote 1. Denn bereits das Ausmaß der Problemlagen, mit denen Soziale Arbeit befasst ist, unterscheidet sich erheblich, wie schon ein oberflächlicher Vergleich, z. B. zu nationalen Armuts- und Arbeitslosenraten (UNDP 2022), zu Vernachlässigung von Kindern (Kobulsky et al. 2019) und zu Kinderarbeit (ILO und UNICEF 2021), zur Betroffenheit von Krankheiten, wie HIV und AIDS (UNAIDS 2022), zu InhaftiertenratenFootnote 2 oder den Opfern von GewaltFootnote 3, zeigt. Nicht zuletzt die (Nicht‑)Verankerung sozialstaatlicher Prinzipien im jeweiligen nationalen Recht sowie die Leistungsfähigkeit und die Qualität der sozialstaatlichen Infrastruktur haben Auswirkungen auf die Anforderungen an die Soziale Arbeit und ihre Möglichkeiten (Lorenz 2004).

Wie in den Beiträgen dieses Schwerpunkts deutlich wird, unterscheidet sich die Soziale Arbeit in nationalstaatlichen Kontexten auch im Hinblick darauf, wie das Selbstverständnis Sozialer Arbeit als Profession ausgeprägt ist sowie ob bzw. wie Professionalisierung tatsächlich durch die Ausbildung und die Organisationsformen Sozialer Arbeit gewährleistet ist. Die Beiträge von Solomon Amadasun und Mel Gray zu Nigeria, Leanne Schubert zu Australien, Itzel Granados Valverde zu Costa Rica und Susan Preston zu Kanada geben dazu exemplarische Einblicke in die in vieler Hinsicht unterschiedlichen Bedingungen und Formen von Professionalisierung Sozialer Arbeit.

In diesem Schwerpunkt sollte zudem – um alle Kontinente zu berücksichtigen – ein Beitrag von Kitipat Nontapattamadul zur Sozialen Arbeit in Thailand erscheinen, der uns bereits in übersetzter Form vorlag. Aus Gründen, die wir nicht abschließend nachvollziehen können, hat der Autor dann jedoch die rechtlich erforderliche Zustimmung zur Veröffentlichung seines Beitrags nicht erteilt. Wir bedauern dies, da dadurch eine wichtige Perspektive auf die Entwicklung und Professionalisierung Sozialer Arbeit hier nicht repräsentiert werden kann.

Dimensionen von Professionalität

Ein Blick über den Tellerrand der deutschsprachigen Diskussion hinaus zeigt zudem: Dass Soziale Arbeit eine Profession ist oder jedenfalls sein soll, gilt in der internationalen Diskussion als unstrittig. Dies kommt exemplarisch in der „Global Definition of Social Work“ zum Ausdruck, die von der „International Association of Schools of Social Work“ (IASSW) und der „International Federation of Social Workers“ (IFSW) 2014 verabschiedet wurde. Soziale Arbeit wird dort als eine „practice-based profession and an academic discipline“Footnote 4, also als eine praxisbezogene Profession und eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin verstanden.Footnote 5

Für die wissenschaftliche Diskussion über die Soziale Arbeit als Profession ist dabei – und dies nicht nur im deutschen Sprachraum – ausschlaggebend, dass Professionen als ein besonderer Typus von Berufen verstanden werden. So formuliert z. B. der „Australian Council of Professions“ wie folgt: „Eine Profession ist eine bestimmte Regeln anerkennende Gruppe von Individuen, die sich an ethische Standards halten und die von der Öffentlichkeit als Personen akzeptiert werden, die über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten in einem weithin anerkannten Wissensgebiet verfügen, das auf Forschung, Bildung und Ausbildung auf hohem Niveau beruht, und die bereit sind, diese Kenntnisse und Fähigkeiten im Interesse anderer anzuwenden.“ (Übersetzung D.G./A.S.)Footnote 6.

Professionen sind – und diesbezüglich stimmen unterschiedliche professionstheoretische Zugänge im Kern überein (s. als Überblick etwa Combe und Helsper 1996) – solche Berufe, die Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlichen Wissens und ethischer Grundsätze treffen und dabei über ein hohes Maß an Verantwortlichkeit für schwierige und folgenreiche Entscheidungen sowie an Entscheidungsautonomie verfügen. Ob und wie der so bestimmte Anspruch auf Professionalität auch realisiert werden kann, hängt mit der Stellung von Professionen in den Entscheidungshierarchien von Organisationen sowie mit der institutionellen Selbstkontrolle von Professionen zusammen (vgl. Bommes und Scherr 2012, S. 279 ff.): Im Fall der klassischen Professionen gilt diesbezüglich idealiter: Nur Ärzte sind z. B. kompetent zu entscheiden, welche Krankheit vorliegt und was die angemessene Therapie ist, und diese Entscheidung kann nicht durch Angehörige anderer Berufsgruppen außer Kraft gesetzt werden. Und die Überprüfung der Frage, ob Professionelle tatsächlich den fachlichen und ethischen Standards ihrer Profession gerecht werden, obliegt im Fall der klassischen Professionen den Standesorganisationen der jeweiligen Berufsgruppe, also z. B. der Ärztekammer. Ein hohes Maß an Entscheidungsautonomie kennzeichnet also einerseits das Verhältnis des Professionellen zu seinen Klient_innen, andererseits die Festlegung professioneller Standards und die Kontrolle ihrer Einhaltung durch eigenständige Organisationen der jeweiligen Profession. Dass professionell gehandelt wird, wird demnach nicht allein durch die individuelle Kompetenz der Fachkräfte gewährleistet, sondern auch durch institutionelle Regulierungen.

Perspektiven des internationalen Vergleichs

Auf Grundlage der skizzierten Überlegungen kann eine Reihe von Leitfragen genannt werden, die für eine international vergleichende Betrachtung von Professionalisierung bedeutsam sind:

  • Besteht im nationalen Kontext innerhalb der Berufsgruppe ein Konsens darüber, welches Wissen und welche Fertigkeiten notwendige Bedingungen einer kompetenten Berufsausübung sind?

  • Ist dieser Konsens durch wissenschaftliche Theoriebildung und Forschung fundiert und schließt er gut begründete ethische Prinzipien ein?

  • Sind Ausbildungsgänge etabliert, die eine Vermittlung der für die Profession zentralen Kenntnisse und Fertigkeiten tatsächlich gewährleisten?

  • Wie sind Forschung und Theorieentwicklung, die auf die Weiterentwicklung professionellen Wissens ausgerichtet sind, an Hochschulen verankert?

  • Setzt die Berufsübung einschlägige Abschlüsse tatsächlich voraus, ist die Berufsbezeichnung geschützt und wer entscheidet über die Zulassung zur Berufsausübung?

  • Wie stellt sich gesellschaftliche Wertschätzung (Reputation, Bezahlung) in den nationalen beruflichen Prestigehierarchien dar?

  • Wird die Einhaltung fachlicher und ethnischer Standards während der Berufsausübung überprüft und wenn ja, durch wen?

  • Können Klient_innen Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Professionellen ergreifen?

  • Besteht eine Pflicht der beruflichen Fort- und Weiterbildung, und wenn ja, durch wen wird diese gewährleistet?

  • Welche Tätigkeitsfelder werden als Handlungsfelder der Profession Soziale Arbeit verstanden, und wir werden die Tätigkeiten von Sozialarbeitenden von den Tätigkeiten der Angehörigen anderer, z. B. zu psychotherapeutischer, pädagogischer und juristischer Berufe abgegrenzt?

Die Beiträge dieses Schwerpunktes lenken den Blick über den deutschsprachigen Raum hinaus und auf jene Aspekte von Professionalität und Professionalisierung, die in der gängigen deutschsprachigen Diskussion zum Thema Professionsentwicklung bislang weniger Beachtung gefunden haben. Sie können selbstverständlich keine umfassende Bearbeitung der oben aufgeführten Gesichtspunkte vornehmen, sondern greifen einzelne Aspekte auf.

Kontextualisierung

Der Präsenz von Sozialer Arbeit auf fünf Kontinenten entsprechend baten wir Vertreter_innen der Sozialen Arbeit aus Afrika, Asien, Australien, Lateinamerika und Nordamerika – und damit bewusst aus Ländern außerhalb Europas – einen Einblick in den Stand der Entwicklung der Profession in ihren Wohnsitzländern zu geben. Die Auswahl der Beiträge folgte drei nicht ganz systematischen Kriterien: Von jedem Kontinent, und damit aus jeder Länderregion der International Federation of Social Workers, sollte ein Land vertreten sein. Auf unseren Vorkenntnissen basierend sollten sich die Länder hinsichtlich der oben erwähnten Aspekte der Professionalisierung von Sozialer Arbeit unterscheiden. Und nicht zuletzt berücksichtigen wir Autor_innen, die zu diesen Fragen schon publiziert hatten oder von denen wir wussten, dass sie aufgrund ihres verbandlichen Engagements oder ihrer Spezialisierung auf internationale Fragen in der Position waren, einen Betrag zu „ihrem Land“ zu verfassen.

Wir baten die Autor_innen, auf vier Aspekte einzugehen:

  • Die Soziale Arbeit im betreffenden Land kurz zu kontextualisieren;

  • den Anteil der Professionellen an den Arbeitstätigen im Land zu ermitteln;

  • die Angehörigen der Profession hinsichtlich demografischer Merkmale und Ausbildungswege zu beschreiben und

  • auf Fragen der Regulierung der Profession einzugehen.

Dennoch sind die Beiträge in erwartbarer Weise unterschiedlich geworden: Sie lassen deutlich werden, mit welchen Lücken und Ungenauigkeiten schon die Quantifizierung und Beschreibung der Profession jeweils zu kämpfen hat. Die Autor_innen setzen zudem unterschiedliche Akzente. Wir schlagen vor, dies als einen Teil der Botschaft zu interpretieren: Worauf sie jeweils eingehen und was sie in den Vordergrund rücken verdeutlicht, wo die Aufmerksamkeit der Berichterstatter_innen liegt, was aus ihrem Verständnis heraus thematisiert gehört oder bedeutsam ist, weil es sie in ihrem nationalgesellschaftlichen Kontext besonders beschäftigt oder herausfordert. Die Ausführungen sind auf unseren Wunsch hin an jenen Stellen ausführlicher, die im Kontrast zur Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum stehen.

Der Schwerpunkt kann nicht beanspruchen, einen systematischen Vergleich zu ermöglichen. Er bietet aber eine Gelegenheit, sich anhand von Einblicken in fünf Länder über den gewohnten Rahmen hinaus mit dem Entwicklungsstand der Sozialen Arbeit zu befassen. Er eröffnet eine Chance zu einem komplexeren Verständnis von Sozialer Arbeit, zu einer Relativierung der nationalstaatlich geformten Selbstverständlichkeiten und einer Perspektivenerweiterung, die – wie Internationalität generell – dazu verhelfen soll, eine mögliche „Begrenztheit und Borniertheit der eigenen kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe zu überwinden“ (Schweppe 2005, S. 585 f.).

Vergleicht man die Befunde zu den ausgewählten Ländern mit der Situation in Deutschland, Österreich und der Schweiz, scheint uns besonders bemerkenswert, dass fast durchgängig die Kolonialisierungserfahrungen der Bevölkerung in diesen Ländern zur Kontextualisierung von Sozialer Arbeit heute herangezogen werden, wie klar die Verstrickung der Sozialen Arbeit mit kolonialisierenden Praxen, aber auch mit dem darauf reagierenden „nation building“ benannt wird, und wie deutlich eine Umorientierung der Sozialen Arbeit in den letzten fünfzig Jahren fassbar wird. Darüber hinaus wird in eindrücklicher Weise deutlich, wie stark unterschiedlich die Selbstregulation der Sozialen Arbeit als Profession in diesen Ländern ausgestaltet ist und es durchaus diskussionswürdig ist, ob und in welcher Weise diese Formen der Selbstregulierung dazu geeignet sind, der Entwicklung im deutschsprachigen Raum als Vorbild zu dienen.