Das Jugendamt trägt Mitverantwortung bei der Bearbeitung von Problemen im Kontext des Aufwachsens junger Menschen – allerdings bislang nur dann, wenn keine (körperliche und/oder geistige) Behinderung als ursächlich für die Probleme gedeutet wird. Diese Aufteilung der jungen Menschen entlang der Kategorie der Behinderung wird mit der Umsetzung der sog. ‚inklusiven Lösung‘ aufgehoben, das Jugendamt also verantwortlich gemacht für alle Kinder und Jugendlichen. Was Verantwortung in der Fallbearbeitung bedeuten kann, inwiefern dieser Anspruch derzeit bei Eingliederungshilfen (nicht) realisiert wird und was sich daraus für die (zukünftige) Fallbearbeitung im Modus von Inklusion ableiten lässt, wird empirisch fundiert aufgearbeitet.

In Anlehnung an Hannah Arendt (1994) und Annedore Prengel (2020) sind junge Menschen (auchFootnote 1) als ‚Werdende‘ zu begreifen, woraus sich eine besondere Verantwortung für diese jungen Menschen und ihr Sein und Werden, für ihr Aufwachsen, ergibt. Diese Verantwortung übernimmt in bestimmter Weise die ‚staatliche Gemeinschaft‘ („Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“; Art. 6 Abs. 2 GG sowie § 1 Abs. 2 SGB VIII) und überträgt sie auf untergeordnete Institutionen, darunter das Jugendamt (§ 69 Abs. 3 SGB VIII).

Das Jugendamt als eine Antwort auf Probleme im Kontext des Aufwachsens junger Menschen

Die Kontrollverantwortung des Jugendamtes, umgesetzt im sog. Wächteramt, wird zugleich um die Zuständigkeit für vielfältige Unterstützungen für Familien und junge Menschen sowie für Hilfe bei mit Erziehung und Entwicklung verknüpften Problemen ergänzt. Insofern kann das Jugendamt (auch) als institutionell-organisatorische Antwort auf Probleme bei und mit dem Aufwachsen junger Menschen verstanden werden. Diese Antwort ist dabei eine besondere, denn das „Jugendamt ist eine sozialpädagogische Fachbehörde“ (BMFSFJ 2020, S. 44). Das bedeutet, dass den Jugendämtern nicht nur eine „öffentliche Verantwortung“ (Richter 2002, S. 13) in Hinblick darauf, Strukturen zu schaffen und aufrecht zu erhalten, in denen ein Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen unter den Prämissen des § 1 SGB VIII (darunter das Recht junger Menschen „auf Förderung [ihrer] Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“; § 1 Abs. 1 SGB VIII) gewährleistet werden kann, zukommt. Darüber hinaus greift das Jugendamt hilfeplanerisch, hilfegestaltend und teils selbst hilfeerbringend in die Fallbearbeitung ein, übernimmt also eine über deren bloße Verwaltung hinausgehende Verantwortung für individuelle Fälle.

Das Jugendamt zeigt sich also als eine das Aufwachsen junger Menschen (mit)verantwortende Institution – die allerdings bislang nur das Aufwachsen junger Menschen ohne Behinderungen verantwortet; eine Ausnahme bildet im Rahmen der sog. ‚kleinen Lösung‘ lediglich das Konstrukt der seelischen Behinderung, das mit § 35a in das SGB VIII integriert ist. Kinder und Jugendliche, denen eine geistige und/oder körperliche Behinderung und eine – darauf zurückgeführte – (drohende) Teilhabebeeinträchtigung zugesprochen wird, fallen hingegen nicht in die Zuständigkeit des Jugendamts. Tätig werden hier u. a. Sozialämter und Landeswohlfahrtsverbände. Durch die Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Jahr 2021 wird nun ein inklusiver Anspruch im Rahmen der sog. ‚großen‘ oder ‚inklusiven Lösung‘ implementiert: Bis zum Jahr 2028 soll die Zweiteilung der Fallbearbeitung bei Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen aufgehoben und die Hilfen für alle Kinder und Jugendlichen sollen unter dem Dach des Jugendamtes zusammengeführt werdenFootnote 2 (Molnar und Marr 2023, i. E.). Die ‚Antwort Jugendamt‘ auf Probleme im Kontext des Aufwachsens junger Menschen soll also spätestens ab 2028 für alle jungen Menschen gelten. Vor diesem Hintergrund der Zusammenführung der Hilfesysteme gilt es nun, den Anspruch an das Jugendamt, eine sozialpädagogische Institution zu sein, die ihrer Verantwortung in Hinblick auf das Aufwachsen junger Menschen gerecht wirdFootnote 3, im Modus von Inklusion zu realisieren. Dafür ist es notwendig, die bestehenden – getrennten – Bearbeitungsmodi von Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen auszuleuchten, um Potenziale und Hindernisse für die Zusammenführung erkennen und bearbeiten zu können.

Der vorliegende Beitrag betrachtet auf empirischer Basis einen bestimmten Ausschnitt dieses Komplexes: Die jeweiligen Fallbearbeitungsmodi finden ihren Niederschlag in Fallakten, die als Teil eines Interaktionsprozesses verstanden werden können, der innerhalb von und zwischen Institutionen sowie über institutionelle Grenzen hinweg stattfindet. In Akten spiegeln sich in bestimmter Form (behördliche) Kommunikation und (behördliches) Handeln; sie zeichnen sich durch eine eigene Materialität und Dynamik aus: Im Sinne ihrer Herstellung sind sie fiktional, denn in einem transformativen Akt tragen die dokumentenerstellenden Personen Informationen (Wahrnehmungen, Beobachtungen, Mitteilungen usw.) in die Akte und entscheiden dabei bspw., welche Informationen in welcher Reihung in den einzelnen Dokumenten auftauchen und welche Formulierungsmöglichkeit unter vielen gewählt wird usw. Gleichzeitig sind Akten nicht frei erstellt. Sie sind – durch verschiedene (auch digitale) Dokumente, Verfahrensschritte und weitere Vorgaben – vorstrukturiert, also sozialstaatlich, organisational und institutionell präformiert (Wolff 2015, S. 502 ff.). Diese solcherart präformierten und gestalteten Fallrepräsentationen wirken zugleich über die Akte hinaus, indem sie „eine Eigendynamik [entwickeln], der sich die kategorisierte Person, aber auch die damit beschäftigten Instanzen, in der Folge nur schwer entziehen können“ (Wolff 2015, S. 505; Hervorh. entf. DM). Akten sind Teil der Fallarbeit und damit Teil der Antwort des Jugendamtes auf konkrete Probleme im Kontext eines individuellen Aufwachsens.

Die sich in Akten materialisierende Fallbearbeitung wird im Folgenden in Hinblick auf Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche außerhalb des Jugendamtes analysiert, wobei die hier aufgegriffenen Ergebnisse in ihrer Tendenz auch für (schulische) Eingliederungshilfe innerhalb des Jugendamtes (§ 35a SGB VIII) konstatiert werden können (Molnar 2021, S. 148 ff.). Dieser – zunächst einseitige – Blick auf die aktenförmige Bearbeitung von Hilfen für Kinder und Jugendliche mit zugeschriebenen Behinderungen zeigt auf, dass zwar eine die Person des Kindes/der_des Jugendlichen fokussierende Problemzuschreibung praktiziert wird (Figuration 1), zugleich aber eine Fokusverschiebung hin zu den mit dem Problem als zusammenhängend konzipierten Herausforderungen für Erziehungspersonen und -institutionen stattfindet (Figuration 2).

Diese spezifische Ausgestaltung der sozialstaatlichen Antwort auf Probleme im Kontext des Aufwachsens junger Menschen mit Behinderungen wird schließlich anhand einer Ausdeutung einer verantwortlichen Fallbearbeitung problematisiert, wobei Verantwortung normativ als „wirkliches Antworten“ (Buber 2005, S. 169) gerahmt wird. Auf dieser Basis lassen sich Implikationen für die Gestaltung der Zusammenführung der Hilfen für alle Kinder und Jugendliche unter dem Dach der Jugendhilfe ableiten.

Empirische Betrachtungen zur Eingliederungshilfe als Antwort auf Probleme im Kontext des Aufwachsens junger Menschen mit Behinderungen

Die empirischen Betrachtungen beziehen sich auf Ergebnisse des von der DFG von 2016 bis 2021 geförderten Forschungsprojektes „Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und Jugendliche. Eine vergleichende Untersuchung der Verfahren der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund der Diskussionen um eine Gesamtzuständigkeit“ (Projektnummer 314276389; Molnar et al. 2021), das in drei verschiedenen Kommunen ambulante Hilfen für Kinder (Frühförderung und sozialpädagogische Familienhilfe), Schulbegleitung/Schulassistenz sowie stationäre Hilfen in den Blick nahm. Schwerpunkt des Forschungsprojekts war die Analyse von Akten zu Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen mit dem Ziel der Rekonstruktion der behördlichen, aktenförmigen Kategorisierungsarbeit. Es wurden Jugendamtsakten bei Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff. SGB VIII) und Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII sowie Akten aus Sozialämtern und Landeswohlfahrtsverbänden oder anderen fallbearbeitenden Behörden der Eingliederungshilfe bei geistigen und körperlichen Behinderungen (zum Erhebungszeitpunkt SGB XII, nun SGB IX) textanalytisch, orientiert an der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der ethnomethodologischen Kategorienanalyse (Wolff 2011), aufgearbeitet (zum Forschungsprojekt und -vorgehen s. Rohrmann und Oehme 2021, S. 18 ff.). In exemplarischer Weise werden im Folgenden zwei Akten der Eingliederungshilfe aufgegriffen: Für die etwa siebenjährige Elena PetrovićFootnote 4 wird ein Antrag auf Schulbegleitung nach SGB XII gestellt, für den zu Aktenbeginn achtjährigen Jonas Paul Weber wird eine stationäre Unterbringung beantragt. In beiden Fällen werden die Leistungen bewilligt.

In den Eingliederungshilfen lässt sich ein spezifischer Problementwurf nachzeichnen, der die als behindert geltende Person zentral setzt:

Figuration 1: Bei Hilfen für Kinder und Jugendliche mit zugeschriebener (drohender) Behinderung findet in der aktenförmigen Bearbeitung eine individualisierende Kategorisierung des behinderungsbedingten Bedarfs der Person weitgehend ohne Berücksichtigung der Verhältnisse und Wechselwirkungen statt.

In der durch das bearbeitende Sozialamt beantragten amtsärztlichen Stellungnahme – fachärztliche Einschätzungen spielen, sowohl bei Eingliederungshilfen innerhalb als auch außerhalb des Jugendamtes, in den sozialstaatlichen Verfahren eine herausragende Rolle (Molnar 2021, S. 140 ff.) – zu Elena Petrović wird formuliert:

„Elena ist das älteste von insgesamt 3 Geschwistern und wohnt mit den Geschwistern zusammen bei den Eltern. Die Kinder sind in Deutschland geboren. Bei den Eltern besteht Migrationshintergrund, Familiensprache ist Roma und Albanisch. Bereits im Kindergarten fielen bei Elena in allen Entwicklungsbereichen auffällige Defizite gegenüber Gleichaltrigen auf, insbesondere auch im sprachlichen Bereich. In der Einschulungsuntersuchung zeigten sich dann auch deutliche Schwächen in allen getesteten Bereichen“ (Petrović_S, S. 21 f.)

Elena wird einführend im Kontext ihres – hier: familiären – Umfelds beschrieben: Es werden u. a. die Anzahl der Geschwister, der Migrationshintergrund der Eltern und die Familiensprache – als Abweichung – angesprochen. Diese Beschreibung wird jedoch schnell auf Elena und die ihr zugeschriebenen ‚auffälligen Defiziten in allen Entwicklungsbereichen‘ enggestellt. Es wird also nicht einzig Elena thematisiert, ihre Umwelt aber nur in sehr reduzierter Weise in groben Zügen angerissen. Zudem bleibt eine Bezugnahme auf mögliche Barrieren aus, bspw. werden im Zusammenhang mit dem Kindergarten zwar die „Gleichaltrigen“ erwähnt, scheinen aber lediglich als Vergleichsschablone für Elenas als defizitär beschriebene Entwicklung zu dienen.

Inwiefern die Kindergartengruppe als Barriere oder förderlich eingeschätzt wird, bleibt ebenso außen vor wie weitere Rahmenbedingungen, die für Elenas „volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ (§ 1 SGB IX) relevant sein könnten. Einhergehend mit dieser Fokussierung auf die als behindert diagnostizierte Person scheinen Teilhabe und deren Ermöglichung sowie Verhinderung an Elena angesiedelt zu sein. Es zeigt sich eine exklusive Problemträger_innenschaft sowie, damit korrespondierend, der Ansatz zur Problembearbeitung überwiegend bei der als behindert kategorisierten Person. Allerdings wird durch diese Fokussierung auf die als behindert geltende Person bzgl. der Problemkonstruktion nicht das betroffene Kind bzw. die_der betroffene Jugendliche ins Zentrum der Hilfe gerückt:

Figuration 2: Es findet eine Fokussierung auf die personenbezogenen, als behinderungsbedingt geltenden Herausforderungen für Erziehungspersonen (Eltern, Sorgeberechtigte, Professionelle …) und Institutionen statt.

In der Akte zu Jonas Paul Weber fällt durchgängig eine weitgehende nicht-Thematisierung seiner Person und insbesondere seiner Belange auf. Diese nicht-Thematisierung wird durch verschiedene Akteur_innen – die Mutter, eine Beratungsstelle für Menschen mit Behinderungen, Amtsärzt_innen, Lehrer_innen – praktiziert, so dass eine strukturell bedingte Fokusverschiebung angenommen werden kann. Bspw. greift die Beratungsstelle für Menschen mit Behinderungen in einer Stellungnahme ausführlich die Lebenssituation der sorgeberechtigten Großmutter auf: Angesprochen werden deren gesundheitliche Probleme, Care-Aufgaben, Haustiere und vieles mehr, während Jonas lediglich als die Person dargestellt wird, um die sich gekümmert werden müsse. Diese Verschiebung der Perspektive auf Betreuungspersonen und Institutionen zeigt sich auch im Bericht der Kinder- und Jugendpsychiatrie:

„Im Laufe des letzten halben Jahres habe er im Verhalten und in der Führbarkeit in der Kindertagesstätte deutliche Fortschritte gemacht. Gegen Mittag gebe es häufig eine Phase, in der es mit ihm schwierig sei […]. Häufig weine er dann für kurze Zeit.“ (Weber_S, S. 13)

Statt zu thematisieren, warum es für ihn schwierig sei (schließlich weine Jonas), wird formuliert, dass es mit ihm, also für andere, schwierig sei. Die Fokusverschiebung gipfelt in der Empfehlung zur stationären Unterbringung in der amtsärztlichen Stellungnahme, in der die Unterbringung nicht in Hinblick auf Jonas, sondern auf seine Großmutter empfohlen wird:

„Aus unserer Sicht ist eine vollstationäre Unterbringung des Kindes dringend zu empfehlen, da die Großmutter Frau Gabriele Weber mit der Sorge für das Kind bei den gegebenen Verhältnissen überlastet ist.“ (Weber_S, S. 23)

Welche Bedürfnisse Jonas mitbringt – etwa welche Einrichtung geeignet sein könnte, wie er zur Unterbringung steht, warum er weint und wie ihm zu helfen sei – wird nicht angesprochen. Als Begründung für die Unterbringung werden nicht Jonas’ Bedürfnisse und Bedarfe, sondern die der Großmutter angeführt. Es gerät also das Individuum aus dem Blick, während Personen und Institutionen, die es umgeben, in ihren Bedarfen zentral gesetzt werden.

Einerseits wird also das Individuum in der aktenförmigen Fallkonstitution primär problemverursachend konzipiert und vorrangig ihm die Bürde der Problembearbeitung aufgeladen, da in erster Linie an ihm das – als behinderungsbedingt geltende – Problem verortet wird. Andererseits wird das Individuum gleichzeitig in Hinblick auf seine Bedürfnisse und Bedarfe als nachrangig entworfen. Was sich hier zeigt, ist eine Verantwortungsumkehr.

Verantwortliche Fallarbeit – Implikationen für eine inklusive Gestaltung der Hilfen für alle Kinder und Jugendliche

Verantwortung manifestiert sich mit Martin Buber (2005) generell im Verhältnis zwischen Menschen untereinander: In einem dialogischen Verständnis der (sozialen) Welt braucht das ‚Ich‘ das ‚Du‘, denn es besteht nur in der Beziehung und benötigt die Begegnung mit anderen zur Selbstaktualisierung. Eine verantwortliche Beziehung zum ‚Du‘ kann nur dann gelingen, wenn man sich auf sein Gegenüber wirklich einlässt, was bedeutet, das Gegenüber als ‚Du‘ wahrzunehmen und anzuerkennen. Dies beinhaltet, dem Gegenüber Anerkennung ohne Zweckbezug zu gewähren (Buber 2005; Arendt 1994) und auf die Konkretion bzw. die „Begebenheiten des persönlichen Alltags“ (Buber 2005, S. 169) zu antworten. Verantwortung zeigt sich dann im „wirkliche[n] Antworten“ (Buber 2005, S. 169), d. h. in der wahrhaftigen, ernsthaften Reaktion auf das Gegenüber:

„Ein Hund hat dich angesehn, du verantwortest seinen Blick, ein Kind hat deine Hand ergriffen, du verantwortest seine Berührung, eine Menschenschar regt sich um dich, du verantwortest ihre Not“ (Buber 2005, S. 170).

Verantworten bedeutet dabei nicht, in der konkreten Handlung Änderung zu bewirken – etwa konkrete Not zu lindern – sondern im Tun oder Nicht-Tun, im Sprechen und Handeln dem Gegenüber zu antworten, auf es zu reagieren, also in Dialog mit diesem Gegenüber zu treten.

Eine verantwortliche Gestaltung von Fallarbeit bedeutet in diesem Sinne, in nicht-standardisierter Form auf das konkrete Gegenüber und seine Lebenswelt – die Gegebenheiten seines persönlichen Alltags – einzugehen, es als Subjekt der Fallarbeit zu begreifen und die Bearbeitung von Problemen anzugehen, ohne dabei weiterführende Zwecke (etwa die „Führbarkeit“ (Weber_S, S. 13) des Kindes in der Kita oder die Befähigung zur Teilnahme am Arbeitsmarkt) zu verfolgen. Insofern ist die derzeit praktizierte Eingliederungshilfe, wie sie in den empirischen Beispielen nachgezeichnet wurde, nicht verantwortlich gestaltet: Zwar wird zunächst der junge Mensch fokussiert, jedoch in einer zweckmäßigen Reduktion, die eine individualisierende Problemzuschreibung zulässt und zugleich den jungen Menschen mit seinen Bedarfen und Bedürfnissen in den Hintergrund rückt. Eine wirkliche Antwort auf die Konkretion, ein Dialog mit dem jungen Menschen und eine Begegnung ohne Zweckbezug bleiben aus.

Die Fallarbeit ist in institutionelle Bezüge eingebettet. Gesellschaftliche Institutionen sollen, so Axel Honneth, als „ausdifferenzierte, um Normen der reziproken Achtung kristallisierte Handlungssphären“ (2010) wechselseitige Anerkennung ermöglichen – realisieren diesen Anspruch aber nicht immer: Teils stehen Zugangshürden, Vorgaben zu Verfahrensschritten, Legitimationszwänge u. v. m. einem wirklichen aufeinander Einlassen entgegen. Institutionelle Verhältnisse ermöglichen und/oder verhindern somit, im Buber’schen Sinne wirklich zu antworten – wobei sich mit Hans-Uwe Otto eine deutliche Tendenz zur Verhinderung in Hinblick auf „Sozial- und Jugendhilfeinstitutionen“ (Otto 1991, S. 2) konstatieren lässt. Gerade etwa die in der Eingliederungshilfe geforderte und praktizierte Orientierung an standardisierten Vorgehensweisen, die allerdings auch zu (Binnen‑)Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Verfahren beitragen kann (Molnar 2021, S. 150), macht ein wirkliches Antworten unmöglich, denn dieses schließt mit dem Bezug auf die Konkretion routinisierte Bearbeitungen, Systeme, Techniken, Programme und Standardisierungen weitgehend aus.

Vor dem Hintergrund der zukünftigen Gesamtzuständigkeit stellt sich die Frage, wie das Jugendamt und seine Akteur_innen der dann partiell neuen Verantwortung für das Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen gerecht werden kann und soll. Wird diese Verantwortung im Sinne Bubers verstanden, so müssen die derzeitigen Fallbearbeitungspraxen der Eingliederungshilfe maßgeblich verändert werdenFootnote 5, denn die nachgezeichnete Verantwortungsumkehr ist als (strukturelles) Scheitern des dialogischen Prozesses und somit als nicht verantwortliches institutionelles Handeln zu begreifen. Um Verantwortung in der Fallbearbeitung zu realisieren, bedarf es u. a. einer Auflösung der exklusiven Problemträger_innenschaft, einer Verschiebung des Ansatzes der Problembearbeitung (der nicht überwiegend bei der als behindert geltenden Person liegen sollte), der Schaffung eines angemessenen Verhältnisses bei der Berücksichtigung unterschiedlicher Bedarfe und Bedürfnisse verschiedener Fallbeteiligter sowie des Hinterfragens von Standardisierungen i. S. eines ‚wirklichen Antwortens‘.