Aufgrund ihrer Stellung als Zentralorganisation für die Koordination von Kinderschutzfällen stehen Kinderschutzambulanzen im Blickpunkt aktueller Diskussionen. Die im Beitrag präsentierten und in der Thüringer Kinderschutz Ambulanz (TAKS) erhobenen Fallzahlen und Merkmale zu Gefährdungsfällen deuten eine Zweiseitigkeit des medizinischen Kinderschutzes an.

Einerseits spiegeln sich in diesen FallzahlenFootnote 1 auch Konjunkturen öffentlich geführten Kinderschutzdebatten. Daran lässt sich veranschaulichen, dass Kinderschutzaufgaben zunehmend im Medizinsystem verfangen bzw. auch medizinische Perspektiven im Kinderschutz um öffentliche Aufmerksamkeit ringen. Andererseits ist die medizinische Kinderschutzarbeit auf den konkreten Einzelfall bezogen. Sie kann nur dort Verantwortung beanspruchen, wo es ihr gelingt, Gefährdungen ans Licht zu bringen. Beide Seiten des medizinischen Kinderschutzes werden im Beitrag angesprochen. Zuerst richtet sich unser Blick auf Fallzahlen und Gefährdungsmerkmale medizinischer Kinderschutzfälle in der TAKS, anschließend werden Handlungsprinzipien beschrieben, die der Aufklärung von Gefährdungsfällen zugrunde liegen.

Die Entdeckung des medizinischen Kinderschutzes und die Aufdeckung von Kinderschutzfällen

Der medizinische Kinderschutz ist kein gänzlich neues Thema, er unterliegt Konjunkturen und mithin wandlungsfähigen Vorstellungen über die Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen. Historisch und professionssoziologisch wird der Schutz des Kindeswohls aber zunehmend als gesellschaftliches Problem wahrgenommen, worauf auch Professionen mit neuen Diagnosen und Interventionen antworten (Abbott 1988). Die gegenwärtige Entwicklung im Kinderschutz ist daher auch ein Resultat gestiegener Aufmerksamkeiten für Kindheit(en) im Sinne einer zunehmend schützenswerten gesellschaftlichen Ressource (exempl. Betz und Bischoff 2013).

Schon seit Mitte des 19. Jh. differenzieren sich medizinische Kinderschutzdiagnosen, zuerst basierend auf sichtbaren Misshandlungsanzeichen, zunehmend abgestützt durch bildgebende Verfahren, dann aber auch auf soziale Indikatoren bezogen, beispielsweise auf das Erziehungsverhalten der Eltern oder Entwicklungsbeschränkungen von Kindern (Sucherdt 2020; Gitter 2012; Herrmann 2011). Die ‚Entdeckung‘ des medizinischen Kinderschutzes lässt sich insofern als Medikalisierungsprozess beschreiben, als „Wahrnehmung sozialer Probleme in medizinischen Termini“ (Wehling et al. 2007, S. 552). Es lassen sich aber auch Gegenbewegungen auf Seiten der Familien feststellen, die zu einer Aufwertung medizinischer Expertisen geführt haben. Familien in prekären Lebenslagen verschließen sich zunehmend vor einer ‚Sichtbarmachung des Familialen‘ (Richter 2012) bzw. finden Gegenstrategien, um ihre Erziehung vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Im Zuge solcher „Verschattungen“ (Heinitz 2020, S. 131) wird es zunehmend schwieriger, Gefährdungsinformationen „aus dem Arkanbereich familiärer oder häuslicher Erziehung herauszulösen“ (Amos et al. 2011, S. 10).

Die Entstehung von Kinderschutzambulanzen ist in diese Entwicklungen eingebunden. Kinderschutzambulanzen werden typischerweise, und selbst wenn sie sich regional unterscheiden, als eine Anlaufstelle zur Aufklärung von Gefährdungsfällen, als Ort von Kontakten zu Familien und als Beratungs- und Koordinierungsstelle für angeschlossene Hilfesysteme beschrieben (siehe dazu die anderen Beiträge in diesem Schwerpunkt.). Die allgemeine Bedeutung von Kinderschutzambulanzen liegt in der Annahme, dass durch ihre Tätigkeiten auch ‚mehr‘ Fälle ans Licht gebracht werden. Insofern wird bei der Übernahme von Kinderschutzaufgaben auch das vorrangig auf Krankheit ausgerichtete Berufsprofil der Medizin um eine Aufklärungs‑, Aufdeckungs- oder Ermittlungsfunktion erweitert (Bode und Turba 2014).

Die Einrichtung der TAKS: Fallzahlen und Organisation

Kinderschutzgruppen – ein Zusammenschluss am Kinderschutz interessierter Kindermediziner_innen (Kinderärzt_innen verschiedener Subspezialisierung oder/und Kinderchirurg_innen) – gibt es an sehr vielen, auch kleineren Klinikstandorten. Eine Kinderschutzambulanz hingegen stellt nach aktueller Lesart eine Institution an Kliniken der Maximalversorgung dar. Die TAKS ist darüber hinaus gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität und Multiprofessionalität. Zu den wesentlichen Akteuren gehören neben Kinderärzt_innen und Kinderchirurg_innen weitere medizinische Fachdisziplinen wie die Kinderradiologie, die Rechtsmedizin und die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Insbesondere für die Aufklärung von Verdachtsfällen im Bereich sexueller Gewalt ist darüber hinaus die Kinder- und Jugendgynäkologie beteiligt. Schwierig erweist sich bei Kinderschutzfällen die Kooperation zwischen Erwachsenen- und Kindermedizin. Maßgeblich aufgrund der oben angedeuteten Entwicklung von spezifischen und auf den Kinderkörper gerichteten Misshandlungsdiagnosen, wird in der TAKS die kinderärztliche Medizin als zuständige Fachdisziplin angesehen. Von zentraler Bedeutung für die Bearbeitung medizinischer Kinderschutzfälle ist darüber hinaus die Koordination der Fallaufnahme, in der Ambulanz realisiert durch eine eigens dafür geschaffene Koordinierungsstelle (TAKS Koordinator_in). Kinderkrankenpfleger_innen sind deswegen in die Kinderschutzarbeit einbezogen, weil sie den Stationsalltag absichern und bei einer stationären Aufnahme von Kindern auch das Verhalten der Eltern im Umgang mit ihren Kindern beobachten können.

Die Thüringer Kinderschutzambulanz geht auf eine Initiative der Kinderchirurgie am Universitätsklinikum Jena zurück und verpflichtet sich seit ihrer Gründung 2006 auf eine Aufklärung medizinisch indizierter Kinderschutzfälle. Der Aufbau einer zentralen Einrichtung in Thüringen fällt zeitlich mit dem seit 2005 rechtlich konkretisierten (§ 8a SGB VIII) Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Die Aufgabe, die sich die Kinderschutzambulanz damit stellte, war einerseits eine interdisziplinäre Vernetzung mit anderen Kinderschutzakteuren, wie Sozialpädagog_innen, Jurist_innen und eben Mediziner_innen unterschiedlicher Fachrichtungen, aber gleichermaßen der Aufbau eines ‚Frühwarnsystems‘, um „rechtzeitig dort einzugreifen, wo Kinder unseren Schutz brauchen“, wie der damaliger Leiter der TAKS auf der ersten Thüringer Kinderschutzkonferenz 2007 betonte (Pressemitteilung UKJ vom 14.02.2007). Über 1200 Teilnehmer_innen, zu großen Teilen aus pädagogischen Handlungsfeldern, kamen zu dieser Kinderschutzkonferenz in Jena zusammen.

Seit 2007 werden Kinderschutzfälle in der TAKS nach persönlichen Merkmalen erfasst. In der ersten Phase des Aufbaus der Kinderschutzambulanz bewegen sich die Fallzahlen in einer Größenordnung zwischen 40 bis 60 Fällen pro Jahr. Nach Einführung der Koordinationsstelle (zunächst gefördert durch das Thüringer Ministerium für Familie und Gesundheit) 2013 und deren Besetzung durch eine mit der Kinderschutzarbeit vertrauten Fachkraft kam es in Folge der daraufhin stattfindenden Öffentlichkeitsarbeit und der direkten Kommunikation mit Thüringer Jugendämtern zu einem sprunghaften Anstieg der Konsultationszahlen auf über 120 Fälle zwischen den Jahren 2013 bis 2015. Nach Beendigung der Förderung durch das Ministerium sind die Fallzahlen wieder rückläufig, auch eine Folge der seither reduzierten Außenaktivitäten der Koordinierungsstelle (Eckoldt-Wolke 2014). Der massive Anstieg der Fallzahlen fällt in die Zeit des Inkrafttretens des bundesdeutschen Kinderschutzgesetzes (BKiSchG) von 2012 und bestätigt die dort formulierte Forderung, präventive Netzwerkstrukturen ‚Früher Hilfen‘ auch durch den Einbezug und Austausch von Informationen zu medizinischen Anlaufstellen aufzubauen (insbesondere nach dem KKG). Abb. 1 fasst neben dem Fallaufkommen auch die Verteilung der erhobenen Gefährdungsmerkmale zusammen.

Abb. 1
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Quelle: Erhebung und Auswertung TAKS

Nicht verwunderlich ist der Einbezug der Kinderschutzambulanz bei Fällen von körperlicher Gewalt oder bei einem Missbrauchsverdacht. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle geht es im Rahmen solcher Fallvorstellungen um eine mehr oder minder eindeutige Feststellung von Misshandlungen, einschließlich einer fachmedizinischen Dokumentation. Nur ein geringer Prozentsatz der Überweisungen an die TAKS bezieht sich hingegen auf ‚sozial indizierte‘ Gefährdungen, die in der Statistik in die Rubrik ‚Vernachlässigung‘ fallen. Überwiegend werden weibliche Kinder und Jugendliche vorgestellt (ca. 63 % für 2020). Für das Altersspektrum lässt sich kumuliert auf beide Geschlechter wiederum ein Fokus auf die bis 4‑Jährigen (ca. 34 %) erkennen. Die frühe Kindheit zeigt sich in der Patientenvorstellung als besonders vulnerables Lebensalter. Bei den dokumentierten Familienkonstellationen zeigen sich zwei weitere Befunde: Einerseits der hohe Prozentsatz unbekannter Personen (41,9 %), weil keine Informationen über Tatverdächtige vorliegen und andererseits die Familie bzw. das häusliche Umfeld als ‚Tatort‘ von Übergriffen (Lamnek et al. 2012), dort mit einem Schwerpunkt auf männliche Familienmitglieder (ca. 31 %). Eine weiterführende Untersuchung aus den Jahren 2014 bis 2016 zur Frage des Risikos einer Gefährdung bezogen auf Familienkonstellationen konnte das anderen Orts nachgewiesene höhere Gefährdungsrisiko für Kinder aus Patchworkfamilien nicht bestätigen (Rapoport 2021; Wilson und Daly 1988).

Die Konsultationsanfragen der TAKS stammten 2020 ganz überwiegend von Mitarbeiter_innen (meist) Thüringer Jugendämter (35 %). Seltener von Mitarbeiter_innen aus Kliniken (19 %) und von Personen aus dem näheren Umfeld des Kindes (13 %) und noch seltener veranlassten niedergelassene Kinderärzt_innen eine Vorstellung (10 %). Die Polizei ist wiederum mit einem Anteil von 14 % in der Meldestatistik verzeichnet (siehe Abb. 2).

Abb. 2
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Quelle: Erhebung und Auswertung TAKS

Die Aufklärungszahlen (siehe Abb. 3), die nach ärztlicher Einschätzung eine Gefährdung oder Misshandlung bestätigen, zeigen ein uneinheitliches Bild für die letzten fünf Jahre. Der Wert bestätigter Gefährdungen schwankt zwischen über 50 % (2017) und knapp über 30 % (2016 und 2020). Auch der Wert uneindeutiger Kinderschutzfälle, die medizinisch nicht aufgeklärt werden konnten, korreliert nicht mit den absoluten Meldezahlen. Bei meldestarken Jahrgängen (wie 2015) ist also nicht zwingend mit einer höheren Aufklärungsquote zu rechnen, wie auch umgekehrt nicht bei weniger Fällen sich eindeutigere Befunde nachweisen lassen, weil dann beispielsweise nur noch ‚gravierende‘ Fälle der TAKS vorgestellt würden. Die Statistik scheint hier nur eine begrenzte Aussagekraft zu besitzen, macht aber deutlich, dass im Rahmen des öffentlichen Kinderschutzinteresses die Anforderungen an ärztliches Handeln tendenziell zu- anstatt abnehmen. Grundsätzlich richtet sich der Abklärungsauftrag der TAKS mehrheitlich auf ‚unklare‘ Fallkonstellationen. Wenn also Hinweise auf Gefährdungen vorliegen, aber die gegebenen Verdachtssituationen eine eingehendere Fallprüfung nötig machen. Solche Formen der ‚Enthüllung‘ lassen sich meist von einem Anfangsverdacht leiten und haben in der weiteren Fallarbeit besondere Herausforderungen zu bewältigen. Worin diese Herausforderungen liegen, wird im zweiten Teil des Beitrags besprochen.

Abb. 3
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Quelle und Auswertung TAKS

Handlungsprinzipien im ärztlichen Kinderschutz

Eine an der Aufdeckung von Gefährdungen ausgerichtete medizinische Verdachtsabklärung folgt den grundlegenden Prinzipien professioneller Fallarbeit an entscheidenden Stellen. Trotz ihres Ermittlungsauftrags ist bei der Bearbeitung von Verdachtsfällen von einem „Diagnose- und Behandlungsschema“ (Vogd 2002) auszugehen. Die nachfolgenden Darstellungen medizinischer Tätigkeiten bezieht sich auf ein idealtypisches Ablaufschema und sind zentrale Befunde einer vergleichenden Kinderschutzstudie mit Ärzt_innen aus unterschiedlichen Organisationskontexten (niedergelassene Ärzt_innen, Fachärzte aus unterschiedlichen Kliniken) im lokalen Umfeld eines Jugendamts, aber einschließlich Fachkräften aus der TAKS. Das rekonstruierte Handlungsmuster reflektiert wichtige Bedingungen der Fallarbeit bei der Aufklärung von Kinderschutzfällen. Wo sich Besonderheiten für die Arbeitsweisen der TAKS ergeben, wird in der folgenden Beschreibung explizit darauf hingewiesen. Eine Übersicht dazu findet sich in Franzheld (2017).

Ausgangspunkt der Fallarbeit bilden ‚verdeckte Anamnesen‘ (Anamnese), weil Familien selten und auch gegenüber medizinischen Fachkräften offen über Gefährdungen sprechen. Bei der Diagnoseerstellung (Diagnose) ist laut Aussage der befragten Ärzt_innen die Berufserfahrung von entscheidender Bedeutung. Der Einbezug von Fachkolleg_innen ist hingegen bei schwierigen Fallkonstellationen geboten sowie die Kooperation mit angrenzenden Berufsgruppen, wenn nach der Bestätigung eines Verdachts konkrete Schutzhandlungen (Intervention) ergriffen werden sollen. Trotz medizinischer Expertenkompetenzen können Kinderschutzfälle nicht einfach festgestellt werden. Die verantwortlichen medizinischen Fachkräfte betonen in diesen Abklärungsprozessen ihre persönlichen Interpretations- und Verstehensleistungen.

Aufmerksamkeit im Umgang mit Gefährdungsspuren

Erste Sondierungen in der ärztlichen Konsultation, die auch den Beginn der Fallarbeit markieren, lassen sich als ‚verdeckter‘ Anamneseprozess beschreiben. Dieser Prozess ist auf die Abwägung bezogen, ob Verletzungsspuren (sofern sie zu diesem Zeitpunkt vorliegen) mit den geschilderten Beschreibungen für ihre Entstehung einen in sich stimmigen Erklärungszusammenhang ergeben. Solche teilweise auch lehrbuchartigen Fragen (Herrmann 2011), die Ärzt_innen Familienmitgliedern zum Hergang einer Verletzung stellen, übernehmen die Funktion einer Glaubwürdigkeitsprüfung. Sie suchen in den Schilderungen der Familienangehörigen gezielt nach Inkonsistenzen oder Plausibilitätsproblemen und lassen sich analytisch als ‚dialogische Introspektion‘ (Burkart et al. 2010) beschreiben. In diesen inneren Befragungen geht es um eine Kombination von Anzeichen und Erklärung. Die symptombasierte Medizin konzentriert sich auf die konkrete Verletzungsspur, die sprechende Medizin fragt nach ihrer Geschichtlichkeit im Sinne einer Erklärung für ihre Entstehung (siehe Kalitzkus et al. 2009). Bei dieser frühen Phase der Fallprüfung geht es um die für die Weiterbearbeitung entscheidende Frage, ob sich in diesen Überlegungen Hinweise auf eine Gefährdung oder eine Verletzung konkretisieren. Denn solche öffnenden Fragen müssen früher oder später auf ihre praktischen Folgen hin bewertet werden. Weitere Abklärungen sind meist gekennzeichnet durch ein sprachlich angezeigtes Stimmigkeitsproblem (bspw. „Hier stimmt etwas nicht“). Der Umgang mit Verdachtsanzeichen lässt sich insofern als ein ‚Sinnbildungsprozess‘ (Weick 1995) beschreiben, dem es darum geht, ‚Sehen und Hören‘ im Bild der Gefährdung zusammenzufügen. Die ärztliche Konsultation eröffnet dafür einen Beobachtungsraum, gleichzeitig verschärft die enge Taktung der Patientenvorstellung den Handlungsdruck, diesen Raum auch im Sinne des selbst gesetzten Kinderschutzauftrags zu nutzen. Erste Fallzugriffe werden von Ärzt_innen daher gekennzeichnet als ‚einsame Entscheidungen‘, weil sie Fragen der beruflichen Verantwortung aufwerfen, aber immer auch das Problem der falschen Anschuldigung mit sich bringen (siehe auch Sigad et al. 2019). Bei Fallvorstellungen, die in der Kinderschutzambulanz stattfinden, zeigen sich besondere Modulationen dieser Ausgangssituation. Während niedergelassene Ärzt_innen deutlicher vor dem Problem stehen, einen Anfangsverdacht aufgrund ihrer eigenen Wahrnehmung zu formulieren, hat bei Vorstellungsterminen in der TAKS bereits eine von der überweisenden Einrichtung primäre Rahmung auf einen Gefährdungsverdacht stattgefunden. Die Schwierigkeit wird anschließend darin gesehen, aus diesen vorgegebenen Arbeitsaufträgen herauszutreten, sich also einen eigenen Eindruck von den Kindern zu verschaffen.

Medizinische Einschätzungen von Gefährdungen

Medizinische Einschätzungen zu Kinderschutzfällen stützen sich auf mehrere Säulen. Im Rahmen des medizinischen Handlungsablaufs sind sie der Diagnoseseite zuzurechnen und stehen für den Übergang erster Vermutungen hin zu belastbaren Urteilen. In der medizinischen Abklärung wird auch von TAKS-Mitarbeiter_innen die Treffsicherheit ‚richtiger‘ Einschätzung eng mit klinischer Erfahrung verbunden. Die Wahrscheinlichkeit für ‚falsche Diagnosen‘, so ihre Überzeugung, verringere sich im gleichen Ausmaß zur Anhäufung von Berufserfahrung. Insofern wird trotz technischer Expertisen und fachlicher Spezialisierungen auf persönliche Diagnosekompetenzen hingewiesen. Zwar spielen Misshandlungsdiagnosen als gedankliche Referenzpunkte dabei eine wichtige Rolle. Die eigentliche Leistung in der Begutachtung liegt aber in den Verbindungen, also in den Schlussfolgerungen, die zwischen Verdachtsanzeichen und Diagnosen gezogen werden. Die Herausforderung für medizinische Fachkräfte besteht jedoch darin, in ‚zirkulären Diagnoseprozessen‘ (Schubert 2011) den Gefährdungsverdacht aufrechtzuerhalten, d. h. Körperspuren und weitere Abklärungsmaßnahmen konsequent aufeinander abzustimmen, aber auch gedanklich zusammenzuhalten. In diesen Abläufen sind medizinische Diagnosen einerseits fachliche Orientierungshilfen, sie sind aber auch Testkategorien, um einen Gefährdungsverdacht im Medizinsystem zu prozessieren. Der Vorteil im Gebrauch solcher Diagnosen, auch im Vergleich zu anderen Berufsgruppen, liegt im Vermeiden früher Anschuldigungen. Je differenzierter Diagnosen argumentieren, desto unwahrscheinlicher werden falsche Verdächtigungen. Die befragten Ärzt_innen sehen ihren Vorteil letztlich darin, den Weg zwischen Diagnose und Abklärung mehrmals gehen zu können. Mit diesen Abklärungsverfahren reduzieren sich ihre Unsicherheiten gewissermaßen im Ausschlussverfahren. Gegenüber einmaligen Gefährdungseinschätzungen, wie sie beispielsweise Jugendämter vornehmen, werden solche Exklusionsverfahren als deutlich belastbarer angesehen (Büchner 2018, S. 151).

Verdachtsabklärung und die Möglichkeiten medizinischer Fallsteuerung

Medizinische Kinderschutzfälle können zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Fachrichtungen überwiesen werden. Außerhalb des Medizinsystem werden beispielsweise Kooperationen mit Jugendämtern, Polizeibehörden und Schulen eingegangen. Innerhalb des Medizinsystems werden unterschiedliche Fachrichtungen einbezogen und auch die Zusammenarbeit zwischen Kliniken, niedergelassenen Allgemein- oder Kinderärzt_innen gewinnt an Bedeutung (siehe beteiligte Kooperationspartner oben). Die jeweils primär wahrgenommenen Hinweise, die auch für eine Gefährdung sprechen, strukturieren die anschließenden Partnerschaften zu Fachkolleg_innen. Überweisungen, die innerhalb des Medizinsystems stattfinden, werden von Ärzt_innen als fachlicher Absicherungsmechanismus beschrieben. Sie lassen sich in der Regel nur mit einer besonderen Expertise begründen und führen häufig zu geschlossenen ‚Überweisungsnetzwerken‘. Wenn solche Netzwerke fachliche Überzeugungen teilen, gelingt es ihnen auch besser, sich gegenüber einem Desinteresse am Kinderschutz abzuschirmen. Überweisungen sind insofern immer auch ein Mechanismus für kollegiale Kontrollen (Freidson 1975, S. 68). Beispielsweise dann, wenn niedergelassene Kinderärzt_innen ihren Kolleg_innen Kinder unter anderen Vorzeichen vorstellen (also ohne konkrete Hinweise auf einen Gefährdungsverdacht) und sich dadurch eine zweite Meinung im Hinblick auf ihren Verdacht einholen. Die TAKS steht meist am Ende der medizinischen Überweisungskette. Einerseits aufgrund ihrer fachlichen Spezialisierung, aber auch, weil niedergelassene Ärzt_innen durch ihren Einbezug einen Vertrauensbruch mit Eltern antizipieren.

Schwieriger gestalten sich Interventionen, wenn sie nicht oder nicht ausschließlich auf medizinischem Terrain stattfinden. Insbesondere Fragen, die sich auf den weiteren Verbleib von Kindern richten, werden von TAKS-Mitarbeiter_innen als zentrale Abstimmungsfragen beschrieben. Der Kooperationsdruck zur Kinder- und Jugendhilfe steigt erst am Ende ihrer Zuständigkeit, wenn also zeitliche Grenzen der Abklärung erreicht werden oder medizinische Versorgungen an ein vorläufiges Ende kommen. Konflikte, die in der Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe auftreten, sind meist auf unterschiedliche Schutzvorstellungen zurückzuführen. Dabei geht es nicht um konkurrierende Deutung, die sich auf die ‚eigentliche‘ Gefährdungseinschätzung richten, sondern um Perspektivfragen, die die weitere Unterbringung der Kinder betreffen. Bei positiven Misshandlungsbefunden plädieren medizinische Fachkräfte häufig für eine Fremdunterbringung. In diesen Abstimmungsprozessen geht es dann oftmals um grundlegende Positionierungen zwischen dem Schutz des Kindes und der Wahrung von Elterninteressen. Bei bestätigten Misshandlungsfällen wird es trotz der TAKS schwieriger, ‚Hilfen aus einer Hand‘ zu organisieren. Erstens, weil diagnostische Kompetenzen und anschließende Hilfen bei unterschiedlichen Institutionen liegen, zweitens aber die mitunter komplexen Fallkonstellationen eine enge Kooperation unumgänglich machen. Kinderschutzaufgaben lassen Jugendämter und TAKS zusammenrücken, die dabei geschaffenen Schnittstellen müssen aber auch koordiniert werden. So entstehen im Kinderschutz tendenziell immer größere ‚Diagnose- und Behandlungsnetzwerke‘ (Schubert und Vogd 2009).

Zusammenfassung

Aus den statistischen Kennzahlen der TAKS und den beschriebenen Handlungsprinzipien lassen sich einige Schlussfolgerungen zur Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe ziehen. Kinderschutzambulanzen sind eingewoben in ein öffentliches Interesse für Kinderschutzfälle. Darauf verweisen auch die Fallzahlen vor und nach der Besetzung der TAKS-Koordinierungsstelle. Es ist davon auszugehen, dass auf der einen Seite durch Aktivitäten der Fortbildung sowohl innerhalb als auch außerhalb des Medizinsystems, der gezielten Bekanntmachung ihrer Leistungen bei öffentlichen Trägern der Kinder- und Jugendhilfe und durch die Bereitschaft zur Koordination, Kinderschutzfälle im lokalen Umfeld der Ambulanz auch häufiger bearbeitet wurden. Auf der anderen Seite ist aber auch festzustellen, dass sich die Leistungen der TAKS vorrangig im medizinischen Bereich bewegen und in erster Linie auf das Erkennen von Misshandlungen richten. Verantwortlich für Interventionen, die sich auf Fragen des Verbleibs von Kindern richten, bleiben Familiengerichte und Jugendämter bzw. die dort verantwortlichen ASD-Mitarbeiter_innen. Der medizinische Kinderschutz kann Entscheidendes zur Fallklärung beitragen, wenn es darum geht, körperliche Gewalt gegen Kinder zu untersuchen. Also die Frage zu klären, ob Verdachtsanzeichen von einer Misshandlung herrühren oder auch von einer akzidentellen Verletzung stammen können. Allein diese Frage kann mit klinischer und ggf. apparativer Diagnostik sicher beantwortet werden. Außerdem verfügen Kindermediziner_innen qua Profession über einen ‚klinischen Blick‘ für die Familiensituation und sind geschult in Exploration und Interpretation. Dies befähigt sie in ihrer täglichen Praxis, Gefährdungen zu erkennen oder Hinweisen auf sie nachzugehen. Die angedeuteten Konflikte zwischen medizinischen Perspektiven und den Handlungsmöglichkeiten der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe lassen sich durch ein berufliches Fremdverstehen reflektieren. Gemeinsame Kinderschutzziele können dann erreicht werden, wenn sich beide Seiten darauf verständigen, worin ihre besonderen Leistungen liegen und welche Grenzen sie damit auch zwischen den Hilfesystemen ziehen.

Kooperationen zur Ambulanz sind meist dort geboten, wo Familien keine Bereitschaft zeigen, Gefährdungen offen zur Sprache zu bringen. Die ärztliche Überzeugung, Entscheidendes zum Kinderschutz beizutragen, ist letztlich auf ihren Zugang zu Familien und die Möglichkeit zur gezielten Untersuchung des Kinderkörpers zurückzuführen. Andererseits sind medizinische Einschätzungen nicht nur abhängig von diesen Beobachtungen, sondern auch von der Möglichkeit, sie diagnostisch einzuordnen, also im je spezifischen Einzelfall fachlich auf den Prüfstand zu stellen.

Eine zentrale Herausforderung, und das betrifft alle beteiligten Einrichtungen und Fachdisziplinen, ist darin zu sehen, dass sich Fallabklärungen auf einem schmalen Grat zwischen ‚Verdacht‘ und ‚Wirklichkeit‘ bewegen. Das kann als leicht zu unterschätzende Aufgabe verstanden werden, die Sensibilisierung auf das Kinderschutzthema nicht mit einem Generalverdacht gegenüber Familien gleichzusetzen. Insofern sind Kooperationen zwischen Medizinsystem und Kinder- und Jugendhilfe auch darauf zu befragen, welche Perspektiven in Fallklärungsprozessen zur Sprache kommen. Kooperationen können Fallperspektiven dann erweitern, wenn sie die Eigenständigkeit der Kooperationspartner_innen anerkennen, aber auch die Bereitschaft zeigen, sich auf einen gemeinsamen Klärungsprozess einzulassen. Der Ausbau dieser Schnittstelle ist ein wesentlicher Aspekt zur Verbesserung der Kinderschutzarbeit im Allgemeinen, denn nur wer konkret fragt, kann konkrete Antwort erwarten und eine Antwort kann nur so nützlich sein, wie sie fachlich verstanden wird.