Was hätte man in einem vierzig Jahre alten „Klassiker“ der empirischen Sozialarbeitsforschung über Urteilsbildung lesen können, wäre das betreffende Kapitel nicht damals den Kürzungsauflagen des Verlags zum Opfer gefallen, und was ist davon heute noch bedenkenswert?

Der Titel „Die Produktion von Fürsorglichkeit“ war als Provokation gedacht, als Provokation des sozialpädagogischen Mainstreams sowie seiner Vorstellungen von sozialpädagogischer Kompetenz und Fachlichkeit. Was soziale Dienste und ihre Beschäftigten tun, so lautete meine These, sei nur sehr eingeschränkt als Helfen, Sozialarbeit, gesellschaftliche Problemlösung oder gar als Stabilisierung des gesellschaftlichen Verwertungsprozesses zu beschreiben. Das Produkt solcher sozialer Dienstleistungsprozesse (an dessen Erstellung die Klient_innen mit beteiligt sind) hatte ich als „Fürsorglichkeit“ bezeichnet und damit ein gesellschaftliches „Gefühl“ umschrieben, dass angesichts der gegebenen Umstände in ausreichender und vernünftiger Weise geholfen, interveniert oder auch sanktioniert wird. Für die gesellschaftliche Stellung der Sozialarbeit scheint weniger entscheidend, ob sich dieses Gefühl bei den eigentlichen Klient_innen einstellt. Bedeutsamer sind andere Abnehmergruppen: einschlägige Behörden, die Presse, politische Entscheidungsträger, Verbände und nicht zuletzt die eigene Kollegenschaft. Fürsorglichkeitsproduktion findet demgemäß nicht nur im unmittelbaren Hilfeprozess statt, sondern kann durchaus auch durch geschickte Aktenführung, gezielte Öffentlichkeitsarbeit, behutsame Pflege kommunalpolitischer Gremien, sorgfältige Platzierung von Dienststellen und Ausweisung neuer bzw. die demonstrative Einsparung alter Stellen erfolgen.

Wie gelingt es den Sozialarbeiterinnen (zur Zeit meiner Untersuchung waren alle Beschäftigten Frauen!) nun, mit diesen Bedingungen und den daraus sich ergebenden Herausforderungen zurande zu kommen? Welcher Instrumente und Methoden bedienen sie (und die anderen Beteiligten) sich dabei? Wie wird die Fürsorglichkeitsproduktion durch sich verändernde lokale Bedingungen sowie organisatorische Vorgaben beeinflusst und ggf. verändert? Ich war damals und bin heute noch davon überzeugt, dass es für die Beantwortung solcher Fragen nicht ausreicht, lediglich auf die im jeweiligen organisatorischen Zusammenhang geltenden Regeln und Vorschriften, auf sozialpädagogische Kompetenztheorien oder auf normative Modelle professioneller Fachlichkeit zu verweisen. In der Regel produziert man dadurch Defizitanalysen, weil die Praxis eben nicht nach solchen Modellen, sondern bestenfalls mit und unter Verweis auf solche Vorgaben handelt, also immer mehr oder weniger vom idealen, regelgerechten Pfad abweicht – auch und gerade dann, wenn es gilt, angemessene Arbeit zu machen.

Ich hatte vorgeschlagen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: also die Praxis der Sozialarbeit nicht mehr als notorisch defizitäre Umsetzung von Regeln zu betrachten, sondern von der heuristischen (!) Unterstellung auszugehen, in ihr jeweils zumindest eine Form der Lösung struktureller Handlungsprobleme vor sich zu haben, die man dann in einem zweiten Schritt durchaus auf ihre jeweiligen Nebenfolgen und funktionalen Äquivalente hin kritisch prüfen könnte. Ein solcher Versuch, „praxissensible Sozialforschung“ zu betreiben, beinhaltet auch, liebgewonnene Konzepte, Begriffe und Methoden des Feldes wie der einschlägigen Theorieproduktion – von Anerkennung, über Beratung, Care, Dienstleistungsorientierung, Empowerment bis hin zu Vertrauen, Wirksamkeit und Zuverlässigkeit – gleichsam in Anführungszeichen zu setzen, sie mit einem „machen“ oder „tun“ zu kombinieren, d. h. sie als Resultat von interaktiven Herstellungsprozessen zu respezifizieren sowie im Anschluss ihren Vollzug empirisch zu untersuchen. Praxissensibilität bedeutet also nicht Praxisnähe, sondern läuft auf eine Art sozialwissenschaftlicher Supervision dieser Praxis hinaus.

„Klassiker“ wie Provokationen setzen bekanntlich mit der Zeit Rost und Staub an, finden dann nur noch in Einleitungskapiteln Erwähnung und dienen dort als Trittbretter, die man unter sich lässt, um zu den eigenen Einsichten empor zu steigen (oder aber seine alten Wege ungerührt weiter zu gehen). Als Autor ist man in der Regel milder gestimmt und entdeckt – ähnlich wie bei der Inspektion von Dachbodenfunden – beim Blick in die alten Papiere noch manches Brauchbare oder zumindest solche Stücke, die mit gewissen Reparaturen und Ergänzungen auf den heutigen Stand zu bringen wären. Nun habe ich selbst damals das Wort „Urteilsbildung“ nicht verwendet. Allerdings enthielt das Manuskript, das der Buchveröffentlichung zugrunde lag (es handelte sich um meine Habilitationsschrift), ein 60-seitiges Kapitel zu eben dieser Thematik, das, ebenso wie längere Abschnitte über die Forschungsmethodik und über meinen Einstieg in das Forschungsfeld, der spitzen Kalkulation des Verlags zum Opfer fiel. Im Folgenden möchte ich die mir gestellte Frage beantworten, was man nun sieht, wenn man aus meinem Blickwinkel auf die sozialarbeiterische Praxis der Urteilsbildung blickt. Zunächst werde ich einige grundlegende Aspekte behandeln, die heute wie vor 40 Jahren die Urteilsbildung in sozialen Diensten kennzeichnen (mein empirisches Beispiel ist immer der Allgemeine Sozialdienst, ASD) und danach kurz auf Medien, Orte und Technologien zu sprechen kommen, die damals wie heute, zum Teil freilich mit anderen Akzenten, die Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit prägen.

Wie amtliche Tatsachen gemacht werden

Jedes Gesellschaftsmitglied hat ein Recht darauf, so genommen zu werden, wie es sich gibt, dass man akzeptiert, was es berichtet, seine Aussagen also nicht zu Gegenstand bohrender Nachfragen Außenstehender gemacht werden. Amtspersonen wiederum haben ausdrücklich die Pflicht, angebotene „Oberflächen“ als solche kenntlich zu machen, sie auf ihre Gültigkeit oder zumindest Stimmigkeit hin zu überprüfen, und eine geläuterte Version der Daten zu einer neuen, amtlichen Wirklichkeit zusammenzufügen. Je nach Sachverhalt und situativer Konstellation wird man diese Skepsis unterschiedlich dosieren, zumal immer die Gefahr besteht, den amtlichen Zweifel vom Gegenüber als persönliches Misstrauen ausgelegt zu bekommen. Die stete Nachkalibrierung des Misstrauens ist schon deshalb wichtig, weil man sich nicht nur vor zu viel Vertrauen und zu bereitwilliger Perspektivenübernahme schützen muss. Es wäre genauso fatal, ins andere Extrem zu verfallen und überall Betrug und Schein zu wittern. „Kompetente Skepsis“ ist nicht nur für Sozialarbeiterinnen, sondern auch für viele andere, in personenbezogenen sozialen Dienstleistungsberufen Tätige eines der wichtigsten Ergebnisse ihrer beruflichen Sozialisation. In sicherheitsbewussten und -sensiblen Einrichtungen wie dem ASD kann man zudem örtliche Misstrauenskonjunkturen beobachten, die bei Häufung negativer Erfahrungen den bislang gewohnten Stil der Urteilsbildung urplötzlich umkippen lassen. Ein Risiko bei der Urteilsbildung besteht darin, im Falle, dass ‚etwas schief geht‘, für eine umfassende Realitätsprüfung verantwortlich gemacht zu werden und an Hand von Belegen (z. B. Einträgen in den Akten) das Ausmaß seiner Skepsis nachweisen zu müssen, sich aber im Arbeitsprozess angesichts knapper zeitlicher, sachlicher und sozialer Ressourcen faktisch immer mit weniger Informationen begnügen zu müssen als man theoretisch hätte sammeln können.

Entscheidend für die Urteilsbildung ist es, ob und wie sich die verfügbaren Informationen zu einer ‚Gestalt‘ zusammenfügen lassen. Dies lässt sich an folgendem Beobachtungsprotokoll nachvollziehen:

Frau E. erzählt in der Kaffeepause von ihrem letzten Hausbesuch. Wegen einer Meldung des Sozialamts hatte sie seit langem bei dieser Frau X. einen Besuch machen wollen und sich auch schon einige Male angemeldet, aber entweder keine Antwort erhalten oder die Frau bei einem gelegentlichen Vorbeischauen nicht angetroffen. Auch als sie dieses Mal hingekommen sei, war niemand in der Wohnung (habe niemand aufgemacht); aber von der Nachbarin habe sie einige Informationen erhalten: Zunächst, dass die Frau X. recht selten da sei, dass es dann aber immer „recht zuginge“ und auch die Wohnung ziemlich heruntergekommen sei. Dann habe sie erfahren, was für sie immer sehr wichtig sei, dass die Frau noch ein kleines Kind habe – auch das noch! Da könne man kaum weghören. Ob ein Kind gut versorgt sei, sei doch das Wesentliche! Wenn so viele Dinge zusammenkämen, wie die Räumungsschulden, der Umstand, dass das Finanzamt auch schon oft da war, dass die Frau nie auftaucht – dann hieße das für sie zunächst: Geldschwierigkeiten. Es sieht nicht rosig aus, wenn zusätzlich noch ein zweijähriges Kind da ist und es ziemlich zugeht in der Wohnung. Dann sei das ein Alarmsignal. Man müsse aber etwas Konkretes in der Hand haben, um in einem solchen Fall eingreifen zu können.

Für die Diagnose dessen, was in einem Fall „wirklich los ist“, reicht eine bloße Summation vorliegender Informationen nicht aus. Es ist die spezifische sinnhafte Ordnung der Ereignisse, die sie für den Beobachter und für den Zuhörer zu einer prägnanten Gestalt werden lässt. Erst diese Ordnungsleistung gibt der Konstellation bzw. einem Bericht darüber ihre Überzeugungskraft und erschafft z. B. die Tatsache der „drohenden Kindesvernachlässigung“. Jedes Informationsstück für sich genommen könnte auch zu ganz anderen Wirklichkeitsdiagnosen (s)einen Beitrag liefern (z. B. Geldschwierigkeiten, Zufall, verschämte arme Geschäftsfrau). In der präsentierten Kombination weisen sie aber auf eine prägnante, von erfahrenen Praktiker_innen sofort identifizierbare Gestalt hin.

Wirklichkeiten und Tatsachen müssen zudem eine amtlich genießbare Gestalt bekommen. Ihre Produzenten haben zu berücksichtigen, was man im betreffenden Setting über die „Welt“ wissen kann und will und was jenseits der geltenden amtlichen und professionellen Horizonte, Relevanzen und Aufnahmefähigkeiten liegt. Urteilsbildung beschränkt sich also nicht nur auf die Überprüfung oder Auswahl, sondern erfordert eine Reformulierung, sozusagen eine Übersetzung des angebotenen Materials.

Orte der Urteilsbildung

Für die Urteilsbildung macht es einen Unterschied, ob das betreffende Geschehen im Amt oder im Rahmen eines Hausbesuchs stattfindet.Footnote 1 Zu Beginn der 1980er-Jahre spielte der Hausbesuch noch eine größere Rolle, wenn auch nicht mehr die, die er zu Zeiten der Familienfürsorge gespielt hatte, als der Aufenthalt im Amt eher als Unterbrechung der „eigentlichen“ Arbeit angesehen wurde, die im Wesentlichen in der Erledigung von Berichtsersuchen der Innendienste von Gesundheits‑, Jugend- oder Sozialamt bestand.

Jedes Gesellschaftsmitglied hat Anspruch darauf, nach seiner sozialen „Schauseite“ beurteilt zu werden. Wer mit Einverständnis des Gegenübers dessen Arbeits- oder Privaträume betritt, ist gehalten, diese Räume als expressive Einheiten, d. h. als Indikatoren dessen zu behandeln, was dort üblicherweise passiert bzw. sie als Hinweis auf die Identität des Rauminhabers zu verwenden. Bei unangemeldeten Hausbesuchen besteht für die Betroffenen typischerweise keine Möglichkeit einer gezielten Präsentation und Absicherung akzeptabler Schauseiten. Aus der Gleichsetzung von Erscheinung und Wesen, von Raum und Identität erwachsen diesen Klient_innen nur Nachteile, keine Handlungschancen. Hinzu kommt, dass für sie eine „ganz normale“ genauso wie eine vielsagend missglückte Schauseite zum Nachteil gereichen kann, sollte sie von den amtlichen Beobachtern als offensichtlich präpariert identifiziert werden, ohne dass die so Beurteilten in der Lage wären, sich erfolgreich gegen diese Einschätzung zu wehren, zumal die Ergebnisse des sozialarbeiterischen ‚Blicks‘ in der Regel außerhalb der Begegnung formuliert und festgehalten werden.

Der Hausbesuch hat im Zusammenhang mit der Neuformulierung des Schutzauftrages (§ 8a SGB VIII) und der darin enthaltenen Aufforderung, sich zur Gefährdungseinschätzung ggf. „einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen“, in den letzten Jahren wieder an Bedeutung und wissenschaftlicher Beachtung gewonnen. Die kommunikativen Strategien der Urteilsbildung bzw. der Infragestellung von Schauseiten im Rahmen von Hausbesuchen scheinen sich, nimmt man die Ergebnisse neuerer Studien zum Maßstab, seit damals kaum geändert zu haben.

Medien der Urteilsbildung

Amtliche und professionelle Urteilsbildung erfolgt zu einem beträchtlichen Teil textförmig. Sie nutzt Gutachten und andere Formen des Berichts sowie der Stellungnahme. Deren Autor_innen haben mit eigenen Darstellungsanforderungen und Formaten zu rechnen, um ihre Adressat_innen zu erreichen und um ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass die geschilderten Beobachtungen und Daten auf einer authentischen und zuverlässigen Wiedergabe der Wirklichkeit beruhen. Tatsächlich basieren sie aber auf persönlichen Erfahrungen und wurden von ihnen als individuelle Personen formuliert. Das Thema „Sozialarbeiter und ihre Akten“, ihre Präsentation und besondere Rhetorik haben mich schon während der Arbeit am Fürsorglichkeitsbuch und auch später immer wieder beschäftigt, z. T. in vergleichender Perspektive. Auffällig dabei war, wie stark sich die Elaborate der Sozialarbeiterinnen (etwa die Berichte der Jugendgerichtshilfe) in der Ausführlichkeit, der diagnostischen Eindeutigkeit, der formalen Textgestaltung, aber auch in der Art ihrer mündlichen Präsentation von den Gutachten vergleichbarer, und mitunter viel weniger intensiv mit dem Fall verbundenen Professioneller unterschieden. Diese eigenartig reduzierte Nutzung des Mediums Gutachten mag mit der traditionellen Ambivalenz der Sozialarbeiterinnen gegenüber Akten zusammenhängen, die meist nicht als Instrumente der Arbeit, was sie zweifellos sind, erlebt und geschätzt werden, sondern eher als etwas gesehen werden, das zwischen ihnen und den Klient_innen steht. Es ist ihnen meist durchaus bewusst, dass sie bei der Urteilsbildung in Akten ihre Klient_innen bzw. deren Schwierigkeiten auf rechtliche Tatbestände hin „zurechtstutzen“, um sie damit administrativ handhabbar und kontrollierbar machen.

Technologien der Urteilsbildung

Bei der Urteilsbildung finden natürlich auch Verfahren der Sozialen Diagnostik Anwendung. Angesichts erhöhter Bedeutung der Abschätzung von Gefährdungslagen und in Reaktion auf Forderungen nach Evidenzbasierung von Eingriffsentscheidungen erfreuen sich neuerdings Checklisten besonderer „Beliebtheit“. In der „Produktion von Fürsorglichkeit“ hatte ich dieser Thematik einen längeren Abschnitt gewidmet, wobei ich aber eher die Funktionsweise von (Warte‑) Listen für die Vereinheitlichung von Fallaufkommen und die Synchronisation von Problem- und Amtszeiten im Blick hatte. Deutlich wurde aber auch schon damals, dass Listen jeder Art nicht nur ein ubiquitäres Instrument der Organisierung von Verteilungsprozessen sind, sondern zugleich als Technologien der Urteilsbildung funktionieren. Sie sind Mechanismen der Gleichbehandlung und Instrumente der Vereinheitlichung. Bei Warteschlangen besteht die grundlegende Transformation darin, Problemidentitäten auf Positionen innerhalb der Schlange zu projizieren und sie dadurch für alle praktischen Zwecke identisch und Schritt für Schritt bearbeitbar zu machen. Die Komplexität und Turbulenz der Umweltanforderungen an die Einrichtung und ihre Mitarbeiter_innen wird dadurch dramatisch reduziert: wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Doch was geschieht im Notfall? Der „Notfall“ als institutionalisierte Ausnahme von der Regel ist ein besonders aufschlussreiches und voraussetzungsreiches Format zur praktischen Herstellung von Gleichbehandlung. Solche Ausnahmen von der vorgesehenen Reihenfolge erfordern von den Verantwortlichen ein hohes Maß an situativer Sensibilität, um sie tatsächlich zum Ausdruck und nicht zur Gefährdung des Gleichbehandlungsgrundsatzes werden zu lassen – oder eine neue Liste, eben eine für Notfälle. Hier kommen dann die Checklisten ins Spiel (etwa solche zur Beurteilung der Erziehungsfähigkeit von Eltern oder Kinderschutzbögen). Die Urteilsbildung bezieht sich dann nicht mehr auf Personen oder Familien, sondern auf Skalenwerte, genauer: auf Schwellenwerte, bei deren Über- oder Unterschreitung die Zuordnung einer Beschreibungs- oder Diagnosekategorie erfolgt. In der Praxis macht eben diese Kanalisierung der Urteilsbildung (vorgegebene Kästchen ankreuzen!) erhebliche Zuordnungsprobleme, die man mit einer immer weitergehenden Differenzierung des Kategoriensystems, mit Nebenlisten oder mit handschriftlichen Ergänzungen der Liste, d. h. mit verschiedenen Formen der technischen oder narrativen Nachsteuerung und Interpretation des gelisteten Urteils zu bewältigen versucht, und sich so zumindest einen Teil der Souveränität über die Urteilsbildung wieder zurück zu erkämpfen.

Klagen – einst wie jetzt

Im sozialpädagogischen Diskurs ist die Klage ein beliebtes Format – das gilt für die Zeit vor 40 Jahren ebenso wie heute. Heute sind es z. B. Klagen über den Einsatz von Checklisten, die Zumutung des Hausbesuchs, die aktenmäßige Fixierung der Fall-Lage, die Arbeitsteilung im Kinderschutz, die wachsende Bedeutung der Gefährdungseinschätzung, die Notwendigkeit, sich über Fälle mit anderen Professionen abzustimmen oder über das, was ich oben den amtlichen Zweifel genannt habe. Man sieht dadurch professionelle Wertvorstellungen tangiert, befürchtet, der eigentlichen sozialpädagogischen Arbeit verlustig zu gehen, glaubt dadurch, nicht nur die Klient_innen, sondern auch die Profession gefährdet, befürchtet seine (All‑)Zuständigkeit einzubüßen oder sieht sich gezwungen, zwischen der eigentlichen sozialpädagogischen Arbeit und der Kinderschutzarbeit wählen zu müssen. Aus meinem schrägen Blickwinkel erkenne ich heute sicherlich einen erhöhten Arbeits- und Legitimationsdruck in der Sozialen Arbeit als vor 40 Jahren, beobachte aber auch unzählige Beispiele kunstvollen Umgehens mit den komplexen Herausforderungen der interaktiven und organisatorischen „Produktion von Fürsorglichkeit“ und registriere an vielen Orten spannende Erfindungen im Management sozialer Dienste in der Organisierung personenbezogener sozialer Dienstleistungen. Mein Respekt bleibt – und auch die Dankbarkeit gegenüber der Gruppe 3 des ASD Nord 1, der ich mein Buch gewidmet habe.