Einleitung

Das Vertrauen der Öffentlichkeit ist die Währung moderner Polizeiarbeit (Staubli 2022). Als Träger des staatlichen Gewaltmonopols hat die Polizei unmittelbaren Zwang in einem Ausmaß , das von der jeweiligen Situation legitimiert ist, einzusetzen. Dadurch fördert sie das Vertrauen aller Bürger*innen und trägt langfristig zu einer Gewaltreduktion in einer Gesellschaft bei (Staller et al. 2021a). Studien legen nahe, dass dies nicht immer der Fall ist (Abdul-Rahman et al. 2019b, 2020; Boxer et al. 2021; Reuter 2014). Während illegale Gewaltanwendung existiert (Abdul-Rahman und Singelnstein 2021), beschreiben Forschungsarbeiten auch Bürgerkontakte der Polizei, bei denen die Anwendung unmittelbaren Zwangs zwar rechtlich legitim ist, ethisch jedoch als unangemessene Gewaltanwendungen begreifbar ist. Solche Interaktionen untergraben das Vertrauen von Bürger*innen in die Polizei. Da in einem komplexen gesellschaftlichen System das Auftreten derartiger Polizei-Bürger*innen-Interaktionen wahrscheinlich ist, nehmen wir uns in diesem Beitrag mehrerer Ansätze an, die auf verschiedenen Ebenen derartige Vorkommnisse vermeiden bzw. auf gesellschaftlicher Ebene reduzieren.

Unser Fokus liegt dabei auf den entsprechenden wahrscheinlichkeitsbedingenden Hintergründen. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der stochastischen Gewalt. Ausgehend von Daten zu problematischem polizeilichen Interaktionsverhalten (Sektion 2) beschreiben wir das Konzept der stochastischen Gewalt mit seinen grundlegenden Charakteristiken (Sektion 3). In einem nächsten Schritt wenden wir diese Analyselinse auf das System Polizei an (Sektion 4) und identifizieren das polizeiliche Gefahrennarrativ (Sektion 4.1) sowie dominanzfördernde Kommunikation (Sektion 4.2) als die zwei wesentlichen Entstehungsfaktoren stochastischer Gewalt. Die zentralen Ansatzpunkte für eine freilich ebenfalls stochastisch wirksame Prävention und Intervention ergeben sich aus der Einsicht in das systemische Potenzial von Narrativen und Kommunikation (Sektion 5): Stochastischer Gewalt kann durch die Etablierung alternativer Narrative sowie einer dominanzsensiblen Kommunikation begegnet werden.

Problematisches polizeiliches Interaktionsverhalten

Polizeiliche Zwangsanwendung und ihre unverhältnismäßigen Auswirkungen insbesondere auf Angehörige verschiedener Minderheitengruppen ist kein neues Phänomen (Abdul-Rahman et al. 2019b, 2020; Boxer et al. 2021). Vorfälle wie die Tötung von Georg Floyd im Jahr 2020 lösten weltweit großes Aufsehen und Massenproteste aus, die auch wissenschaftliche Anstrengung zur Verbesserung der Interaktion zwischen Polizei und Bürger*innen intensivierten (Boxer et al. 2021). Auch in Deutschland stehen das polizeiliche Interaktionsverhalten sowie die polizeiliche Gewaltanwendung regelmäßig im Fokus öffentlicher Betrachtung (Abdul-Rahman et al. 2019a). Auf wissenschaftlicher Ebene existieren beispielsweise im Kontext polizeilicher Zwangsanwendung neben Auswertungen vorhandener Hellfelddaten (Görgen und Hunold 2020; Singelnstein 2014), quantitative Befragungen von Polizist*innen (Besold 2006) und Betroffenen (Abdul-Rahman et al. 2019b), Aktenanalysen (Luff 2019; Luff et al. 2018), (Fokusgruppen‑)Interviews mit Polizist*innen (Abdul-Rahman et al. 2020; Feltes et al. 2007; Klukkert et al. 2008) und Expert*innen der Zivilgesellschaft (Abdul-Rahman et al. 2020), Fallstudien (Bruce-Jones 2015, 2017), teilnehmende Beobachtungen (Hunold 2019; Reuter 2014) sowie zivilgesellschaftliche Falldokumentationen (Amnesty International 2010; KOP – Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt 2010; KOP – Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt 2021).

Als soziale Interaktion ist die polizeiliche Zwangsanwendung Teil einer Kaskade dynamischer Interaktionsprozesse. Diese findet im Kontext polizeilichen Konfliktmanagements (Staller und Koerner 74,77,b, e) statt und manifestiert sich in der Situativität der Interaktion zwischen Polizei und Bürger*innen (Lee 2021). Dabei wird sie maßgeblich von institutionellen und gesellschaftlichen Rahmungen beeinflusst (Staller und Koerner 2021d) und kann entsprechend nicht losgelöst von diesen betrachten werden (Staller und Körner 2020). Mit Blick auf die polizeiinterne Vorbereitung auf Interaktions‑, Konflikt- und Gewaltsituationen sowie auf die polizeiethische Ausrichtung an einer gesamtgesellschaftlichen Gewaltreduktion (Schröder-Bäck und Bohlken 2021; Staller et al. 2021a) fallen regelmäßig systemwirksame Elemente und Strukturen auf. Diese gestalten die Interaktion zwischen Polizei und Bürger*innen problematisch und werden oft für Fälle unangemessener Gewaltanwendung mitverantwortlich gemacht (Boxer et al. 2021). Hierunter fallen beispielsweise organisationskulturell bestehende (implizite) kognitive Verzerrungen, Stereotype und Vorurteile (Behr 2017a; Staller et al. 2021), Militarisierungsbestrebungen mit Blick auf Ausrüstung, Training und Vorgehensweisen (Behr 2018; Briken 2017; Eick 2017; Naplava 2020), Schwerpunktsetzungen im Training auf Zwangshandeln im Vergleich zum Kooperationshandeln (Boxer et al. 2021; Staller et al. 2019), Gefahrennarrative (Seidensticker 2021; Staller und Koerner 2022a), Grundeinstellungen wie ein Warrior Mindset (Staller et al. 2022a; Stoughton 2015), Dominanz hegemonialer Männlichkeit als Idealtypus der Polizeiarbeit (Seidensticker 2021) und eine „Wir-gegen-die“-Sichtweise auf komplexe soziale Interaktionsprozesse (Boivin et al. 2018). Weiterhin weisen Forschungsarbeiten auf reflexivitätshemmende Strukturen gerade im Umgang mit polizei-externen Wissensbeständen hin, die ein Erkennen der genannten Problematiken erschweren (Koerner und Staller 45,46,a, b; Staller und Koerner 2021c, 2022c).

Während auf der einen Seite problematische Interaktionsmuster (provozierendes Verhalten, Diskriminierung, „social/racial profiling“, unangemessene Gewaltanwendung, „härter Hinlangen“ etc.) teilweise strafbar sind und im mehrheitlichen Konsens als unduldsam verstanden werden, stellt sich das für die organisationsstrukturell identifizierten Problematiken anders dar. Diese werden zwar regelmäßig in der nationalen und internationalen Forschung beschrieben, werden aber aufgrund der reflexivitätshemmenden Strukturen nur in geringem Maße aktiv im System bearbeitet (Behr 2020). Eine Erklärung hierfür mag im häufig vorliegenden kausal-linearen Durchgriffsdenken liegen: Wenn nicht vorhersagbar ist, dass Struktur A zwingenderweise zum problematischen Verhalten B in der Polizei-Bürger*in Interaktion führt, ist aus linear-kausaler Logik wenig einleuchtend, warum Struktur A zu verändern wäre. Entsprechend dieser Logik werden Strukturen weniger problematisiert, als dies für bestimmte Verhaltensweisen der Fall ist. Solange Strukturen und Verhaltensweisen eben „ethisch“, aber nicht „rechtlich“ problematisch sind, fällt das Entsagen eigener Verantwortlichkeiten leichter. Vor diesem Hintergrund können zwar mit Blick auf polizeiliches Konfliktmanagement Verantwortungen postuliert werden (Staller und Koerner 2021a), ob diese aber angenommen werden und Wirkung entfalten, bleibt offen.

Mit Blick auf die individuelle Verantwortung Einzelner im System Polizei bietet das Konzept der „stochastischen Gewalt“ eine Rahmung an, Verantwortung – jenseits einer rechtlichen Würdigung – für problematisches Verhalten von Polizeikolleg*innen anzunehmen. Mit diesem Eingeständnis können Polizeivollzugsbeamt*innen frühzeitig intervenieren und zu Verbesserungen beitragen, um damit die Wahrscheinlichkeit für unangemessene Gewaltanwendung im System als Ganzes zu senken.

Stochastische Gewalt im System

Stochastische Gewalt beschreibt das Entstehen von Gewalt als einen zufälligen über Kommunikation vermittelten Prozess, der im Einzelfall nicht vorhersehbar ist, aber dessen Auftreten wahrscheinlich ist. Die Kernanalysefigur ist dabei der Mathematik entlehnte stochastische Prozess: die Beschreibung von zeitlich geordneten, zufälligen Vorgängen. Die Figur wird gerade in der wissenschaftlichen Diskussion zur Erklärung von als randomisiert erscheinenden Gewalttaten als fruchtbar angesehen (Braddock 2020b; Dharmapala und McAdams 2001; Yankow und McEvoy 2020). Dabei sind besonders die zeitlich vorgelagerten Bedingungen eines sozialen Systems und der dort stattfindenden Kommunikation und Radikalisierungsprozesse von Interesse. Die entsprechend vermittelten Werte, Einstellungen und Begründungsstrukturen liefern den subjektiv-normativen Unterbau, der als Prädiktor für individuelles Verhalten gilt (Ajzen 1991; Ajzen und Fishbein 2000).

In einer immer komplexer werdenden Welt (und Gesellschaft) ermöglicht digitale Kommunikation die schnelle Distribution von Informationen, die wiederum Bedingung und Folge der Kommunikation einer sozialen Echo-Kammer ist. Im Zeitalter von Des- und Missinformation (Hohlfeld 2020) ergeben sich damit neue Möglichkeiten ideologisch-motivierter Gewaltakte wie die des Terrorismus (Braddock 2020b; DeCaprio 2020; Deutscher Bundestag 2020; Zuhl 2019). So wird ein in dieser Logik operierende Form des Terrorismus als stochastischer Terrorismus (Braddock 2020b; G2G 2011) beschrieben. Dabei geht es um „die Nutzung von Massenkommunikationsmitteln mit dem Ziel, willkürliche Akteure zu gewalttätigen oder terroristischen Handlungen anzustiften, die statistisch wahrscheinlich, aber individuell unvorhersehbar sind (Braddock 2020b)“ (Braddock 2020b, S. 224, übersetzt aus dem Englischen). Dies schafft ein soziales Klima, in dem Einzelne zur Tat schreiten und Mitglieder einer bestimmten Zielgruppe tätlich angreifen. Dieses soziale Klima wird über narrativ persuasive Strategien hergestellt (Braddock 2020a). Die anstiftende Partei – der/die stochastische Terrorist*in – hat dadurch die Möglichkeit, selbst Verantwortung abzustreiten, da Dinge ja „nur gesagt und gedacht“ wurden – und eben nicht explizit zu Gewaltakten aufgerufen wurde. Für den stochastischen Terrorismus beschreibt Braddock (2020b) den prozesshaften Verlauf wie folgt: Erstens, eine öffentliche Figur – die anstiftende Partei – dämonisiert eine Person oder eine Gruppe. Zweitens, die Person oder Gruppe wird wiederholt öffentlich angegriffen und als Gefahr für das Publikum der anstiftenden Partei angesehen. Dabei wird sie zunehmend dehumanisiert. Drittens, die anstiftende Partei nutzt im Verweis auf die Person oder Gruppe aggressive und gewalttätige Rhetorik. Die Grenze zu einem expliziten Gewaltaufruf wird dabei bewusst nicht überschritten. Viertens, angetrieben durch die Rhetorik, die sich auf die nun dehumanisierte Zielgruppe oder -person bezieht, begeht ein Mitglied des Publikums der anstiftenden Partei eine politische motivierte Gewalttat. Fünftens, nach der Tat verurteilt die anstiftende Partei den Vorfall und argumentiert, dass die Gewalttat nicht vorhersehbar war. Das plausible Bestreiten dieser Vorhersehbarkeit ermöglicht der anstiftenden Partei, ihre Verantwortung abzustreiten. Jenseits politisch motivierter Gewalttaten kann diese Erklärungs- und Analysefigur auch für andere Formen der Gewalt in anderen Kontexten verwendet werden (DeCaprio 2020). So liefert die Figur einen kausalen Erklärungsansatz zwischen Hassrede („hate speech“) und Hasskriminalität („hate crime“; Dharmapala und McAdams 2001). Stochastische Gewalt ist zwar zufällig und in ihrem Ausmaß ungewiss, geht aber davon aus, dass irgendjemand, irgendwo auf Informationen reagiert, die an eine große Anzahl von Menschen gesendet werden (DeCaprio 2020). Hassrede als je nach konkreter Ausgestaltung von der Meinungsfreiheit gedeckte Form der Gewalt liefert im Erklärungsansatz stochastischer Gewalt den Nährboden für daraus resultierende gewaltförmige Straftaten, welche als Hasskriminalität bezeichnet werden.

Während die gennannten Konzeptionen stochastischer Gewalt eine intentionale Informationsmitteilung seitens einer anstiftenden Partei voraussetzen, argumentieren wir aus systemtheoretischer Perspektive, dass Kommunikation nicht intentional vorliegen muss. Ausgehend davon beschreiben wir stochastische Gewalt als Kommunikation, die Gewalt einzelner Akteure ermöglicht, die statistisch wahrscheinlich, aber individuell unvorhersehbar ist. Damit ermöglichen wir dem Konzept, auch auf systemischer Ebene zu operieren, ohne individuelle Kommunikation einzelner Akteure vorauszusetzen und diese nach ihrer Intentionalität befragen zu müssen. Damit besteht im Kern der Unterschied in der Intention von Akteuren, die gezielt „anstiften“ (stochastischer Terrorismus), im Vergleich zu systemstrukturellen Gegebenheiten, die Gewalt „ermöglichen“ (stochastische Gewalt). Während also in der individuellen Perspektive anstiftende Parteien agieren, reicht für eine systemtheoretische Sichtweise das systemimmanente Vorliegen gewaltermöglichender Informationen wie beispielsweise verzerrter Perspektiven aufgrund systemstruktureller Problematiken (Stereotype, Vorurteile, Generalisierungen). Der prozesshafte Verlauf stellt sich dann wie folgt dar:

  1. 1.

    Die Existenz von systemimmanenten Wissensbeständen (Narrativen etc.), die nichtsystemimmanente Andere als „gefährlich“ markieren.

  2. 2.

    Das Vorliegen von systemimmanenter dominanzfördernder Kommunikation – nicht nur, aber – mit besonderem Blick auf die Anderen.

  3. 3.

    Ein Mitglied des Systems legt illegitimes oder problematisches Interaktionsverhalten an den Tag, welches das Resultat der aus (1) und (2) übernommenen Sichtweisen und Einstellungen ist.

  4. 4.

    Eine systemimmanente Beurteilung des Vorfalls mit der Argumentation, dass der Vorfall nicht vorhersehbar war. Das plausible Bestreiten der Vorhersehbarkeit ermöglicht eine Negation der Verantwortung durch das System.

Ausgehend von der grundlegenden Struktur der stochastischen Gewalt wenden wir diese Analysefigur nachfolgend auf die Polizei an.

Systemimmanente Kommunikation in der Polizei

In Bezug auf die wahrscheinlichkeitserhöhenden und ermöglichenden Faktoren von unangemessener Gewalt und problematischen Interaktionen sind im Kontext polizeilicher Arbeit auf systemischer Ebene zwei Aspekte relevant: das Narrativ erschaffende und aufrechterhaltende Gefahrenbild anderer und das Vorliegen dominanzfördernder Kommunikation (verbal und nonverbal) im Polizeisystem. Nach einer ausführlichen Diskussion dieser Aspekte werden wir auf den Umgang mit Verantwortung eingehen.

Die Gefahr durch die „Anderen“

In einer aktuellen Analyse haben wir dargelegt, wie sehr das polizeiliche Gefahrennarrativ organisationsstrukturell verankert ist (Staller und Koerner 2022a). Als Basisnarrativ wird im Kern die Information transportiert, dass überall Gefahren lauern und jeder Kontakt mit Bürger*innen potenziell gefährlich ist. Entsprechend gilt gemäß Leitfaden 371 – Eigensicherung (Leitfaden 371 2021) „Sei nie arglos – Rechne immer mit Gefahren“ (S. 110), denn „Überleben ist kein Zufall“ (S. 9). Die sich anschließende Handlungslogik ist klar: „Eigensicherung: Distanz, Distanz und nochmals Distanz!“ (Metzler 2015) sowie auf organisationaler Ebene eine Aufrüstung in Bezug auf Waffen und militärische Taktiken (Eberhardt und Berners 2019; Schmidt 2019).

Dieses Narrativ führt zu einer intuitiven Handlungslogik, die zum Ergebnis hat, dass die Gesellschaft das polizeiliche Misstrauen erwidert, was wiederum die Gefährdung von Polizist*innen erhöht (Mummolo 2018, 2021). Das Narrativ widerspricht jedoch sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, die trotz Kontraintuitivität polizeiliche Strategien auf den Vertrauensaufbau mit der gesamten Gesellschaft (und alle in ihr vertretenen Gruppen) ausrichten und damit die „Wir-gegen-die“-Logik widerlegen (Craen 2016; Schaap 2021). „Wir“ bezieht sich dabei auf die Polizei. „Die“ auf alle anderen, oft jedoch auf bestimmte Gruppen: Menschen mit einem bestimmten Aussehen, Menschen mit psychiatrischer Diagnose, Angehörige von Großfamilien, Menschen in bestimmten räumlichen Territorien, bestimmen politischen Orientierungen. Die Gefahr wird pauschalisiert – im Großen (alle) wie im Kleinen (eine bestimmte Gruppe). Das Gefahrennarrativ transportiert konsequent und ständig die Information einer Gefahr durch andere („Sei nie arglos.“). Die Omnipräsenz des Narrativs und die Motivation zur Orientierung an der eigenen polizeilichen Organisationskultur machen die Kommunikation systemtheoretisch wahrscheinlich (Luhmann 1981). Der Einzelne übernimmt die Information als Prämisse des eigenen Handelns. Der erste Schritt stochastischer Gewalt ist damit vollzogen.

Systemimmanente dominanzfördernde Kommunikation

Aggressive Kommunikation mit Blick auf „die anderen“ ist der zweite notwendige Bestandteil der Rahmung stochastischer Gewalt. Die systemtheoretische Perspektive auf Kommunikation erfordert eine Doppelung: Kommunikation über polizeiliche Kommunikation (Staller et al. 2021b). Diese Metaebene beinhaltet Informationen, Selektionen und Mitteilungen, die (implizites) Wissen über die Kommunikation zwischen Bürger*innen und Polizei beinhalten, sowie deren Verhältnis zueinander. Dabei muss die Kommunikation hier gerade im Kontext einer Organisation nicht verbal sein. Nonverbale Formen der Informationsmitteilung, wie sie sich beispielsweise über Artefakte, Insignien oder auch eine implizite Ebene über den Umgang miteinander vermitteln, sind hier ebenfalls relevant.

Die Effekte aggressiver Verbalkommunikation mit Blick auf sich anschließende dominanzorientierte Einstellungen und Verhalten sind in der Literatur zahlreich dokumentiert (Adams et al. 1995; Bates 2020; Gubler et al. 2015; Kalmoe et al. 2017; Kindt et al. 2021). So weisen Forschungsarbeiten darauf hin, dass aggressive Kommunikationsmuster aggressive Lösungsoptionen in Konfliktsituation (Kalmoe et al. 2017), unethisches Verhalten (Gubler et al. 2015) und gewalttätiges Verhalten (McIntosh 2021; Wahlström et al. 2020) begünstigen. Basierend auf dem Erklärungsansatz der Theorie sozialer Dominanz (Pratto et al. 2000; Sidanius et al. 2016) werden dabei in der gruppeninternen Interaktion (verbal und nonverbal) Informationen vermittelt, die soziale Dominanzhierarchien etablieren oder festigen, negative Emotionen gerade mit Blick auf die andere Gruppe transportieren und damit aggressives und gewalttätiges Handeln legitimieren (Wahlström et al. 2020).

Aus einem psychologischen Aggressionsverständnis wäre Kommunikation dann als aggressiv zu bewerten, wenn Aggression als Verhalten intentional darauf gerichtet wäre, andere zu schädigen, und diese andere Partei versucht, diese Schädigung zu vermeiden (Anderson und Bushman 2002). Dies würde allerdings voraussetzen, dass sich Akteure jeweils darüber im Klaren sind, welche Informationen innerhalb der Kommunikation vermittelt werden. Mit Blick auf die Forschung über implizite Wissensvermittlung argumentieren wir, dass Kommunikation (gerade über die Vermittlung von Weltbildern und sozialen Interaktionsmustern) schädigend sein kann, auch wenn dies nicht beabsichtigt ist. Die Schädigung tritt dabei über die Etablierung und Stabilisierung sozialer Dominanzhierarchien auf. Entsprechend beschreiben wir derartige Kommunikation als dominanzfördernde Kommunikation. Kommunikation, die hierfür sensibel ist, wäre als dominanzsensible Kommunikation und in ihrer verbalen Ausprägung als dominanzsensible Sprache zu beschreiben.

In Bezug auf die Qualifizierung als dominanzfördernd erscheint hier besonders die Möglichkeit einer dominanzstabilisierenden bzw. etablierenden Folge relevant, auch wenn diese von möglichen Kommunikationsakteur*innen unmittelbar nicht gesehen wird. Dementsprechend rücken wir weniger die Subjektivität des Mitteilenden in den Mittelpunkt als vielmehr die Subjektivität des Empfängers der Information. Ebenso schreiben wir dem aktuellen Forschungsstand über die Effekte entsprechender Kommunikation gerade mit Blick auf soziale Dominanzhierarchien zentrale Bedeutung zu. Die Schnittstelle zur Etablierung eines Gefahrenbildes der „anderen Gruppe“ ist dabei fließend. Das Framing der anderen Gruppe als mögliche Gefahr rechtfertigt das Aufbauen einer Dominanzhierarchie, um dieser Gefahr zu begegnen. Dominanzfördernde Kommunikation enthält dabei gleichzeitig Informationen, die als Bestätigung und Grundlage dieser Gefahr wahrgenommen werden können. Für den polizeilichen Kontext ist dominanzfördernde Kommunikation damit Voraussetzung und Anknüpfung für das Gefahrennarrativ zugleich. Das Konzept der Dominanz scheint im organisationskulturellen Kontext der Polizei systemimmanent und problematisch zu sein (Behr 2020; Miller 2021). Kommunikativ vermittelte Dominanz zeigt sich dabei in der Interaktion mit der Außenwelt, also zwischen Polizei und Bürger*innen, sowie der Innenwelt – also unter Polizeivollzugsbeamt*innen. Die systemimmanenten Beobachtungen der Kommunikation haben wiederum selbst Informationscharakter und werden von nicht direkt involvierten Beobachter*innen aufgenommen. Dominanzstrukturen und deren gesetzte Gültig- und Wichtigkeit werden so durch „Leben im System“ übernommen (Staller und Koerner 2022b).

In Bezug auf interne dominanzfördernde Kommunikation rücken neben der Verbalkommunikation auch soziale Praktiken in die Betrachtung, die auf einer Metaebene Information über dominanzinduzierende Kommunikation beinhalten. Durch ihre kontinuierliche Präsenz im Polizeisystem entfalten diese ihre sozialisierende Wirkung. Hierunter fallen Praktiken sozialer Dominanz wie beispielsweise:

  • die (Re‑)Konstruktion der Polizeimännlichkeit als Charakteristikum „richtiger Polizeiarbeit“ (Schäfer 2021; Seidensticker 2021),

  • die Konstruktion von Heterosexualität als dominierendes kollektives Selbstbild (Staller et al. 2022b),

  • eine hohe Prävalenz von Mobbing in Polizeisystemen (Miller 2021),

  • die Konstruktion von systemimmanenter Erfahrung und Zugehörigkeit als Kriterium für Dominanzstatus (Behr 2017b),

  • die Konstruktion von Autoritäten des Erkenntnisgewinns (Erfahrung, Dienstrang) und der damit einhergehenden Interpretationen von Erkenntnissen (Koerner und Staller 2022a; Mitchell und Lewis 2017; Staller und Koerner 2022c),

  • Militarisierung mit besonderem Fokus auf Ausrüstung und Auftreten (Naplava 2020),

  • die Konzeptionalisierung von Polizeiarbeit als „Krieg“ und „Arbeit an der Front“ (Staller et al. 2022a; Wall 2020),

  • die stark hierarchischen (formal und informal) Arbeits- und Sozialisationsstrukturen der Polizei (Chappell und Lanza-Kaduce 2010; Mensching 2008; Schäfer 2021),

  • Kontrolltätigkeiten von Polizist*innen (Behr 2019; Hunold et al. 2021) sowie

  • Strategie- und Schwerpunksetzung polizeilicher Arbeit (Boettner und Schweitzer 2020; Brauer et al. 2020; Hunold et al. 2021; Rauls und Feltes 2021)

Diese Dominanzpraktiken bestehen als systemimmanente Kommunikation und werden auch sprachlich vermittelt. Darunter fallen genutzte Bezeichnungen für Polizeivollzugsbeamt*innen untereinander und für Bürger*innen sowie das Reden über Polizeivollzugsbeamt*innen untereinander und über Bürger*innen. Im Rahmen unserer eigenen Tätigkeit in polizeilichen (Sub‑)Systemen kamen und kommen wir regelmäßig in Kontakt mit dominanzfördernder sprachlicher Kommunikation (Tab. 1).

Tab. 1 Beispiele dominanzfördernder sprachlich-vermittelter Kommunikation

Prävention und Maßnahmen gegen stochastische Gewalt im System

Das systemische Vorliegen dominanzfördernder Kommunikation macht es schwierig, diese aus einem systemimmanenten Blick heraus zu identifizieren. Abhängig vom individuellen Grad der Problematisierung entsprechender Kommunikation und den individuellen Sozialnormen fällt dies leichter oder schwerer (Bilewicz und Soral 2020). Problematisch erscheint an dieser Stelle, dass gerade die regelmäßige Exposition dominanzfördernder Kommunikation die Fähigkeit zur Identifizierung einschränkt, während auf der anderen Seite eine Problematisierung dominanzfördernder Kommunikation mit dem Sichtbarkeitsgrad niedriger wird und damit schwindet. Vor diesem Hintergrund rücken in Bezug auf Fragen der Prävention und Intervention auf der Ebene von Systemstrukturen die Identifikation und die Reflexion dominanzinduzierender Narrative und Kommunikationsstrukturen in den Mittelpunkt.

Für den Kontext des polizeilichen Systems bedeutet dies zum einen die Sichtbarmachung und reflexive Bearbeitung des polizeilichen Gefahrennarrativs bei gleichzeitiger Implementierung systematisch zu erarbeitender alternativer Narrative. Ansatzpunkte hierfür bietet die Forschung im Bereich persuasiver systemischer Kommunikation mit Blick auf Radikalisierungen (Braddock und Horgan 2015).

Weiterhin gilt es, in Bezug auf Kommunikation (verbal und nonverbal – im Innen- und im Außenverhältnis) dominanzsensibel zu sein und die Sensitivität hierfür im System zu entwickeln und auf individueller Ebene zu stärken. Klare Richtlinien für akzeptable und inakzeptable Verbalkommunikation (Miller 2021) und die Kultivierung individueller Selbstwahrnehmung gegenüber dominanzinduzierender Kommunikation (Tran et al. 2018) könnten hier erste Schritte darstellen. Auf einer zweiten Ebene gilt es, als Polizeisystem tief integrierte nonverbale Dominanzkommunikation, wie sie beispielsweise über Militarisierungsbestrebungen mit Blick auf Aufrüstung und Ausrüstung sichtbar wird, kritisch zu hinterfragen, mit dominanzfördernder Kommunikation in Verbindung zu bringen und systemisch zu bearbeiten. Im Sinne unserer bisherigen Argumentation ist dabei anzumerken, dass die angesprochenen Maßnahmen und Orientierungen nicht im Sinne linear wirksamer Prävention und Intervention zu verstehen sind. Von polizeilichen Gegennarrativen zum etablierten Gefahrennarrativ oder Standards für einen dominanzsensiblen Sprachgebrauch innerhalb der Polizei ist ebenfalls eine stochastische Wirkung zu erwarten. Indem sie andere, namentlich prosoziale Werte in den Mittelpunkt stellen, tragen sie dazu bei, Gewalt unwahrscheinlicher werden zu lassen.

Fazit

Das Konzept der stochastischen Gewalt erklärt die Entstehung von Gewalt als einen wahrscheinlichen, aber im konkreten Einzelfall nichtvorhersagbaren Prozess. Stochastische Gewalt bildet sich im Medium der Kommunikation. Beschimpfungen, Urteile, Anfeindungen, die in den weit und tief verzweigten Kommunikationsnetzwerken moderner Gesellschaften massenhaft zirkulieren und sich gegen individuelle und kollektive Akteure richten, bilden den Nährboden einer zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen sie ausgeübten Gewalt: Viele werden es hören, lesen und kommentieren, einer wird handeln – irgendwann, irgendwo.

Im vorliegenden Beitrag haben wir das Konzept stochastischer Gewalt auf die Strukturen der Polizei in Deutschland bezogen. Um genau jenen eigenen potenziell gewaltverstärkenden Effekt zu erkennen und zu verhindern, so unsere These, ist es für die Polizei unabdingbar, systeminterne Strukturen und Routinen der Kommunikation auf ihre potenziell gewaltbegünstigende Wirkung zu reflektieren. Dazu gehört u. a. die im Konzept der Eigensicherung gängige Gefahrenrhetorik oder auch der in der Polizei-Bürger*innen-Kommunikation ggf. vorherrschende Modus sozialer Dominanz, der sich in Form herabwürdigender und stigmatisierender Gesten und Sprachhandlungen manifestiert. Es liegt in der Verantwortung einer modernen, bürgerorientierten und vom Primat der Menschenwürde ausgehenden Polizei und Polizeiwissenschaft, sich dieser Strukturen und Praktiken aktiv zuzuwenden, diese aufzuklären und damit ihren eigenen Beitrag zur stochastischen Reduktion von Gewalt zu leisten.