Einleitung

Der Rechtsextremismus stellt unübersehbar eine Gefährdung für Individuen, die Gesellschaft und die demokratische Grundordnung in Deutschland und ganz Europa dar. Daher ist Forschung, die nachvollziehbar macht, wie es zu Radikalisierung – also zur Hinwendung zu rechtsextremen Einstellungen und gewaltbereitem Handeln – kommt, notwendig. Zahlreiche rechte Gewaltstraftaten verdeutlichen die Aktualität des PhänomensFootnote 1 und zeugen von zunehmender gesellschaftlicher Spannung und Polarisierung (Zick 2017, S. 16).Footnote 2 Rechtsextremismus geht weiter als der Rechtspopulismus, den ein Volk-Elite-Gegensatz, Nativismus und Populismus ausmachen (Boehnke und Thran 2019). Zwar stellt der Rechtsextremismus (ebenso wenig wie der Islamismus; Snow und Byrd 2007) kein einheitlich definiertes Phänomen dar, jedoch gibt es zentrale Bestandteile rechtsextremer IdeologienFootnote 3 wie naturalisierende bzw. kulturalisierende Ungleichwertigkeitsannahmen, die ethnische Zugehörigkeit überbewerten, fremdenfeindliche bzw. rassistische Einstellungen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wobei Menschen „aufgrund ihrer gewählten oder zugewiesenen Gruppenzugehörigkeit als ungleichwertig markiert und feindseligen Mentalitäten der Abwertung und Ausgrenzung“ ausgesetzt werden (Heitmeyer 2005). Extremismus zeichnet im Allgemeinen die Konstruktion einer singulären Eigenidentität aus, die nach außen verteidigt wird (Berger 2018, S. 579). Weiterhin prägen autoritäre und antidemokratische Ordnungsvorstellungen und die Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung dieser Ordnung den Rechtsextremismus. Manifester Rechtsextremismus äußert sich in politisch motivierten Straftaten und der Zugehörigkeit zu rechtsextremen Parteien, Kameradschaften und subkulturellen Gruppen (Frank und Glaser 2018; Pfahl-Traughber 2006).

In diesem Beitrag rekonstruieren wir über die Selbstpräsentationen der Befragten idealtypische biografische Selbstbeschreibungen. Dadurch gelingt es, latente Inhalte und Handlungsmotive nachzuvollziehen. Wir folgen dem Ansatz der „narrative criminology“, deren Untersuchungen an den Erzählungen von Täter*innen ansetzen (Presser 2009). Wir erforschen, wie der Radikalisierungsprozess aus biografischer Sicht verläuft. Die Biografieanalyse bettet gesamtbiografisch ein, wie extreme Orientierungen Identität stiften und handlungsleitend werden; damit können relevante Orientierungsmuster für die Phase der Radikalisierung gezeigt werden (Frank und Glaser 2018, S. 358). Die Grundannahme der Biografieanalyse lautet, dass sich rechtsextreme Handlungs- und Orientierungsmuster in einem lebenslangen Prozess entwickeln, in dem familiengeschichtliche, biografische und außerfamiliale Erlebnisse zusammenwirken (Köttig 2008). Die rekonstruierten Selbstbeschreibungen folgen dabei in genuin qualitativer Forschungslogik den Relevanzsetzungen der Befragten selbst, ohne Konzepte von außen an sie heranzutragen. Sie münden in eine empirisch begründete Typenbildung biografischer Selbstbeschreibungen der Radikalisierung in den Rechtsextremismus. Wir prüfen anschließend, ob eine Übertragung auf den Phänomenbereich des radikalen Islamismus konstruktiv ist.

Der Text ist wie folgt aufgebaut: Zunächst definieren wir den zugrunde liegenden Radikalisierungsbegriff und geben einen Überblick über den Forschungsstand. Im Anschluss beschreiben wir Methode und Sample. Im Ergebnisabschnitt diskutieren wir jede der vier rekonstruierten typischen biografischen Selbstbeschreibungen und anschließend die Übertragbarkeit auf den Phänomenbereich des Islamismus. Abschließend ziehen wir ein Fazit und machen die Grenzen unserer Studie sowie den Forschungsbedarf deutlich.

Radikalisierung – Begriff und ausgewählter Forschungsstand

Radikalisierungsprozesse fassen wir als den Prozess der Hinwendung zu extremistischen Einstellungen. Extremismus verstehen wir im Anschluss an Kemmesies (2006) pragmatisch als die Bemühung, durch nichtdemokratisches, illegitimes Vorgehen den gesellschaftlichen Status quo zu verändern (S. 11). Wie im Diskurs häufig (McCauley und Moskalenko 2008), konzentrieren wir uns in diesem Text auf die Radikalisierung von nichtstaatlichen Individuen und Gruppen. Radikalisierung als Prozess verstehen wir wie McCauley und Moskalenko (2008, S. 416): „radicalization means change in belief, feelings, and behaviors in directions that increasingly justify intergroup violence and demand sacrifice in defense of the ingroup“.

Definitionen von „Radikalität“ bzw. „Gefährdung“ sind stets politisch und mit sicherheitsbehördlichen Interessen verknüpft. Jukschat und Leimbach (2019, S. 11) bezeichnen den Radikalisierungsbegriff als „hegemoniales Paradigma“ aufgrund seiner Normativität. „Radikalisierte“ sind als soziale Problemgruppe hochgradig konstruiert (Leimbach 2019; ebenso Coppock und McGovern 2014). Deradikalisierungs- und Ausstiegsprogramme können in neoliberaler Gouvernementalität gründen (Elshimi 2015; einen Überblick über Counterterrorismusstrategien gibt Hellmuth 2015, S. 86 f.). Uns dieser Probleme bewusst, setzen wir in dieser Studie an Personen an, die wegen einschlägiger Straftaten verurteilt waren und denen das Label „radikal“ entweder anhaftete oder die sich selbst so einschätzten; jedenfalls mussten sie sich bereits mit dem Etikett auseinandersetzen.

Beim Prozess der Radikalisierung kommen Faktoren unterschiedlicher Ebenen zum Tragen (Bögelein et al. 2017; Borum 9,10,a, b; Frindte et al. 2016; Kruglanski et al. 2019; Zick 2017). Diese wirken nicht nur auf der Mikroebene des Individuums, sondern auch auf der gesellschaftlichen Makroebene (z. B. Diskriminierung, Ungerechtigkeit, Konflikt) und der gruppenbezogenen Mesoebene (Gemeinschaftsgefühl, Freund-Feind-Abgrenzung, Gruppenprozesse) (Meier et al. 2020; Frindte et al. 2016, S. 11).

Welche konkreten Faktoren beeinflussen die Radikalisierung in den politischen Extremismus? Eine Rolle spielen wahrgenommene negative Behandlung durch die Polizei, Überzeugung von der Richtigkeit konformen Verhaltens und Risikosuche (Baier et al. 2016). Frindte et al. (2016) werten Radikalisierung als Resultat nichtzufriedenstellender Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben wie Zugehörigkeit, Akzeptanz und emotionaler Rückhalt. Bei deren Bewältigung bieten radikale Szenen Lösungsansätze und konkrete Unterstützung. Gerade Kontakte in der Freizeit scheinen relevant (Möller und Schumacher o.J.). Menschen, die sich radikalen Szenen zuwenden, fehlt es an Systemintegration (z. B. Schule), sie bewerten ihre Lage als dauerhaft und systematisch benachteiligt – was von außen betrachtet nicht unbedingt zutrifft. Ihnen mangelt es an Kommunikationskompetenz, Selbstwertgefühl und Empathiefähigkeit, und sie weisen eine maskulinistische Orientierung auf. Rechtsextreme pflegen oft bestimmte Zeichen hegemonialer Männlichkeit (Connell 1995) in Form zur Schau gestellter Haltungen und Einstellungen, z. B. Heterosexualität, Familiengründung, Dienst an Volk und Nation, soldatische Einstellung, Kompromisslosigkeit und Härte sowie das Auftreten als Führer und Gestalter (Virchow 2011, S. 42). Pfeiffer (2016) sieht die Berührungspunkte zur Szene besonders in der Familie – gerade Großväter agieren als „Stichwortgeber“ (S. 458) –, Schule oder in Musik- oder Sportszenen und prägt den Begriff „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ (Glaser und Pfeiffer 2013). Musik ist in der Verbreitung und Entwicklung einer rechtsextremen Kultur bedeutsam (Shaffer 2017). Erhöhter Patriotismus ist auch bei Menschen mit demokratischen Einstellungen ein Risikofaktor zur Einschränkung religiöser Rechte bestimmter Gruppen (z. B. Moscheebau; Canan 2017).

Kraus und Mathes (2010) untersuchten Ähnlichkeiten zwischen Straftäter*innen, die von der Polizei als rechtsmotiviert eingestuft werden, und anderen Straftäter*innen. Rechtsmotivierte Täter*innen begingen häufig Gewaltdelikte und ähnelten in vielerlei Hinsicht der Gruppe der nicht politisch motivierten Gewalttäter*innen. Tatverdächtige rechter Gewalt sind aktuell nicht mehr typische jugendliche Delinquent*innen; die Altersstruktur wandelt sich. Waren 2007 noch 51 % der Tatverdächtigen Jugendliche und Heranwachsende, sank deren Anteil 2017 auf 7 %; die Täter*innen werden älter (Laube et al. 2019). Auch Willems und Steigleder (2003) widerlegen, dass rechtsextreme Gewaltstraftaten mit jugendtypischen Taten gleichzusetzen sind, sondern ordnen sie aufgrund der Täter-Opfer-Konstellationen und der Tatmotive der Hasskriminalität zu.

Lützinger (2010) identifiziert aus den Biografien rechtsextremer Akteur*innen Einflüsse explizit ideologischer Gruppen. Ideologisch Interessierte kontaktieren teils aktiv entsprechende Gruppen, um durch sie Schutz zu erfahren. Ebenso radikalisieren sich bereits bestehende Gruppen. Weiterhin können Kontakte zu Gleichgesinnten auf gemeinsamen politischen Interessen fußen, und schließlich rekrutieren radikale Gruppen gezielt neue Mitglieder. Jugendliche ohne rechtsextreme Orientierung sind eher Mitglied in konformen Vereinen, etwa Sportvereinen, als Jugendliche mit rechtsextremen Einstellung (Möller und Schumacher o.J.; Becker 2010). Auch Carlsson et al. (2020) betonen die Bedeutung von Gruppen. In Interviews mit Aussteigenden fanden sie drei Grundbedingungen für Radikalisierungsprozesse: schwache soziale Kontrolle, Interaktion mit Individuen in der Nähe ideologischer Gruppen sowie Identitätsbildung und Sinnerfüllung im Rahmen der Gruppe. Orientiert sich die Identität einer Person an der Beziehung zur Gruppe, so steigert sich die Gewaltbereitschaft zugunsten dieser. Kruglanski et al. (2019) sahen in einer empirischen Interviewstudie ihr 3N-Modell bestätigt, das dreierlei Notwendigkeiten sieht: „needs“ (der Radikalisierenden), „narratives“ (kulturelle Erzählungen, denen zufolge das Engagement für die Sache die Bedürfnisse befriedigt), und „networks“ (die sowohl informativen als auch normativen Einfluss haben). Auch Snow und Byrd (2007) erklären anhand des Islamismus, wie wichtig das „framing“ einer radikalisierten sozialen Bewegung für die Mobilisierung ist; es braucht ein diagnostisches („Was läuft falsch?“), ein prognostisches („Was ist zu tun?“) sowie ein motivationales („Warum tue ich das?“) Framing.

Was den Radikalisierungsprozess selbst betrifft, so zeigen Studien unterschiedliche Prozesse. Eckert (2013) identifiziert die Stufen, die über die Angst vor als fremd Gelesenen hin zu Fremdenfeindlichkeit und schließlich zur rechtsextremen Ideologie führen. Eine Irritation durch Unbekanntes führt zum Gruppenbewusstsein und dem Ausschluss von Personen, die für „weniger Wert“ befunden werden. Das steigert die gefühlte Bedrohung, und man wertet schließlich angeborene Merkmale auf und deren Fehlen ab. Diese Wertvorstellungen verabsolutieren sich schließlich und verdrängen andere Loyalitäten. Möller und Schumacher (o.J.) konnten in einer Studie in der extrem rechten Skin-Szene vier Muster der Hinwendung identifizieren (Möller und Schumacher o.J.): Die Muster „interethnischen Konkurrenzerlebens“, „kultureller Hegemonie menschenfeindlicher Deutungsbestände“, „[politischer] Supplementierung jugendkultureller Partikularintegration“ und „gesinnungsgemeinschaftlicher Rebellion“. Bögelein und Meier (2020) fanden auf Basis der auch diesem Text zugrunde liegenden Interviews vier Initialmomente für die Radikalisierung. Im Typus „Pfadabhängigkeit“ erfolgt der Einstieg nicht politisch motiviert über den sozialen Nahraum. Im Einstiegstypus „Selbstverständliches wird Überzeugung“ ist die Ideologie zwar im sozialen Nahraum vorhanden, jedoch sucht Ego gezielt Kontakt zu radikalen Gruppen außerhalb. Im Typus „Gefolgschaft“ entsteht der Kontakt zur Ideologie über eine Gruppe, bei der Ego zunächst eher nach Zugehörigkeit als nach Politik sucht. Im Typus „Weltanschauung“ hat Ego im sozialen Nahraum keinen Bezug zum Rechtsextremismus und sucht gezielt nach rechtsextremen Gruppierungen, die seiner Überzeugung entsprechen. Schließlich zeigte die Studie von Colvin und Pisoiu (2020), dass sich rechtsextreme Gewalttäter*innen sowohl auf die Werte ihrer subkulturellen Szene als auch auf die gesamtkulturelle Wertebasis berufen, um ihre Taten zu neutralisieren. Im Unterschied zu nichtpolitischen Gewalttäter*innen verhehlen sie aber nicht ihr Ziel, ihre Ideologie als gesamtgesellschaftlichen Standard zu etablieren, etwa indem sie „tropes“, nichtausgeführte Andeutungen auf ihre ideologische Basis, ganz selbstverständlich einfließen lassen (z. B. abwertende Begriffe für bestimmte Gruppen).

Daten und Methode

Biografieforschung

Der soziologischen Biografieforschung folgend verstehen wir Biografien als ein soziales Konstrukt, das nicht rein individuell oder subjektiv angelegt ist, sondern auf kollektive Regeln, Diskurse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist. In Entwicklung und deutendem Rückblick ist die Biografie immer zugleich individuelles und kollektives Produkt (Rosenthal 2014). Die Biografieforschung analysiert biografische Konstruktionen, die ausgebildet werden, um das eigene Leben zu deuten und eine Orientierung für Handlungs- und Lebensentwürfe zu gewinnen. Ebenfalls trägt sie zum Prozess des Fremdverstehens bei, also dem Nachvollziehen des lebensgeschichtlichen Prozesses des So-geworden-Seins (Rosenthal 2014). Wir suchen nach Prozessstrukturen in der individuellen Biografie, da wir mit Schütze (1983, S. 284) davon ausgehen,

daß [sic] es elementare Formen dieser Prozeßstrukturen [sic] gibt, die im Prinzip (wenn auch z. T. nur spurenweise) in allen Lebensabläufen anzutreffen sind […], und daß [sic] es systematische Kombinationen derartiger elementarer Prozeßstrukturen [sic] gibt, die als Typen von Lebensschicksalen gesellschaftliche Relevanz besitzen.

Unser Verständnis von Biografien ist dabei anders als das von Präventionsprojekten, die mit Aussteigenden arbeiten (Überblick bei Gansewig und Walsh 2020). Dort wird den Biografen eine naturgemäße, alleinstellende Authentizität zugesprochen, und die Geschichte wird instrumentalisiert. Unser Ansatz hingegen rekonstruiert, wie sich das Erleben für die Biografen zum Zeitpunkt des Ereignisses gestaltet hat, und legt so die Strukturen offen, welchen das biografische Handeln folgt. Wir verfolgen nicht das Ziel, den Wahrheitsgehalt der Selbstpräsentationen zu ermitteln; das kann empirische Sozialforschung, die auf Retrospektion beruht und Rationalisierung unterliegt, nicht leisten. Der Wert der Analyse liegt darin, die aus den Selbstpräsentationen in der Tradition rekonstruktiver Forschung herausgearbeiteten idealtypischen biografischen Selbstbeschreibungen des Handelns sichtbar zu machen.

Wir haben die Biografien in narrativen Interviews mit Personen, die sich dem Rechtsextremismus oder dem Islamismus zugehörig fühlen oder fühlten, erhoben. Die Auswertung der Interviews orientierte sich an den Auswertungsschritten nach Rosenthal (1995). Zunächst analysierten wir biografische Daten bzw. Ereignisdaten. Durch Hypothesen- und Folgehypothesenbildung wird das Erleben zum Zeitpunkt eines Ereignisses (erlebte Lebensgeschichte) rekonstruiert und eine Strukturhypothese entwickelt, die die Regeln über das biografische Handeln des Biografen aufdeckt. Der folgende Analyseschritt Text und thematische Feldanalyse sequenziert die Haupterzählung des Interviews nach Sprecher*innenwechsel, Textsorte und Thema. Dies dient der Rekonstruktion der Selbstdeutung der Biografen (erzählte Lebensgeschichte) und dem Formulieren eines Präsentationsinteresses. Die Rekonstruktion der Fallgeschichte reichert biografische Daten mit Interviewzitaten an, um Hypothesen zu belegen, zu erweitern und zu verwerfen. Die Auswertungsschritte wurden durch Feinanalysen von unverständlichen, uneindeutigen oder besonders interessanten Textstellen ergänzt. Zudem haben wir für jedes Interview die Einstiegssequenz analysiert, da die Selektivität des Einstiegs viel über das Präsentationsinteresse des Biografen zeigt. Die abschließende fallspezifische Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte erklärt Differenzen der beiden Ebenen, d. h. zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive. Nach der Analyse des Einzelfalls erfolgt die „komparative Kontrastierung“ (Bohnsack 2014, S. 96), um idealtypische Selbstbeschreibungen anhand konstituierender Merkmale zu bilden (Kelle und Kluge 2010), welche das Ergebnis unserer Analyse sind. Im Abschnitt „Idealtypen biografischer Selbstbeschreibung der Radikalisierung“ beschreiben wir die vier herausgearbeiteten Typen biografischer Selbstbeschreibungen der Radikalisierung.

Beschreibung des Samples

Das Forschungsprojekt war längsschnittlich angelegt. Wir haben zwischen April 2018 und Juli 2020 biografisch-narrative Interviews in zwei Erhebungswellen durchgeführt. Von den 21 in Welle eins befragten MännernFootnote 4 waren neun dem rechtsextremen und drei dem islamistischen Spektrum zuzuordnen, eine Person war ein (unpolitischer) gewalttätiger Hooligan und eine andere ehemals bei der Antifa aktiv. Obwohl unser Fokus auf Personen lag, die entweder rechtsextrem oder islamistisch orientiert sind oder waren, passten sieben weitere Befragte ebenfalls – wie auch der unpolitische Hooligan und der ehemalige Antifa-Aktivist – nicht ins Sample und wurden nicht in die Analyse einbezogen.Footnote 5 In Welle zwei konnten wir, nach zwölf Monaten, acht Personen (sieben aus dem rechten Spektrum, einen aus dem Islamismus) erneut befragen. Folglich fließen in die vorliegende Analyse insgesamt 20 Interviews mit zwölf Personen ein. Die Interviews dauerten zwischen 34 und 172 min und wurden mehrheitlich in Gefängnissen geführt. Die Befragten waren zum Interviewzeitpunkt zwischen 23 und 43 Jahre alt. Acht Personen haben (teils schwere) Gewalt in der Familie erlebt, sieben Befragte sind in unvollständigen Familien, bei den Großeltern oder in Fremdunterbringung aufgewachsen, und einer kam als unbegleiteter, minderjähriger Geflüchteter nach Deutschland, wo er ohne elterliche Aufsicht lebte.

Der Einstieg in den Rechtsextremismus gestaltet sich im Lebensverlauf als zeitlich sehr unterschiedlich. Zwei Befragte sind in eine rechtsextreme Familie hineingeboren, sie wuchsen also seit der Geburt im rechten Milieu auf. Fünf Befragte kamen in der (frühen) Jugend, zwischen dem zehnten und 16. Lebensjahr, in Kontakt mit der rechten Szene. Zwei Personen können als Spätstarter bezeichnet werden. Einer davon wies zwar schon früh eine fremdenfeindliche Einstellung auf, stieg aber erst im Alter von 28 Jahren in organisierte rechte Strukturen ein. Der andere kam erst mit Ende 30 mit dem Rechtsextremismus in Kontakt und beging dann schwere politisch motivierte Straftaten. Mindestens sechs Befragte sind oder waren in Kameradschaften und/oder parteipolitisch organisiert und haben politisch motivierte Gewaltstraftaten begangen. Zwei Befragte haben zum Zeitpunkt des Interviews an einem Ausstiegsprogramm teilgenommen, zwei weitere haben sich vom rechten Gedankengut selbstständig gelöst, und die restlichen fünf sind (teilweise aufgrund der Haft) aus dem organisierten Rechtsextremismus ausgestiegen, dem rechten Gedankengut aber weitgehend treu geblieben, was sich teilweise in Haft noch verstärkt hat.

Im Bereich des Islamismus gibt es ebenfalls unterschiedliche Verläufe und Motive. Ein Befragter ist in einem streng gläubigen Milieu in einer Familie aufgewachsen, die sich im Laufe seiner Jugend radikalisierte und in ihr Herkunftsland (aus dem sie zuvor nach Deutschland geflohen war) auswanderte, um sich dort einer islamistischen Bewegung anzuschließen. Ein gebürtiger – zunächst nichtpraktizierender – Muslim, begann mit knapp 20 Jahren, sich dem Islamismus zuzuwenden, und der dritte fand – ebenfalls mit knapp 20 Jahren – in einem streng gläubigen Muslim eine wichtige Bezugsperson und radikalisierte sich. Zwei von ihnen beendeten durch die Zuwendung zum Islamismus ihren sehr ausgeprägten Alkohol- bzw. Drogenkonsum. Alle drei bewegten sich im Laufe ihrer Radikalisierung in islamistischen Gruppenstrukturen, aber keiner übte ideologisch motivierte Gewalt aus. Zwei Befragte haben sich während der Haftstrafe von der radikalen Ideologie gelöst, bei dem dritten war dies nicht eindeutig.

Idealtypen biografischer Selbstbeschreibung der Radikalisierung

Der folgende Abschnitt präsentiert vier Typen biografischer Selbstbeschreibung von Radikalisierung, die wir aus den Selbstpräsentationen der Befragten, die wir ab hier als Biografen bezeichnen, rekonstruiert haben. Die beschriebenen Typisierungen wurden aus den 16 Interviews (Welle eins und Welle zwei) mit insgesamt neun rechtsextremen Biografen rekonstruiert; wir prüfen im Anschluss jeweils, ob sie auf die vier Interviews (beide Wellen) der drei islamistischen Biografen übertragbar sind.

Die im Folgenden genannten Vornamen sind Pseudonyme. Diese wurden willkürlich gewählt, um den Text einerseits verständlicher zu machen (als durch Codenummern), andererseits um die Anonymität der Befragten zu wahren. Die Herleitung der idealtypischen Selbstbeschreibungen belegen wir mit Fallbeispielen und besonders treffenden, dichten Zitatstellen; diese liefern zudem einen unverstellten Blick auf die Lebenswelt und Rationalisierungen der Biographen. Die Zitate wurden sprachlich geglättet, um eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten. Die Typen werden zunächst abstrakt beschrieben und dann durch Biographien illustriert.

„In dem Metier geboren“

Der Selbstbeschreibungstypus „In dem Metier geboren“ (Zitat Marc) zeichnet sich durch das Hineingeborenwerden in eine rechtsextreme Ideologie aus, die als normale Sicht auf die Welt gilt und mit Gewalt und Straftaten verteidigt wird. Im familiären Kontext sind die Biografen der Weltanschauung und den damit verbundenen Werten ausgesetzt, ohne hinterfragen zu können, ob man diese teilt. Die Unterwerfung unter die familiäre Lebensart wird mit autoritärer Stärke, teils mit Gewalt, durch die Elterngeneration – meist den dominanten Vater – durchgesetzt. Im weiteren Verlauf wird die Ideologie aber aktiv und gewaltförmig mitgelebt. Die Biografen erläutern zunächst ausführlich die Radikalität und das starke Involviertsein in die Szene, dann aber auch die Ablösung, denn diese biografische Selbstbeschreibung nutzen nur Ausgestiegene. Der Prozess der Ablösung beginnt mit der Adoleszenz, in der sich Jugendliche kritisch mit ihrer Rolle in der Familie und deren Weltanschauung auseinandersetzen. Die Distanzierung wird ausgelöst durch eine Beziehung zu einer Person, die von der Ideologie strikt abgelehnt wird. Durch die enge Verknüpfung der Familie mit der rechtsextremen Szene erfordert eine Loslösung von der Ideologie meist auch den Kontaktabbruch mit der Familie. Hier zeigen sich Parallelen zu Sigls (2018) Typus „Distanzierung als familiale Emanzipation und als gesellschaftliche Konsolidierung“, der sich auch auf die familiär bedingte ideologische Verstrickung seit der Kindheit bezieht. Dort ist der Ausstieg ebenfalls nur mit einer Abwendung von der Familie möglich.

Der Biograf Marc zeigt die Besonderheit des Einstiegs, wenn er sagt: „Ich wurde in das Metier hineingefügt, dort auch aufgewachsen und so auch erzogen“. Seine Wortwahl hebt die Passivität und die Notwendigkeit, sich den Traditionen der Familie zu unterwerfen, hervor. Er wurde einer rechtsextremistisch-ideologischen Erziehung unterzogen und wuchs in einem „Metier“ auf, das sich strikt von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzte, wie folgendes Zitat verdeutlicht:

Das wurde immer strikt abgelehnt. Da wurde immer gesagt, so, nur wir, nur unsere Gesinnung, nur unser Verein, nur unsere. Ja. Also nur alles, was in diesem Kreis war. Alles, was außerhalb war, gehört nicht zu uns. Geben wir uns nicht mit ab. Haben wir auch keinen Kontakt. (Marc)

Die Abschottung nach außen macht es schwierig, die rechtsextreme Ideologie in Frage zu stellen. Die Betonung auf „nur“, „wir“ und „uns“ verdeutlicht außerdem ein Elitedenken; er ist Mitglied einer Gruppe, die sich als überlegen definiert (Berger 2018, S. 54 f.).

Franz wird ebenfalls in eine rechtsextreme Familie hineingeboren. In seinem Aufwachsen ist er neben ideologischen Treffen unter Erwachsenen auch Alkohol, Drogen und Kriminalität ausgesetzt, und seine Erziehung ist von Gewalt geprägt. Seine Bezugspersonen sind ausschließlich Familienmitglieder und rechtsextreme Freunde der Eltern sowie deren Kinder. Kontakt zu gleichaltrigen Andersgesinnten fehlt, auch weil Franz in wechselnden Schulen unterrichtet wird, was den Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen erschwert und von den Eltern auch nicht gewünscht ist. Er fühlt sich dem rechtsextremen Milieu angehörig.

Also mit Glatzen. Mit vielen Glatzen. Das war so mein, na ja mein Punkt, wo ich mich so zugehörig gefühlt habe. Wo ich so diese Gefühle von Gemeinschaft so erfahren habe. Die sich immer gefreut haben, wenn du da bist. Und natürlich, um dir ihren Scheiß einzutrichtern, auf Deutsch gesagt. Aber zu dem damaligen Zeitpunkt war das einfach wie meine Familie, waren Freunde. Und was die gemacht haben, war normal für mich. Also ich kannte ja nichts anderes. (Franz)

Die Abgrenzung der Ideologie von der Mehrheitsgesellschaft wird in dieser biografischen Selbstbeschreibung von der Elterngeneration, wie oben dargestellt, aktiv forciert und stellt einen wichtigen Aspekt im Leben der Biografen dar. Die rechte Ideologie ist dabei die Konstante im Aufwachsen, welches von fehlender emotionaler Sicherheit und Geborgenheit in der Familie geprägt ist. Marcs Beziehung zur Mutter ist distanziert; der rechtsextreme Vater setzt seine Erziehungsziele autoritär mit Gewalt durch. Trotzdem nimmt dieser eine Vorbildfunktion für Marc ein, der sich der Ideologie nicht nur unterordnet, sondern sie aktiv unterstützt, auch um dem Vater zu gefallen. Die Reaktion des Vaters auf ein Hakenkreuztattoo, das er sich mit 13 Jahren stechen lässt, zeigt dies eindrücklich:

Habe ich mein T‑Shirt ausgezogen, und dann sieht er die Tätowierung, der hatte so einen Glanz in den Augen, so eine Freude! Er hat gegrinst, er hat „Oh, das ist toll!“. Habe ich mir gedacht so, äh geil, okay, ja klar, cool, super, ich so „Yeah, geil!“ Mit 13, hallo, wer tätowiert ’nem 13-Jährigen ein Hakenkreuz auf die Brust? (Marc)

Verstärkt durch wechselnde Wohnsettings entsteht auch im Leben von Franz eine emotionale Unsicherheit, und der Rechtsextremismus nimmt eine wichtige Rolle ein. Franz engagiert sich auch außerhalb seiner Familie in der rechten Szene und wendet politisch motivierte Gewalt an. In seiner Lebensgeschichte tritt aber abweichendes Verhalten nicht nur im Zusammenhang mit der rechten Szene auf, ein Fall von Gleichzeitigkeit von politisch motivierten und nichtpolitischen Straftaten (Kraus und Mathes 2010). Die Intensität und Häufigkeit der Delikte übersteigen jedoch die normale, ubiquitäre und episodenhafte Jugenddelinquenz (auch Willems und Steigleder 2003) und sie sind häufig rassistisch motiviert.

Und wenn dann halt auch noch ein ausländischer Mitbürger dich so von der Seite so anguckt und du ja schon getrimmt bist auf dieses: „Ey, was will denn der von mir“? Und dann schaukelt es sich halt sehr schnell hoch. Und du hast gar keine Hemmungen, du schlägst einfach zu. Und das habe ich gemacht. (Franz)

Auch Marc ist Gewalt nicht nur als Opfer seines Vaters ausgesetzt, sondern verübt sie auch als Täter. Er betont, dass er zwar in das rechte Milieu hineingeboren wurde, aber nicht passiv blieb. Die für ihn wichtige Handlungsfähigkeit eignet er sich an, indem er Macht über andere ausübt, dabei ist das Elitedenken handlungsweisend. Er setzt körperliche Stärke ein und betont, dass er sich behaupten kann. Neben nicht-szenebezogenen Delikten wie Drogenhandel oder Steuerhinterziehung verübte er auch rechtsmotivierte Straftaten wie die gewalttätige Beteiligung an politischen Demonstrationen und das gezielte Erpressen, Abwerten und Angreifen von als fremd gelesenen Menschen.

Wenn irgendwie arabischstämmige Leute oder afrikanische Leute, die mir auf dem Schulweg begegnet sind, Schulranzen ab, vertrimmen, verkloppen, zu sagen: „Du gehörst nicht in unser Land, verpiss dich!“ (Marc)

Marc und Franz präsentieren sich im Laufe des Interviews als Aussteiger aus dem Rechtsextremismus und werten die Ideologie sprachlich und inhaltlich ab. Beide emanzipieren sich von Familie und Ideologie durch die Beziehung zu Frauen, die der zuvor abgewerteten Gruppe angehörten, und hinterfragen das rechtsextreme Gedankengut, das bisher ihr Leben und Denken geprägt hat. Diese Transformation fasst Franz im folgenden Zitat zusammen.

Ich wurde ja, wie gesagt, darauf getrimmt. So, „Alles was nicht deutsch ist, hat hier nichts zu suchen.“, auf Deutsch gesagt, so. Das war mal so. Sonst wäre das ja alles nicht passiert. Aber die gibt es nicht mehr. Im Gegenteil, ich verabscheue das. Weil jeder Mensch das Recht hat, egal, wo er herkommt, welche Hautfarbe er hat, welchen Dialekt er spricht, wie auch immer. Wir sind alle Menschen. Und ich finde, miteinander ist es auch besser als gegeneinander. (Franz)

Lässt sich nun der Typus „In dem Metier geboren“ auf den Islamismus übertragen? Auch dort beschreibt ein Biograf, Jamal, wie er in ein streng religiöses Milieu mit sich radikalisierender Familie hineingeboren wurde und ihm Einflüsse von außen fehlten. Seine Kindheit ist vom Geflüchtetenstatus ohne sicheren Aufenthalt in Deutschland, staatlichen Transferleistungen und struktureller Diskriminierung geprägt. Zudem gab es innerfamiliäre Herausforderungen wie die Trennung der Eltern sowie vom Stiefvater und eine autoritäre, teils gewaltförmige Erziehung. Eine Moschee, die Vorträge radikaler Imame veranstaltete, ist für die Familie ein Bezugspunkt. Jamal scheint zwar nicht so sehr an der quasireligiösen Ideologie interessiert, sondern widmet sich jugendtypischen Aktivitäten: „[Z]u dieser Zeit hab’ ich auch dieses Spiel gespielt, dieses Warcraft und ich […] wollte einerseits zum Vortrag [in der Moschee], aber einerseits wollt’ ich auch spielen“. Aber er geht die familiäre Radikalisierung mit, nimmt die Ideologie unhinterfragt an und wandert aus, um einer militant-islamistischen Bewegung beizutreten. Jamal präsentiert sich als passiver Mitläufer und damit genau wie die Rechtsextremen, die den Typus der Selbstbeschreibung begründet haben. Jedoch hat die Loslösung von der Ideologie für Jamal nicht den gleichen Stellenwert wie für die (ehemals) rechtsextremen Biografen; sie wird nicht Gegenstand des Interviews.

„So eine Suche nach einer Familie“

Die Suche nach Halt und Gemeinschaft, die in Herkunftsfamilie bzw. Fremdunterbringungen fehlen, begründen den Typus „So eine Suche nach einer Familie“ (Zitat Damian). Biografische Brüche und schwierige Lebensphasen werden als Auslöser für den Einstieg in rechtsextreme Strukturen gedeutet. Auch in dieser idealtypischen biografischen Selbstbeschreibung werden die Biografen zunächst Opfer innerhalb der Familie und später Täter von Gewalt. Frühe Kontakte zu Kameradschaftsmitgliedern sind ebenfalls typisch; es scheint aufgrund fehlender sozialer Bindungen gezielte Anwerbungen der Szene zu geben. Kameradschaften verstehen es, ihren Interessenten das zu bieten, was diese suchen. Die Erlebniswelt Rechtsextremismus (Glaser und Pfeiffer 2013), bestehend aus Zusammenhalt, gemeinsamen Aktivitäten und gemeinschaftlichem Gewaltausüben, sind hier (zunächst) wichtiger als die Ideologie. Die Bedingungsfaktoren dieses Typus biografischer Selbstbeschreibung sind Aufwachsen in konfliktbehafteten Herkunftsfamilien, Desintegrationserfahrungen in Schul- und Erwerbsbiografie, deviantes Verhalten und eher persönliche als ideologische Motive bei der Hinwendung zu rechtsextremen Gruppen, wie die Beispiele zeigen (vgl. auch Gansewig und Walsh 2020).

Brüche und Diskontinuitäten im privaten und im institutionellen Umfeld prägen das Leben des Biografen Damian. Als Kind erlebt er Gewalt und Missbrauch innerhalb der Familie und wächst in Fremdunterbringungen auf. Auch seine Schullaufbahn und sein Erwerbsleben sind instabil. Trotz positiver Erfahrungen mit einzelnen Bezugspersonen fühlt er sich außerhalb der rechten Szene nirgends zugehörig. Diese idealtypische Selbstbeschreibung steht im Zeichen einer Suche: „Also ich sage mal, das ist auch so eine Suche nach einer Familie gewesen, da habe ich halt dazugehört, dann in der rechten Szene“ (Damian). Die rechte Szene bietet Zugehörigkeit, Zusammenhalt und Gemeinschaft und ist die Konstante in einem chaotischen Leben. Seine frühen Gewalterfahrungen deutet Damian als Begründung dafür, dass auch er gewaltaffin ist:

Die Gewalt, die hat eigentlich bis heute mein ganzes Leben bestimmt. Ob es ist, dass ich damals mit vier oder was gesehen habe, wie meine Stiefväter, sage ich mal, meine Mutter verkloppen (.) oder sich an meinen Schwestern vergehen. Also Gewalt war immer ein großer Teil meines Lebens. (Damian)

Gewalt und Kriminalität spielen in diesem biografischen Selbstbeschreibungstypus eine große Rolle. Auch für Damian ist Gewalt ein Hobby, bei dem Gegner und Anlass zweitrangig sind. Gelegenheiten bieten Fußballspiele und rechte Demonstrationen, wo man auf politische Gegner (Antifa) trifft:

Die Demos fand ich dann eigentlich nur noch interessant aufgrund der Gewalt. Ja, war mein zweites Hobby halt neben Fußball. Halt hier die ganzen Auseinandersetzungen mit der Antifa. Also das war eigentlich so der Hauptgrund, warum ich eigentlich noch zu den ganzen Demos gegangen bin. (Damian)

Damian nimmt auch die Ideologie allmählich an. Er tritt einer Kameradschaft bei, unterstützt den Wahlkampf einer vom Verfassungsschutz beobachteten rechten Partei und zieht auch hier aus politischen Diskussionen ein Gefühl des Zusammenhalts. Auch außerhalb der Szene ist er weiterhin Gewalttäter, weit über jugendtypische Delinquenz hinaus:

Was hab ich gemacht? Diebstahl, Unterschlagung, Hehlerei, Erpressung, Vandalismus, Körperverletzung, Körperverletzung, Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung. Seelische Grausamkeit, Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung, Diebstahl, gemeinschaftliche Körperverletzung, Landfriedensbruch in mehreren Fällen. Gefährliche Körperverletzung mit Gegenstand. Nennt man das so? Ich glaube mit Waffe. (Damian)

Kennzeichnend für diesen Typus der Selbstbeschreibung ist, dass Einstieg in und Ausstieg aus der Szene in sehr jungem Alter, spätestens im frühen Erwachsenenalter, erfolgen. Der Ausstieg – bei Damian eingeleitet, als sein kleiner Bruder Hakenkreuze schmiert und er ihm ein besseres Vorbild sein will – bedeutet den vollständigen Beziehungsabbruch zum alten Umfeld, das ausschließlich aus Szenemitgliedern besteht, sowie das Ende der Delinquenz. Somit bleibt das wichtigste Thema für Damian weiterhin die Suche nach Zugehörigkeit. Bei dieser massiven Veränderung wird Damian durch ein Ausstiegsprojekt unterstützt, und die Ausstiegsbegleitenden werden wichtige Bezugspersonen. Auch ideologisch ist es in diesem Typus von Bedeutung, sich neu zu orientieren, da die alte Ideologie abgelegt und kritisch reflektiert wird. Damian hat den Bruch mit der Ideologie bereits von selbst vollzogen.

Ist nun die typische Selbstbeschreibung „So eine Suche nach einer Familie“, die die Hinwendung durch die Suche nach Halt und Gemeinschaft beschreibt, auch im Islamismus zu finden? Murat und Valentin begründen ihre Radikalisierung ebenso. Beide wenden sich in einer schwierigen Lebensphase dem Islamismus zu, radikalisieren sich weitgehend und finden in der Gemeinschaft Struktur, verlässliche Bezugspersonen, Wohnung, Essen sowie sinnstiftende Normen und Werte. Beide distanzieren sich von der Familie und nichtreligiösen Freund*innen und leben ausschließlich in der radikalen Gruppe.

Murats nichtreligiöse Eltern sind eingewandert. Er erfährt Gewalt in der Familie, hat Probleme in der Schule, übt selbst Gewalt aus und wird straffällig. Nach Jugendhilfemaßnahmen und einer gescheiterten Paarbeziehung wird er depressiv, trinkt und beschäftigt sich im Internet mit dem Islam.

Also, weil ich habe mich mit meinen Eltern halt nicht verstanden und ich hab’ nur getrunken und ich war nur zu Hause und ich hab diese IS-Videos geguckt. Dann man verliert dann irgendwann so die Realität so. Dann irgendwann man will unbedingt dahin, einfach so. Und war Flucht, aber auch bisschen so lebensmüde. Also man wollte gar nicht mehr, ich wollte gar nicht mehr leben, das war die Sache. Aber ich hatte auch kein Leben so. Nur trinken, Drogen nehmen und dann bisschen Islam hier. Ich bin mit mir selber nicht klar gekommen. (Murat)

Er wird bei seiner Sinnsuche bei einer radikalen Moschee fündig, schließt sich den Gläubigen an, beendet den Alkoholkonsum und radikalisiert sich schnell.

Da war ein Mann, er hat erzählt, er war in Syrien und so, er hat gekämpft und er hat sein Bein verloren, und alle haben ihn so bewundert, ja, so guck mal der, er war schon da und so. Ich hab’ ihn auch bewundert so, weil die waren richtig so respektiert von allen Leuten, die sind die Kings einfach. Ja, er meinte, er ist hingegangen und wie schön es da ist und so und für Gott zu kämpfen, dass wir nicht auf die Nachrichten hören sollen und dass wir uns nur auf den Islam halt fokussieren sollen. Also dass es der richtige Weg ist. (Murat)

Murat kleidet sich und lebt nach strengen islamischen Regeln, beteiligt sich an Missionierungsaktionen und will nach Syrien reisen, um ein Selbstmordattentat zu verüben, wird jedoch zuvor verhaftet.

Auch in Valentins Elternhaus in einem muslimisch geprägten Land spielt Religion keine Rolle. Als der Vater aus politischen Gründen ermordet wird, schickt die Mutter Valentin mit 17 Jahren, aus Sorge, er könnte von islamistischen Gruppen angeworben werden, nach Deutschland. Hier schließt er sich „Landsleuten“ (Zitat Valentin) an und durchlebt eine intensive Phase der Devianz und des Drogenkonsums. Als er einen streng gläubigen Muslim kennenlernt, der sein „geistlicher Lehrer“ (Zitat Valentin) wird, beendet er beides. Später gründet er eine streng religiöse Gruppierung und betreibt aktiv Propaganda für den IS. Aufgrund seiner Tätigkeit als „Information[s]aktivist“ (Zitat Valentin) im Internet wird er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Beide Biografen begründen die Radikalisierung mit der Suche nach Halt und Gemeinschaft, wie es auch die Rechtsextremen tun, die den Typus begründet haben.

„Korrekte, akkurate, geradlinige deutsche Familie“

Die Selbstbeschreibung „Korrekte, akkurate, geradlinige deutsche Familie“ (Zitat Rico) führt die Radikalisierung in den Rechtsextremismus auf eine familiäre Tradition zurück, in der vermeintlich deutsche Werte wie Stärke, Respekt und Ordnung groß geschrieben werden. Die (Ur‑)Großelterngeneration lebt die Verherrlichung des Nationalsozialismus vor (vgl. Pfeiffer 2016 zur Bedeutung der Familie) und gibt diese Einstellung an die folgenden Generationen weiter. Qua Geburt fühlt man sich einer Elite zugehörig und wertet als fremd oder anders gelesene Menschen ab. So werden auch (Gewalt‑)Straftaten gerechtfertigt, denn die als überlegen wahrgenommene Herkunft gibt das Recht, eigene Interessen mit Gewalt durchzusetzen (s. auch Colvin und Pisoiu 2020). Auch in der Literatur wird auf die „Faszination für den historischen Nationalsozialismus“ sowie ein „einschlägig in der Herkunftsfamilie propagiertes Werte- bzw. Weltbild“ als eine Einflussgröße für die Hinwendung zum Rechtsextremismus verwiesen (Überblick bei Gansewig und Walsh 2020). Selbst wenn Vertreter dieser Selbstbeschreibung im Verlauf des Erwachsenenlebens aus rechten Strukturen aussteigen, um ein straffreies Leben zu führen, distanzieren sie sich nicht von der Ideologie, denn die Werte des Nationalsozialismus und ihre angenommene Überlegenheit sind tief in ihrem Welt- und Selbstbild verwurzelt.

Exemplarisch für diesen Idealtypus biografischer Selbstbeschreibung stehen die Biografen Rico und Christoph, wie wir im Folgenden zeigen. Rico fasst die für ihn handlungsweisenden Werte mit „Einheit, Stärke, Entschlossenheit, Respekt voreinander, vor dem Land, vor der Mutter, vor der Oma, vor dem Opa“ zusammen. Im Gegensatz zum Idealtypus „In dem Metier geboren“ steht hier nicht das wahllose Hereingeborenwerden im Vordergrund, sondern der Stolz auf die familiäre Tradition, die auf dem Nationalsozialismus aufbaut (ähnlich bei Möller und Schumacher o.J.):

Ich war jeden Tag bei meinem Uropa. Da gab es immer eine Banane und ein Stück Schokolade. Und dann hat er Geschichten erzählt, dann hat er vom Krieg so erzählt. Ich habe die ganzen Geschichten gehört, so die Heldensagen und so. Für den war der Krieg nie was Böses. Der war an der Front gewesen, der hat unter Rommel gedient. Der war der stolzeste Mann der Welt. Und dann haben sie ihn in die SS-Uniform gesteckt, die schwarze, glänzende Uniform. Das ist halt für mich was, wenn du die Bilder gesehen hast. Boah, der hat seine Uniform noch gehabt. Die Uniform habe ich jetzt. Also das ist so ein Erbstück. Und wenn der mit seinen 90 Jahre damals die SS-Uniform noch angezogen hat, wenn du gesehen hast, wie dieser geknickte Mann auf einmal wieder kerzengerade geworden ist. Ja, was willst du da dagegen sagen? Das kann nicht falsch sein. Selbst im Altenheim hat der den Adolf noch über seinem Bett hängen gehabt. Da durfte auch niemand ran zum Putzen, nichts. Das war halt sein Leben, das war seine Welt. Und ich habe das halt von klein auf, ich habe das nie anders gelernt. (Rico)

Rico entwickelt daraus eine eigene rechte Ideologie, er idealisiert die (Ur‑)Großelterngeneration, die eine Vorbildfunktion einnimmt, und vertraut den Erzählungen des Urgroßvaters mehr als anderen Quellen. Der Stolz des Urgroßvaters überträgt sich auf ihn; die persönliche Familiengeschichte verklärt die Verbrechen, die Deutschland im Zweiten Weltkrieg begangen hat. Seine Schlussfolgerung, der Nationalsozialismus könne nicht falsch gewesen sein, wenn sein Urgroßvater begeisterter Nationalsozialist war, ist typisch für diese Selbstbeschreibung. Das ausgeprägte Elitedenken wird auf heute übertragen:

Und dort [in einer Erstunterkunft für Geflüchtete] habe ich gelernt dann zu unterscheiden zwischen denen, die wirklich Hilfe brauchen und dem ViehzeugFootnote 6, was hier nichts verloren hat. Ich denke auch genauso: Es gibt viele Deutsche, die haben hier nichts verloren. Das hier ist das Land der Dichter und Denker. Wir machen was für unser Land. Wir kämpfen für uns und nicht hier Hartz IV, und ich bin glücklich. Brauchen wir nicht. (Rico)

Rico formuliert gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer 2005) und legitimiert Gewalt gegen Gruppen, die sich nicht den für ihn wichtigen „deutschen Werten“ (Zitat Rico) entsprechend verhalten. Opfer können Menschen, unabhängig von Nationalität und Herkunft, werden. Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Handeln, das von delinquentem Verhalten geprägt ist und zu einer (langjährigen) Gefängnisstrafe führt, und den hochgehaltenen deutschen Werten, wird nicht zum Gegenstand der Selbstpräsentation.

Traditionelle Rollenbilder, in denen Männlichkeit für Stärke und Entschlossenheit steht (zu hegemonialer Männlichkeit im Rechtsextremismus: Virchow 2011), und ein ausgeprägtes Interesse an Militaria und Waffen sind ebenfalls Teil der Selbstpräsentation. Christoph übt Kampfsport aus und sammelt traditionell (Schuss‑)Waffen: „Mein Vater hat auch schon viele Waffen und so was immer an der Wand hängen gehabt. Patronengurte für Maschinengewehre und so was“. Er verpflichtet sich bei der Bundeswehr, wo er die Kontaktaufnahme zu Rechtsextremen als naheliegend beschreibt.

Rico lebt sein von Rassismus und Ungleichwertigkeit geprägtes Weltbild in Kameradschaften aus. Aus der Mitgliedschaft zieht er Identität und Bestätigung:

Und so bin ich dann in der ersten Kameradschaft hineingeraten. Bei uns damals waren es die Hammerskins gewesen. Dann mit 16 Erstkontakt zu Blood and Honour, dann [Name Kameradschaft], wo ich Mitbegründer war. Und so ging es dann halt langsam Karriere nach oben. (Rico)

Er begeht zahlreiche politisch motivierte Straftaten. Dabei beschreibt er sich als Hüter der deutschen Werte und übt Gewalt z. B. gegen Menschen aus, die Drogen konsumieren oder verkaufen. Folgendes Zitat zeigt, wie tief die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Heitmeyer 2005) auch im Weltbild von Rico verwurzelt ist. Er nutzt die Ideologie als Rechtfertigung für Gewalt sowie für andere Straftaten, die er begeht, um sich selbst zu bereichern:

„Stoffie, irgendne Sucht, Junkie, Menschen ohne Lebensberechtigung“ hieß es früher immer. „Wer sich selber vergiftet, hat keine Lebensberechtigung.“ Solchen Leuten halt dann ihren Stoff abgenommen, in den Gullydeckel geschmissen. Kohle abgenommen, Handys abgenommen. Den ganzen Stoff vernichtet, dass es nicht weiter die Stadt verseuchen kann und so was. (Rico)

Die Diskrepanz zwischen dem eigenen strafrechtlich relevanten Verhalten und der Verurteilung und Abwertung von als minderwertig wahrgenommenen Menschen ist kennzeichnend für diesen Idealtypus biografischer Selbstbeschreibung und verdeutlicht das ausgeprägte Elitedenken.

Die Identifikation mit einem Fußballverein spielt in dieser Selbstbeschreibung ebenfalls eine Rolle. Das Spiel selbst nimmt ein verbindendes Element in der Gemeinschaft ein: „[B]ei den Kameraden rumsitzen, Fußball und rechten Arm hoch und Nationalhymne laufen lassen und Fußball gucken“ (Christoph). Christoph nutzt Spiele seines Vereins aber auch als Gelegenheit, um Gewalt auszuüben:

Wochenende immer ins Stadion gefahren, sind wir immer zum Fußball gefahren, ne. Und auch die eine oder andere Hauerei dann schon gehabt. Ein bisschen in Hooligan-Szene mit abgerutscht. Ja, was heißt abgerutscht? Nie aktiv in Hooligan-Szene mitgewesen, aber man hat da doch schon auch seine Leute gehabt. Wo man sich dann halt auch im Stadion oder in der dritten Halbzeit dann nach dem Spiel dann halt auch getroffen hat und man hat sich dann halt da auch nochmal geboxt oder so was, ne. Um einfach Kräfte zu messen. (Christoph)

Auch in anderen Bereichen präsentiert diese Selbstbeschreibung einen Biografen, dem Maskulinität wichtig ist, der martialisch auftritt, mit Waffen und Macht ausgestattet und gewalttätig ist: „Raub, Erpressung, Geld eintreiben. Damit verdient man Geld. Und dann auf Auftrag. Der halt das Beste zahlt, den nimmste halt“ (Rico). Im weiteren Verlauf wandelt sich das Präsentationsinteresse dahingehend, dass von der devianten Laufbahn Abstand genommen und Rassismus und Elitedenken als normaler Teil deutscher Identität dargestellt wird. Diese wird auch – der Familientradition entsprechend – an die eigenen Kinder weitergegeben, die aber von einer kriminellen Karriere abgehalten werden sollen. Diese Selbstpräsentation bietet keinen Anlass, sich von der Ideologie zu distanzieren, denn der Stolz auf die eigenen Überzeugungen sitzt tief, und selbst in Haft wird sie ausgelebt:

Ich hab ne schwarz-weiß-rote Flagge bei mir am Fenster hängen, in meiner Zelle, ich habe Militärsachen bei mir in meiner Zelle. Ich habe Tagesdecke in schwarz-weiß-rot. Ich habe eine Reichskriegsflagge als Trennwand für die Toilette, eine große, fast zwei Meter Flagge in der Zelle hängen. (Christoph)

Eine Übertragbarkeit des Idealtypus „Korrekte, akkurate, geradlinige deutsche Familie“ auf den Phänomenbereich des Islamismus lässt sich mit unserem Material nicht begründen. Es ist aber möglich, dass sie in anderer Konstellation im Islamismus genutzt wird. Eine streng religiöse Familie könnte – wie auch eine sehr nationalistische Familie – sinnstiftend sein und dazu führen, dass Andersgläubige abgewertet und bei zunehmender Radikalisierung bekämpft werden sollen.

„Man fühlte sich als Benachteiligter“

Die Selbstbeschreibung „Man fühlte sich als Benachteiligter“ (Zitat Udo) gründet zum einen auf der Suche nach Anerkennung, Orientierung und Zusammenhalt, zum anderen beinhaltet sie aber ein ausgeprägtes Machtstreben und eine Orientierung an Autorität, wodurch sie sich deutlich von „So eine Suche nach Familie“ abgrenzt. Trotz einiger Schwierigkeiten bietet die Herkunftsfamilie in diesem Idealtypus Halt und Sicherheit und ist eher unpolitisch, zumindest aber nicht radikal. Eine aus der Herkunft begründete Radikalisierung wird dadurch negiert, wodurch sich diese Selbstbeschreibung auch von den anderen dreien unterscheidet. Die rassistische und von Ungleichwertigkeit geprägte Einstellung wird stattdessen mit persönlich wahrgenommener Marginalisierung begründet. Sie wird zudem als Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen und negativer Erfahrungen mit Menschen nichtdeutscher Herkunft sowohl privat als auch schulisch oder beruflich begründet. Dies führt zu einer Anfälligkeit für rechtspopulistische Einstellungen (vgl. Boehnke und Thran 2019) und einer weitergehenden Radikalisierung, auf die eine mit (Gewalt)straftaten verbundene Karriere in organisierten rechten Strukturen folgt.

Der Biograf René präsentiert sich schon früh im Leben als gestört von Menschen, die er als Migrant*innen oder Ausländer*innen liest, und so stellt er sich in seiner Radikalisierung zum Rechtsextremismus als Opfer gesellschaftlicher Umstände dar:

Waren halt viele Migranten, viele Ausländer auf der Schule, das ist einfach so. Und ich denke, da hat mein Denken dann auch angefangen, dass ich da schon angefangen habe auszugrenzen. Dass ich gesagt habe: „Mit den Leuten will ich nichts zu tun haben. Die reden irgendne Sprache, die ich nicht verstehe, darauf habe ich keinen Bock.“ (René)

Udo begründet seinen Zugang zur rechtsextremen Ideologie mit einem privaten Ereignis. Seine Ehefrau verlässt ihn wegen eines Mannes, den er als Nichtdeutschen liest:

Und man war ja eh schon vorbelastet von ausländischen Mitbürgern aufgrund der Nachricht von damals mit der Frau. „Ich bin mit Mohammed weg, komm nicht mehr wieder. Tschüss.“ (Udo)

Ereignisse wie dieses stellen subjektive Erfahrungen von Machtlosigkeit dar und widersprechen dem im Rechtsextremismus angestrebten Bild von Maskulinität (vgl. Virchow 2011). Sie können vorhandene Affinität zu rechten Deutungen manifestieren und zum Einstieg in die rechtsextreme Szene führen. Scheinbar allgemeingültige rechtspopulistische Deutungsmuster durchziehen diesen Idealtypus biografischer Selbstbeschreibung. Die Eigengruppe wird in Konkurrenz mit der Fremdgruppe gesetzt (vgl. Berger 2018, S. 56). Zuwanderung wird als Sicherheitsrisiko wahrgenommen, Arbeitsmarkt und Sozialstaat scheinen bedroht – v. a. aber die eigene Position. Der Biograf fühlt sich als gesellschaftlich marginalisiert und macht für diese Benachteiligung Menschen nichtdeutscher Herkunft verantwortlich:

Ja und da fühlte man sich da wieder so als Benachteiligter. Wo man sich gedacht hat, die bekommen vom Staat alles in den Arsch geblasen, und du bist derjenige, der für seine Scheiße hier jeden Tag buckeln muss und musst alles selber latzen. (Udo)

Mit der Migrationsbewegung u. a. aufgrund des syrischen Bürgerkriegs und der Entscheidung der Bundesregierung im September 2015, Geflüchtete aufzunehmen, verstärkt sich diese Wahrnehmung so, dass auch die Vertreter dieses Idealtypus biografischer Selbstbeschreibung, die zuvor nicht im Rechtsextremismus organisiert waren, aktiv werden:

Das war dann 2015. Erstmal ging das Gerücht rum, dass das Hotel eine Asylbewerberunterkunft wird. Hat man sich dann da halt hingestellt, dann zugeguckt, bzw. auch mal n bisschen rumgequatscht und n bisschen rumgeplärrt und sowas alles. Naja, und irgendwann mal is man ins Gespräch gekommen und hat man Nummern ausgetauscht, hat man sich dann getroffen. Naja, n Bier und dann nahm das, ich nenn’s mal Unglück, seinen Lauf. (Sandro)

Das Missfallen richtet sich konkret gegen staatliche Fürsorge gegenüber Geflüchteten und motiviert die Biografen, gegen die wahrgenommene Ungerechtigkeit aktiv zu werden. Das zeigt sich in einer Situation, als ein Hausmeister Udo eine Wohnung zeigt, die für Geflüchtete eingerichtet wurde. Udo wird daraufhin so wütend, dass er in einem Chat mit einer rechtsextremen Gruppe diesen Ort für einen Anschlag vorschlägt:

Sagt [der Hausmeister]: „Hier zieht jetzt eine syrische Familie ein mit fünf Mann. Guck dir das mal an, was die alles gekriegt haben.“ Alles nagelneue Möbel gewesen [Möbelmarke]. Die ganze Bude mit Laminat ausgelegt. Riesigen Flachbild an der Wand. Die Bude war komplett hergerichtet für die Leute. „Pff“, dachte so, „aha. So was bezahlt das Landratsamt?“ Und das hat mich dann so aufgeregt. Da bin ich da in den Chat: „Die erste Anlaufstelle, das wäre direkt hier das Asylheim in [Dorf AB]“. (Udo)

Fremdenfeindliche Einstellungen, wie im Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, auf kulturelle Unterschiede und auf Konkurrenz um als knapp eingestufte Ressourcen bezogen (vgl. Heitmeyer 2005, S. 6), verstärken sich stetig und gipfeln in rassistisch motivierten Gewaltstraftaten. Diese werden dann durch die Erfahrungen mit als fremd gelesenen Menschen begründet, wie von Stefan, der in seiner Funktion als Rettungssanitäter Menschen anderer Hautfarbe verprügelt:

Und das hat auch alles so geprägt gehabt, dass man sagt: „Alle gleich!“ Und leider ja, ich will nicht sagen, die sind alle gleich gewesen, aber viele Erfahrungen haben halt an aufeinander aufgebaut, und viele haben halt Ansprüche gestellt. Meistens farbige Leute haben Ansprüche gestellt. (Stefan)

Die Orientierung an Autorität und Macht, die in dieser Narration neben der Suche nach Anerkennung und Zusammenhalt handlungsweisend sind, zeigt sich im Folgenden im Werdegang von Stefan. Er engagiert sich in Kameradschaften und arbeitet sich dort schnell hoch. Neben gemeinsamen Grillfeiern mit Alkohol kommt es zu Gewaltausübung und einer zunehmenden Ideologisierung, die in aktive Parteiarbeit mündet. Die Teilnahme an rechten Veranstaltungen wird in der Rückschau romantisiert und die eigene Verantwortung heruntergespielt:

Da wurden halt solche Feste veranstaltet, Grillabende. Am Lagerfeuer saß man da und Partys, es wurde halt alles bezahlt. Ja, von diesen netten Herrschaften, und so ist man da halt Stück für Stück reingekommen. (Stefan)

Die teilweise detailliert beschriebenen rechtsmotivierten Gewalttaten zeigen hingegen ein sehr aktives Bild. René äußert sich gegenüber Menschen, die augenscheinlich einer Gruppe angehören, die er abwertet, wie folgt:

„Du hast mich doof angeguckt.“ Das war oft einfach ein ausschlaggebender Grund. In meinen Augen: „Du hast schwarze Haare, du hast mich Scheiße angeguckt. Komm, wir gehen vor die Tür, jetzt haben wir nen Problem.“ Ja, und wenn man dann noch drei, vier Kollegen hat, die ähnlich denken. Das vielleicht jetzt nicht auf dieses Ausländersein beziehen, aber einfach Spaß am Prügeln haben, ja, dann ist das halt schwierig. (René)

Stefan möchte seine Stärke sowie seine politischen Überzeugungen auch im Umgang mit Andersdenkenden unter Beweis stellen. Demonstration von Stärke und martialisches Auftreten werden genutzt, um politische Gegner:innen unter Druck zu setzen:

Ich habe Brötchen gekauft gehabt im Dorf. Und diese nette Verkäuferin sagt: Nee, sie verkauft keine Brötchen an Nazis. Ja. Dann habe ich gesagt: „Oh, du verkaufst keine Brötchen an Nazis? Kein Problem.“ Rausgegangen. Habe halt [Name Anführer] angerufen, habe gesagt: „Hier, so ein Theater, dies und das.“ – „Ja, kein Problem. Bald kannst du wieder Brötchen kaufen. Warte mal, wir kommen vorbei.“ Und dann waren wir halt zehn Leute im Laden und haben gefragt, ob sie mir jetzt Brötchen verkauft. „Selbstverständlich, selbstverständlich. Gehen aufs Haus. Gehen aufs Haus.“ Und seitdem konnte ich wieder Brötchen kaufen. (Stefan)

In dieser Narration kommen außerdem Neutralisationstechniken zum Einsatz, um einerseits die politisch motivierten (Gewalt-)straftaten (dazu Colvin und Pisoiu 2020), aber auch unpolitische Taten, wie Drogenhandel, Zuhälterei und Eigentumsdelikte, die ja eigentlich nicht zur rechten Ideologie passen, zu rechtfertigen. Um vor anderen, wie in der Interviewsituation, aber auch vor sich selbst glaubwürdig zu bleiben, werden die Opfer abgewertet „Unsere ausländischen Mitbürger. Alle kriminell“ (Udo). Das Unrecht der Straftaten wird relativiert, und die verurteilenden Instanzen werden verdammt, wie folgendes Zitat zeigt. Sandro hat sich an einem Chat beteiligt, in dem es nicht bei strafrechtlich relevanter Kommunikation geblieben ist, sondern aus dem heraus schwere Gewaltstraftaten entstanden sind. Trotzdem versucht er hier, die Taten zu bagatellisieren:

Manchmal also, sagen wir mal so, zu 80, 90 % haben wir nur sinnloses, blödes Zeug geschrieben im Chat. Und dann wie gesagt, die Bundesanwaltschaft hat sich ja dann nur die Punkte rausgepickt für die sie der Meinung sind, dass es ernst gemeint ist. Manche Sachen waren ernst gemeint, und es ist auch passiert. Manche waren aber nicht ernst gemeint, aber äh ist auch nichts passiert, aber für die war’s ernst gemeint, ne? (Sandro)

Noch eindrücklicher versucht das folgende Zitat von der eigentlichen Straftat, der sexuellen Ausbeutung zum Ziel der Zwangsprostitution, abzulenken:

Bis sie dann halt nicht mehr wollte, und man halt Gewalt ausgeübt hat, und sich dann halt an die Polizei gewandt hat, die Polizei ihr so eine nette Visitenkarte von diesem Weißen Ring [Opferschutzorganisation, Anm. Autor*nnen] oder so gegeben hat. Und ach, dieser Weiße Ring hat mich zerstört. Mit Schadensersatzforderungen und haben Sie nicht gesehen. Ja, das ist Teufelswerk, dieser Weiße Ring. Wie gesagt, da ist man halt auch so reingerutscht. (Stefan)

Stefan stellt sich als Opfer dar, wertet Opferschutzorganisationen ab und negiert zudem seine Verantwortung. In dieser Narration sieht der Biograf sich aktuell nicht mehr als radikal an, die (Gewalt‑)Straftaten, die meist im Kontext von Kameradschaften ausgeübt wurden, gehören der Vergangenheit an, und die rassistische Ideologie versteckt sich heute hinter rechtspopulistischen Äußerungen über die deutsche Asylpolitik oder als nichtdeutsch Gelesene, die den Sozialstaat ausnutzen. Der Wunsch, auch in Zukunft Macht auszuüben und die politischen Ziele durchsetzen zu können, bleibt bestehen und soll beispielsweise durch die Studienfachwahl oder das Einschlagen einer politischen Karriere umgesetzt werden. René engagiert sich nun parteipolitisch und bringt die Themen seiner Partei wie folgt auf einen Nenner:

Also hauptsächlich geht es natürlich um Migration, ne. Das ist, glaube ich, auch im Parteiprogramm, nimmt den größten Platz ein, Asylpolitik, ne. Gerade seit 2015, wo das alles so, in Anführungszeichen, in meinen Augen eskaliert ist, ist das natürlich ausschlaggebend. Die nutzen den Sozialstaat aus. Baustelle, man versteht sich gegenseitig nicht. Das ist einfach ein schwieriges Miteinander. (René)

Wie auch im Idealtypus „Korrekte, akkurate, gradlinige deutsche Familie“ gibt es in dieser Selbstbeschreibung keinen Anlass, sich komplett von der Ideologie zu distanzieren; sie wird in rechtspopulistische Narrative übertragen. Durch die Entstehung einer sozialen Bewegung von rechts (Pegida, Identitäre Bewegung etc.) und die Erstarkung rechter Parteien wie der AfD sind mediale und politische Debatten über Zuwanderung und Asyl immer stärker von stereotypen Zuschreibungen und einer wachsenden Aggressivität geprägt, in denen die Biografen sich mit ihren Einstellungen gut vertreten fühlen (vgl. Laube et al. 2019). Bei erneuten tatsächlichen oder gefühlten gesellschaftlichen und privaten Zurückweisungen ist nicht auszuschließen, dass die Biografen wieder auf Gewalt und Kriminalität als Handlungsoption zurückgreifen, um ihre Ziele durchzusetzen oder Handlungsmacht zurückzugewinnen.

Den Idealtypus biografischer Selbstbeschreibung „Man fühlte sich als Benachteiligter“ wendet auch Jamal auf seine (gefühlte) Chancenlosigkeit durch erlebte strukturelle Diskriminierungserfahrungen an. Damit zeigt sich eine Übertragbarkeit auf den Phänomenbereich des Islamismus. In den Nachrichten hört Jamal von der Benachteiligung von Personen, mit denen er eine Gruppenidentität etabliert hat. Diese Unrechtserfahrung führt ihn dazu, Muslim*innen helfen zu wollen, und ist somit der Erklärung der Rechtsextremen sehr nah: „Die wollen wieder Unrecht verbreiten so und von religiösen Argumentationen ist einfach gewesen, dass man helfen muss seinen Brüdern und Schwestern“. Diese Strategie entspricht dem motivationalen Framing (vgl. Snow und Byrd 2007). Auch Murat bezieht sich auf die weltweite Diskriminierung von Muslim*innen und will in Syrien einen Selbstmordanschlag verüben, um die Glaubensgemeinschaft zu unterstützen. Rückblickend sieht er allerdings, dass radikale Gruppierungen empfundene Benachteiligung ausnutzen, um für den Islamismus anzuwerben.

Wenn z. B. in der Moschee die sagen „ja, du bist doch Moslem und die bringen deine Brüder und deine Schwestern um und willst du nichts dagegen machen?“ (…) Und dann du denkst dir ja so, ich bin hier und die sterben dort und wir haben doch die gleiche Religion, ich muss denen helfen. (…) Die spielen mit der Ehre, mit deiner Loyalität. (Murat)

Diskussion

Wir konnten vier Idealtypen biografischer Selbstbeschreibungen des Radikalisierungsprozesses rekonstruieren, die auf vielfältige Weise an bisherige Forschung anknüpfen. Die Selbstbeschreibung „In dem Metier geboren“ bezieht sich auf eine rechtsextreme Familie, in der der Biograf von Kindesbeinen an nichts anderes kennengelernt hat und von der er sich erst im Erwachsenenalter lösen kann. Die Selbstbeschreibung „So eine Suche nach einer Familie“ schildert die Suche nach Gemeinschaft. Der Biograf findet im Rechtsextremismus sowohl Halt als auch eine Gelegenheit, die eigene Gewaltneigung auszuleben. Die Selbstbeschreibung „Korrekte, akkurate, geradlinige deutsche Familie“ kreist um eine Familientradition. Der Biograf erlebt die dort vorhandenen, rassistischen und überlegenheitsorientierten Werte, einschließlich der nationalsozialistischen Einstellung der (Ur‑)Großeltern, als uneingeschränkt positiv und übernimmt sie bereitwillig. Die Selbstbeschreibung „Man fühlte sich als Benachteiligter“ stellt negative Erfahrungen mit als nichtdeutsch gelesenen Menschen in den Mittelpunkt. Diese lösen Wut aus, und der Biograf fühlt sich zum Handeln gezwungen. Die Selbstbeschreibungen, die Rechtsextreme nutzen, um ihren Weg in die Radikalität zu beschreiben, sind auch im Islamismus zu finden. Hier wäre interessant zu überprüfen, ob in einer größeren Stichprobe noch weitere Idealtypen biografischer Selbstbeschreibungen eine Rolle spielen.

Die Grenzen unserer Studien liegen einerseits im rein männlichen Sample, andererseits in der Panelmortalität, denn möglicherweise konnten wir genau diejenigen nicht für ein zweites Gespräch gewinnen, die tiefer in den Rechtsextremismus gerutscht sind. Zudem sind die Aussagemöglichkeiten über den Islamismus wegen nur drei Befragten gering. Dennoch bringt die Studie wichtige Erkenntnisse. Die Analyse der Biografien zeigt, dass sich nicht nur nach Orientierung suchende junge Menschen, deren Leben von Diskontinuitäten geprägt ist, radikalisieren. Außerdem kommt in drei von vier Idealtypen biografischer Selbstbeschreibung der Herkunftsfamilie eine besondere Bedeutung zu. Entweder durch die innerfamiliäre rechte Ideologie, die Verherrlichung des Nationalsozialismus, die ausschließliche Verortung in einem rechten Milieu oder weil ihre Dysfunktionalität die Betroffenen zur Suche nach alternativen Bindungen veranlasst.

In allen Interviews zeigten sich die zentralen Bestandteile der rechtsextremen Ideologie, nämlich kulturalisierende Ungleichwertigkeitsannahmen, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, rassistische Einstellungen, antidemokratische Ordnungsvorstellungen und Gewaltorientierung. Für alle Biografen waren aufnehmende Strukturen zur Stelle, wenn es darum ging, ihren Einstellungen folgen zu wollen, bzw. diese Strukturen regten eine weitergehende Radikalisierung überhaupt erst an: Die gesellschaftliche Polarisierung hinterlässt in einzelnen Biografien Spuren. Die Migrationsbewegung im Jahr 2015 bot Individuen, die sich schon vorher benachteiligt fühlten, einen Anlass, ihren Unmut auf Demonstrationen zu bekunden. Geknüpfte Kontakte zu Gleichgesinnten und organisierten Protesten ließen sie zur Überzeugung kommen, sie seien zur Begehung rechtsextremer Straftaten berechtigt – wenn nicht gar verpflichtet. Analog dazu sehen sich die Menschen, die sich (zeitweise) dem Islamismus angeschlossen haben, einer wachsenden Islamfeindlichkeit durch die Mehrheitsgesellschaft und einer globalen Ungerechtigkeit ausgesetzt und leiten daraus wiederum ihre Pflicht zum Handeln ab.

Auch unterstreichen die Befunde die Bedeutung der deutschen NS-Vergangenheit. Sowohl in familiären Zusammenhängen als auch in der Gesamtgesellschaft wirkt der Nationalsozialismus weiter, obwohl der Zweite Weltkrieg vor über 70 Jahren endete. Die Biografen verklären diese Zeit und idealisieren am Krieg beteiligte (Ur‑)Großväter. Der Heldenmythos, der in vielen Familien noch zu herrschen scheint, ist auch nach vielen Jahrzehnten noch nicht aufgearbeitet.