FormalPara Kommentar zu

Schalast N (2021) Zur Debatte um die Reform der gesetzlichen Voraussetzungen einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt. Forens Psychiatr Psychol Kriminol. https://doi.org/10.1007/s11757-021-00652-1

Seit inzwischen beinahe einem Jahrhundert polarisiert das deutsche Maßregelrecht. Gegenwärtig steht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf der Grundlage des § 64 StGB vor einer erneuten Reform. Diese Form der Unterbringung kennen andere Länder nicht. Dass Schalast (Schalast 2021) den vor 2 Jahren erschienenen Beitrag des Referenten aufgreift, um ein positives Bild der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu zeichnen, ist angesichts der aktuellen Diskussion ebenso gut verständlich wie nachvollziehbar. Schließlich betrifft diese Unterbringungsform mehrere Tausend Patienten und einen Etat von mehreren 100 Mio. € jährlich. Wie diese Maßregel mit den nicht unbeträchtlichen personellen und finanziellen Ressourcen und den Zielen der Behandlung und der Kriminalprävention gestaltet werden soll, wird aber kontrovers diskutiert. Die hierauf Bezug nehmende wissenschaftliche Diskussion hat mit dem Beitrag des Referenten aus dem Jahr 2019 keineswegs aufgehört, im Gegenteil, sie hat deutlich Fahrt aufgenommen. Dies schlägt sich in zahlreichen Diskussionsforen, zahlreichen Ausarbeitungen und dem aktuellen Positionspapier der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) nieder, die leider nicht in die Analyse von Schalast eingegangen sind, durchaus aber lesenswert wären, da sie weitreichende Neuerungen diskutieren (hierzu DGPPN Positionspaper Müller et al. 2021; Koller und Müller 2021; sowie den Sammelband: Müller und Koller 2020, Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB).

Angesichts der aktuellen Diskussion um die Reform der Unterbringung in der Entziehungsanstalt soll zeitnah auf Schalasts kritischen Beitrag eingegangen werden. Dabei sollen nur einzelne der von Schalast kritisch aufgegriffenen Punkte im Licht der aktuellen Diskussion detaillierter beleuchtet werden, im Einzelnen der Anstieg der Zahl der Untergebrachten, die Studie um den Behandlungserfolg, die Diskussion um die Aufgabe dieser Maßregel sowie den Hangbegriff:

  1. 1.

    Anstieg der in der Entziehungsanstalt untergebrachten Patienten: Der Referent hat in der Publikation 2019 die Zahlen von etwa 1000 im Jahr 1990 auf etwa 4000 Patienten im Jahr 2014 gerundet und einen Anstieg auf etwa das Vierfache ausgeführt. Die illustrierende Grafik wurde dem Referenten damals dankenswerterweise von Schalast überlassen. Schalast hat nun die genauen Zahlen, nämlich 1160 (1990) und 3819 (2014) nachgerechnet und kommt nun unter Heranziehung der exakten Zahlen lediglich auf einen Anstieg um den Faktor 3,3. Hierfür ist ihm zu danken. Hätte der Referent 2019 also einen Anstieg auf etwa das 3‑ bis 4‑Fache festgestellt, wäre dieser Kritikpunkt entkräftet.

  2. 2.

    Allerdings ist die weitere Argumentation von Schalast nicht zutreffend, nämlich dass ein Teil dieses Anstiegs, von ihm mit über 200 Fällen ausgewiesen, auf die Einbeziehung der neuen Bundesländer zurückzuführen sei. In der Strafvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamtes 2013/2014, erschienen am 26.06.2015 (Destatis 2015), wird ausgeführt: „Gebietsstand: Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Ergebnisse auf das frühere Bundesgebiet einschließlich Westberlin, seit 1995 einschließlich Gesamtberlin. Flächendeckende Angaben zu den neuen Ländern liegen nicht vor.“ Insofern beziehen sich die Zahlen weiterhin auf das alte Bundesgebiet, einschließlich Berlin, und sind somit sehr wohl vergleichbar. Dass die Daten der von Schalast selbst überlassenen Grafik sich auf die alten Bundesländer seit 1995, einschließlich Gesamtberlin, beziehen, geht auch aus der Überschrift hervor. In der unter stehenden Tabelle werden die einzelnen Zahlen der einbezogenen Bundesländer aufgeführt und auf 3822 aufsummiert (Tab. 1). Lediglich nachrichtlich wird in der Strafvollzugsstatistik das Land Mecklenburg-Vorpommern mit 80 Untergebrachten aufgeführt, allerdings nicht in die Summe von 3822 eingerechnet. Weitere neue Länder sind gar nicht aufgeführt. Dagegen wurde das Bundesland Rheinland-Pfalz mit den älteren Zahlen aus dem Jahr 2010 statt dem Jahr 2014 eingerechnet. Insofern wurde hier der Anstieg in diesen Jahren sogar noch verpasst. Im Gegensatz zur Strafvollzugsstatistik sind in der von Müller (2019) gar nicht zitierten Strafverfolgungsstatistik die neuen Länder seit 2007 enthalten. Möglicherweise wurde dies von Schalast verwechselt.

    Tab. 1 Destatis 2013/2014, erschienen am 26.06.2015 (Destatis 2015). Gebietsstand: Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Ergebnisse auf das frühere Bundesgebiet einschließlich Westberlin, seit 1995 einschließlich Gesamtberlin. Flächendeckende Angaben zu den neuen Ländern liegen nicht vor

    Wenngleich also die Argumentation von Schalast nicht stimmig ist, so verdeutlicht diese Diskussion doch die Notwendigkeit, belastbare Zahlen über die Unterbringung in den Maßregelvollzugseinrichtungen bundesweit zu erheben.

    Diesem Problem wird auch der Kerndatensatz Maßregelvollzug nicht gerecht, da hier die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg nicht teilnehmen. Die Kerndatensatz-Zahlen werden von den Einrichtungen übermittelt und geben deren diagnostische Einschätzungen wieder. Untersuchungen mit unabhängigen externen Beurteilern und extern validierte Erhebungen hierzu fehlen. Querschnittsuntersuchungen durch externe Beurteiler, die die Diagnosen aus den Kliniken objektivieren, liegen nicht vor. Dies ist ein Manko der Zahlen aus dem Kerndatensatz, insbesondere da es bei Konsumenten illegaler Drogen und Probanden mit Persönlichkeitsstörungen deutliche Überlappungsbereiche gibt, die individuell differenziert betrachtet werden müssen.

  3. 3.

    Kernpunkt von Schalasts Argumentation sind allerdings die Ergebnisse der vom Gesundheitsministerium NRW finanzierten Evaluation der Unterbringung im Maßregelvollzug, die von Schalast selbst durchgeführt wurde. Schalast zitiert kurz die Methodik seiner Untersuchung, in der er „Zwillinge“ aus der Entziehungsanstalt und dem Strafvollzug bildet und die Rückfälligkeit dieser Gruppen untersucht. Schalast weist darauf hin, dass der spätere Bewährungsverlauf der Patientenstichprobe signifikant günstiger gewesen sei als der der Gefangenen. Mit dieser Studie wird das Funktionieren dieser Maßregel begründet. Diese Studie wurde von Steinert et al. methodisch scharf kritisiert, da bereits die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht voraussetze und insofern bereits eine Selektion beinhalte. Diese Selektion spiegle den Eindruck der Kammern der Gerichte wider. Die Studie könne nicht als eine evidenzbasierte Studie die Leistungskraft der Unterbringung in der Entziehungsanstalt belegen. An dieser Stelle reden Schalast und Steinert aber offensichtlich aneinander vorbei: Schalast argumentiert, dass die 64er-Gruppe besser abschneidet als die Haftgruppe und wirbt dafür, dass die aufwendige und teurere Unterbringung also nicht schadet, sondern dem Strafvollzug überlegen ist. Diese Erkenntnis und diese Zahlen hätte man indes getrost aus der Rückfallstatistik von Jehle et al. ziehen können. Auch da waren die aus der Entziehungsanstalt entlassenen Patienten mit Begleitstrafe nach 3 Jahren zu 45 % rückfällig, die Haftentlassenen zu 55 %. Hierfür hätte es die Studie nicht gebraucht. Konsequenterweise muss man ergänzen, dass die Daten sich in der Rückfallstatistik nach 6 und 9 Jahren angleichen und dann in beiden Armen beinahe 70 % erreichen (Jehle et al. 2019, S. 219). Steinert et al. mahnen aber zu Recht an, dass die Studie von Schalast grundsätzlichen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügt. Tatsächlich werden hier Extreme verglichen und genau die Eier gefunden, die man zuvor selbst versteckt hat: Wenn Patienten aus der Entziehungsanstalt mit Haftinsassen verglichen werden, so werden die voraussichtlich Erfolgreichen mit den voraussichtlich Scheiternden verglichen. Dabei werden die voraussichtlich Erfolgreichen zusätzlich intensiv und aufwendig weiter gefördert, strukturiert gelockert und erprobt, was der anderen Gruppe in diesem Ausmaß nicht zuteil wird. Dass die voraussichtlich Erfolgreichen mit den voraussichtlich Scheiternden verglichen wurden, ist nicht die einzige Schwierigkeit der Studie. Man hätte Zahl und Intensität der Kontakte mit Therapeuten oder Bezugspersonen und die Atmosphäre der Einrichtung kontrollieren sollen. Auch die unterschiedliche Intensität der Nachbetreuung zwischen Haftentlassenen und Patienten einer forensischen Institutsambulanz wird den gewünschten Effekt verstärken. Ein weiterer Selektionsbias entsteht dadurch, dass nicht anonymisiert bzw. randomisiert behandelt wurde. Die Behandler wussten, dass die Probanden Studienteilnehmer waren. Methodisch wünschenswert wären ein „informed consent“ der Teilnehmer, das Randomisieren der Zuweisungsbedingungen, das Parallelisieren der Unterbringungsbedingungen, einschließlich der Kontaktaufnahmen, auch während der Phase der bedingten Entlassung. Diese erheblichen methodischen Bedenken lassen an der Validität der Ergebnisse zweifeln. In der Stratifizierung von Schalast bleibt nämlich sogar offen, weshalb einer der „Zwillinge“ in Haft, der andere in die Entziehungsanstalt kam. Auch dass Schalast zwar 16 Maßregelkliniken aus mehreren Bundesländern untersucht, um die Ländereffekte auszugleichen, die Untersuchung der Strafgefangenen jedoch nur in dem damals von Schalast als besonders belastet geschilderten Bundesland durchgeführt wurde, irritiert. In der Zusammenschau kann Schalast zwar zeigen, dass die Unterbringung der voraussichtlich Erfolgreichen zum mehr als doppelten Tagessatz weniger Verurteilungen nach sich zieht als die Inhaftierung voraussichtlich Scheiternder, denen auch ein suffizientes Behandlungsprogramm vorenthalten wird. Hiermit mag man sich begnügen. Sinnvoller erscheint aber doch auch, das Behandlungsangebot der JVA erheblich zu verbessern.

  4. 4.

    Ist der § 64 StGB verzichtbar? Schalast stellt fest, dass ein solcher Gedanke keiner weiteren Erörterung bedürfe, einerseits, weil der Gesetzgeber diesen Gedanken ohnehin nicht aufgreifen werde, andererseits, weil es nicht im allgemeinen Interesse liege, eine gut funktionierende Behandlungsstruktur abzuschaffen. Dass für Schalast der Gedanke, die Behandlung auf Grundlage § 64 StGB abzuschaffen, keiner weiteren Erörterung bedürfe, verstört nachhaltig, und zwar aus verschiedenen Gründen: Zum einen hatte Schalast wenige Absätze zuvor in seiner Auseinandersetzung mit Trenckmanns Zahlen die Abschaffung als deren Konsequenz geradezu für erforderlich gehalten und diese Konsequenz nur durch seine eigenen Zahlen entkräftet. Diese Position verstört weiter, da sich in den letzten Jahren vermehrt Fachpublikum mit gerade dieser Frage auseinandergesetzt hat (Schepker 2019), auch sehr kritisch, und renommierte Wissenschaftler für die Abschaffung des § 63 StGB sogar offensiv eintraten (Steinert 2017; Steinert et al. 2020). Diese Position verstört darüber hinaus, weil es diese Maßregel in anderen Ländern gar nicht gibt. Letztlich verstört diese Position auch, weil sie ein in der Fachwelt deutlich wahrgenommenes Legitimationsdefizit einer zwangsweise auferlegten Unterbringung zur Behandlung negiert. Eine gesetzlich auferlegte Behandlung auch gegen den Willen des Betroffenen beschwert diesen, und diese Beschwer bedarf bei überwiegend autonomen Patienten einer besonderen Legitimierung.

  5. 5.

    Wenn Schalast weiter am Hangbegriff festhalten will und postuliert, dass es keine psychiatrische Diagnose brauche, so ist ihm entgegenzuhalten, dass rechtliche und medizinische Krankheitsbegriffe durchaus unterschiedlichen Zwecken dienen und unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Im Gesetz finden sich immer rechtliche Eingangsmerkmale, wie auch im Paragrafen 20 StGB. Dort werden mit den Eingangsmerkmalen schwere andere seelische Störung und krankhafte seelische Störung die weiter gefassten psychiatrischen Störungsbilder jedoch konkretisiert und eingegrenzt. Jeder der aufgrund eines dieser Eingangsmerkmale Untergebrachten erfüllt auch die diagnostischen Kriterien einer psychischen Störung. Im Gegensatz hierzu ist der Hangbegriff gemäß § 64 StGB inzwischen deutlich weiter gefasst als der Begriff der psychischen Störung der operationalisierten Diagnosesysteme. Wenn aber der Hangbegriff weiter gefasst ist als der entsprechende Störungsbegriff, so werden Betroffene Behandlungseinrichtungen zugewiesen, die deren diagnostischen Kriterien nicht erfüllen, und für die es keine fundierte und evaluierte Behandlung gibt. Es würde damit also ein mehr oder weniger großer Prozentsatz von Betroffenen zugewiesen, bei dem weder die Kriterien einer fachgerechten Diagnostik erfüllt sind noch fundierte Behandlungsangebote vorliegen können, da diese Entität nicht mit psychiatrischen Konzepten eingrenzbar ist.