1 Einleitung

Das gleichzeitige Auftreten beider Störungen, einer Suchterkrankung und einer posttraumatischen Störung, ist zwar ein sehr oft zu beobachtendes Phänomen, die Behandlung der Betroffenen gestaltet sich aber als äußerst komplexe Angelegenheit. In Psychodramatherapie Ausgebildete hatten meist schon im Curriculum Gelegenheit, die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen kennen zu lernen, und die aktuelle psychodramaspezifische Theoriebildung zeigt mannigfaltige und gut evaluierte Ansätze, die zumeist auch sehr praxisorientiert vermittelt werden. Auch die Behandlung der Suchterkrankung ist Thema in der Ausbildung, etwas zu kurz kommt eventuell die Behandlung einer Kombination beider Störungen. Damit konfrontierte Professionistinnen und Professionisten müssen aktuell psychodramafremde Literatur konsultieren oder sehr aufwändig recherchieren, um zu Lösungsansätzen zu kommen.

Kommt ein Patient oder eine Patientin, bei dem/der beide Störungsbilder vorliegen, in die Suchttherapie, besteht die Gefahr der Anwendung antiquierter und wenig patientInnenfreundlicher Konzepte. Eventuell gibt es sofort einen „Entzugsplan“ und für eine kurze Zeitdauer scheint die Behandlung zu gelingen. Jedoch kommt es in der Folge zu unüberwindbaren Problemen, obwohl der Entzug doch schon gut fortgeschritten schien. Es treten Symptome wie unerträgliche somatische Zustände, Flashbacks, Intrusionen oder Übererregung auf, die eine hohe Dramatik für die Betroffenen erreichen. Der Suchtdruck steigt ins Unermessliche, es kommt zu Rückfällen und Abbrüchen, nicht selten zur persönlichen Verzweiflung der Betroffenen im Sinn von „mir kann sowieso niemand helfen“ und zum Ausstieg aus jeglichem Therapieangebot.

Also sollte beim Vorliegen beider Störungen zuerst die posttraumatische Störung behandelt werden? Keinesfalls, folgt man gängigen Meinungen; leider zeigt sich das auch in der konkreten Praxis der Psychodramapsychotherapie: „Natürlich behandle ich gerne auch suchtkranke Traumatisierte. Allerdings nur, wenn die Abstinenztherapie erfolgreich abschlossen ist“ ist ein häufig geäußerter Standpunkt vieler KollegInnen.

Im schlimmsten Fall wird die Patientin bzw. der Patient über eine längere Zeitspanne zwischen Suchttherapie und Therapie der Traumafolgestörung hin- und hergeschoben, schließlich aus beiden heraus fallen, sich Hilfsangeboten für alle Zukunft verschließen und Trost in ihrem bzw. seinem Suchtmittel finden. Der vorliegende Beitrag soll Ansätze zur Auflösung dieses Dilemmas bieten und plädiert für eine integrative psychodramatherapeutische Behandlung beider Störungsbilder.

2 Die Relevanz von Traumatisierung und Suchterkrankung

Betrachtet man die Entwicklung der Suchttherapie über ihren Entwicklungszeitraum von knapp 50 Jahren, fällt auf, dass deren Zielgruppe aufgrund von moralischen Verurteilungen, aber auch aufgrund ihrer De-facto-Kriminalisierung nach wie vor zu den am meisten diskriminierten psychisch kranken Menschen gehört. Wenig verwunderlich, dass die Anfänge der Suchtbehandlung in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts geprägt waren von Experimenten, deren „Behandlungs-Protagonisten“ (die männliche Form ist hier bewusst gewählt) nicht selten charismatisch-autoritäre Züge aufwiesen (Eisenbach-Stangl 2008, S. 165). In amerikanischen Gefängnissen entstanden aus Selbsthilfegruppen besonders aggressive und von Abspaltungsmechanismen (im Sinn einer Dämonisierung süchtiger Rollen) geprägte hierarchisierende Behandlungsstile, die Einfluss nahmen auf die damaligen Behandlungssituationen auch in Freiheit (Fellöcker und Franke 2019, S. 22). Erst in den späten 1980er und dann in den 1990er-Jahren wurde klar, dass stressinduzierende und begegnungsfeindliche Methoden mitsamt der ideologischen Fixierung auf die Abstinenz kontraproduktiv waren. Die Veränderung kam dann von den Patientinnen und Patienten selbst, durch anhaltenden „Widerstand“ in Form von Therapieabbrüchen, aber auch durch ProtagonistInnen der niederschwelligen Sozialen Arbeit, die sich zunehmend professionalisierten und gemeinsam mit SuchtmedizinerInnen, ForscherInnen und PsychotherapeutInnen einen Großteil ihrer sozialpolitischen und schadensminimierenden Forderungen wie „Therapie statt Strafe“, Drogenersatzprogramme, Streetwork, Notschlafstellen, Spritzentauschprogramme etc. durchsetzten. Die paradigmatische Verschiebung fand somit von einer repressiv-disziplinierenden hin zu einer humanistisch-akzeptierenden Haltung statt, die den Menschen in den Blickpunkt rückte und nicht in erster Linie das Problem (vgl. Stöver 2000).

In den Zeitraum dieses Paradigmenwechsels fallen auch viele Studien zur Bedeutung von Traumatisierungen für die Entwicklung und den Verlauf von Suchterkankungen. Nach Schäfer (2006, S. 12) spielen „interpersonale Traumatisierungen“ („Men Made Desaster“, Typ-II-Traumata) in Kindheit und Jugend eine zentrale Rolle für die Entwicklung psychischer Störungen. Gemeint sind dabei Vorfälle, die nicht nur einmalig, sondern durchaus wiederholt auftreten und nicht nur körperliche Gewaltakte jeder Art darstellen, sondern auch emotionale Gewalt, mangelhafte Versorgung und unzureichende Beziehungsangebote sein können. An dieser Stelle soll nur ein kurzer Überblick zu Forschungsergebnissen zu Trauma und Sucht gegeben werden, um sich dann dem Bereich der Behandlung zuzuwenden (Tab. 1).

Tab. 1 Sexueller Missbrauch/körperliche Misshandlung und substanzbezogene Störungen: Studien in der Allgemeinbevölkerung (nach Schäfer 2006, S. 18)

Schäfer (2006, S. 23) erwähnt auch Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum, die Traumatisierungen bei Drogenabhängigen behandeln. Es zeigen sich Traumatisierungen durch sexuellen Missbrauch bei drogenabhängigen Frauen zwischen 50 und 60 %, bei Männern zwischen 25 und 40 %. Opiatabhängige haben signifikant schwerere, häufigere und frühere Missbrauchserlebnisse. Bei weit gefasstem sexuellen Missbrauch 41 %, körperlicher Misshandlung 72 % und emotionaler Misshandlung 80 %. Bei PatientInnen mit sexuellem Missbrauch kommt es häufiger zu gewollten Überdosierungen.

Insgesamt zeigt sich, dass das Thema schon Ende des vergangenen Jahrhunderts gut beforscht wurde und Anfang dieses Jahrhunderts Therapiekonzepte entwickelt wurden, die vor allem in der stationären Therapie Anwendung finden. Für den Bereich der Psychotherapie in freier Praxis scheinen diese Erkenntnisse wieder in Vergessenheit zu geraten und manche Publikationen lassen sogar einen Rückfall in schon überwunden gedachte Behandlungsansätze (z. B. „Königsweg der Abstinenz“) befürchten. Mögliche Gründe dafür nennt Najavits (2019, S. 21), wenn sie von der Komplexität der Behandlung von Menschen mit dieser Doppeldiagnose schreibt, die wohl jede Praktikerin und jeder Praktiker nachvollziehen kann. Da wären zuerst einmal die diagnostischen Schwierigkeiten: die Diagnosen Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Suchtmittelmissbrauch werden häufig gar nicht erkannt. TraumatherapeutInnen erkennen eventuell den Suchtmittelmissbrauch nicht oder, wenn sie ihn erkennen, lehnen die Behandlung mit dem Hinweis ab, zuvor müsste die Suchterkrankung behandelt werden. SuchttherapeutInnen erkennen vielleicht die PTBS nicht und werden mit häufigen Abbrüchen konfrontiert. Die Behandlung der Zielgruppe ist auch deshalb schwierig, weil von einer unsicheren Therapiebeziehung und wiederholten Krisen und Rückfällen in die Sucht ausgegangen werden muss. Die Doppelerkrankung bedeutet oft auch schwere Konsequenzen für die Lebensführung der PatientInnen (Sommerfeld 2019, S. 8; Fellöcker und Franke 2019, S. 24) und in der Folge umfassende Case-Management-Bedürfnisse, welche die Kompetenzen der TherapeutInnen übersteigen und schlimmstenfalls zu einem Burn-out-Syndrom führen können. Therapeutinnen und Therapeuten benötigen eine solide Expertise in beiden Bereichen, Suchttherapie und PTBS-Therapie, was eher selten der Fall ist.

3 Aspekte einer Psychodramapsychotherapie bei Traumafolgestörung und Suchterkrankung

Eine anschauliche Metapher für die Traumatisierungs-Dramaturgie ist der griechische Mythos der Medusa. Anders als z. B. bei Kastner (2011, S. 4), deren interessanter frauenspezifischer Zugang hier nicht weiter verfolgt wird, soll die Gestalt des Perseus näher in den Blick genommen werden.

Die schöne Gorgo Medusa wurde von Pallas Athene in ein hässliches Monster verwandelt, das beim Anblick Erstarrung und Versteinerung auslöst. Viele Helden näherten sich Medusa, aber keiner überlebte den Versuch, alle versteinerten. Die schreckliche Bestrafung durch die eifersüchtige Pallas Athene kann leicht als Traumatisierung gedeutet werden und mit deren Eintritt ist alles anders, der Anblick lässt versteinern, ist tödlich. Nimmt man das Trauma, die hässliche Medusa, im eigenen Inneren wahr, besteht die Gefahr der Vernichtung der Identität.

Der Held Perseus, Sohn von Zeus und Prinzessin Danae, wird von Polydektes, aufgefordert, ihm das Haupt der Medusa zu bringen, mit dem Hintergedanken, dass Perseus nicht überleben wird und dann der Weg für Polydektes zu Danae frei wird. Doch Perseus bekommt Hilfe, einerseits von Athene selbst, die ihm einen verspiegelten Schild leiht, andererseits von den Nymphen, die ihm eine Tarnkappe geben und Hermes, der mit Flügelschuhen und einem Sichelschwert aushilft. Ein Sack zur Aufbewahrung des schrecklichen Kopfes ergänzt die Ausrüstung. So ausgerüstet gelingt Perseus schließlich die Reise ans Ende der Welt (mithilfe der Flügelschuhe), die Annäherung an Medusa (mithilfe der Tarnkappe) und die Enthauptung mit dem Sichelschwert unter Einsatz des Spiegelschildes, um Medusa nicht direkt ansehen zu müssen.

Kurz gesagt: Perseus benötigt eine Menge Ausrüstung, Vorbereitung, Ressourcen, Mut, aber auch Sicherheit und Stabilität um angesichts des Schreckens nicht zu versteinern. Auch in der Therapie der Traumafolgestörung geht es vorrangig um Stabilisierung und Vermittlung von Ressourcen, selbst wenn die Konfrontation mit dem Trauma in vielen Fällen dann mitunter auch unterbleiben kann (siehe den Beitrag von Hildegard Pruckner im vorliegenden Sonderheft).

Nun konstruieren sich Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gerne als AusrüsterInnen für solche Abenteuer. Auch wenn sie darauf achten müssen, nicht selbst angesichts des Schreckens, den PatientInnen erlebt haben, zu versteinern, gelingt das in vielen Fällen sehr gut. Äußerst effektiv ist dabei die psychodramatherapeutische Technik, eher problematisch gestaltet sich oft die zeitliche Komponente. Anders als im Medusa-Mythos ist der Patient bzw. die Patientin schon oft am inneren Monster gescheitert, vielleicht in mancher Hinsicht auch versteinert. Wie weiter oben gezeigt, haben viele Traumatisierte schon Tarnkappen vor der Therapie erworben. Alkohol eignet sich z. B. hervorragend als Tarnkappe und kann auch als Flügelschuhe (Selbstwertsteigerung) herhalten. Opiate dienen sogar als verspiegelter Schild (unter Opiateinwirkung kann der Blick auf das Trauma gewagt werden) und selbstverständlich auch als Sack, in dem man praktisch alles verstecken kann. Letztlich zwar leider nicht zielführend, ermöglicht der Suchtmittelkonsum damit durchaus einiges: er macht den Schrecken erträglich und schützt vor Versteinerung oder sogar Schlimmerem. Der Patient, die Patientin hat nun mit dem Suchtmittel endlich eine wirksame Strategie gefunden, mit dem inneren Schrecken zu leben. Die Rolle des Suchtmittelkonsumierenden mag ambivalent sein, sie ist aber eine Rolle, die ein hohes Maß an Sicherheit bietet, besonders wenn man sie vergleicht mit noch destruktiveren Rollen, z. B. der Rolle des sich selbst Ermordenden. Nun hat dieses an sich vorteilhafte Verhalten aber eventuell einen hohen Preis: die Suchtmittelabhängigkeit. An anderer Stelle (Schäfer 2006, S. 29) wird diese Form des Substanzkonsums als „Selbstmedikation“ bezeichnet, wobei andererseits der Substanzkonsum eine spätere Traumatisierung wahrscheinlicher macht und die Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS erhöht.

Nach Krüger (2015, S. 465) traumatisieren die beim Suchtkranken auftretenden Scham- und Schuldgefühle über den Kontrollverlust zusätzlich und dadurch kommt es zu einer Zerstörung von Erklärungsmustern, Zielen, Werten und Normen des gesunden Erwachsenendenkens. Vorgeschlagen wird daher eine Aufstellung von zwei Stühlen, einen für das gesunde Ich, ein anderer für das süchtige Ich, um die „unbewusste“ Ich-Spaltung zu konkretisieren. „Alkoholabhängige werden meist erst dann abstinent, wenn ihre Würde als Mensch verloren gegangen ist oder wenn Sie Angst haben, real zu sterben“ (Krüger 2010, S. 469). Diese Sichtweise schließt an ein durch die AA (Anonymen Alkoholiker) geprägtes subjektives Krankheitsverständnis aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts an, das für manche Suchterkrankungen tatsächlich sehr erfolgreich war und ist, allerdings schon seit vielen Jahrzehnten als zu einseitig kritisiert wird (z. B. Stöver 2000).

Andererseits weist Hintermeier (2012, S. 115) im Resümee ihrer Arbeit über Borderline und Abhängigkeit darauf hin, dass sich Substanzmissbrauch bei Borderline-Persönlichkeiten äußerst komplex mit der typischen Borderline-Störungsdynamik verwoben konstruiert: „Erst nach einer (manchmal jahrelangen) Stabilisierungsphase, in der die Kompetenzen der basalen Strukturniveaus (…) nachgereift wurden, kann ab Störungsniveau 1–2 daran gearbeitet werden, Alternativen zum Suchtmittelkonsum oder zu anderen Verhaltensweisen zu entwickeln.“ Nun kann vermutet werden, dass diese Verwobenheit nicht nur für die Borderline-Störungsdynamik gilt, sondern auch für die Traumafolgestörung.

Waldhelm-Auer (2012, S. 202) rekurriert einerseits auf Krüger, merkt aber an, dass es schon bei Essstörungen die geforderte Abstinenz nicht geben kann. In diesem Fall kann auf das Suchtmittel in der Therapie nicht verzichtet werden, die Motivation ist aber eher besser, weil das Suchtverhalten nicht sofort aufgegeben werden muss. „Der Erwärmungsprozess in der Therapie bezieht sich vor allem auf die Wahrnehmung der vernachlässigten Rollen und Gefühle mit dem Ziel, den Selbstwert zu stärken, sich auf Begegnung einzulassen, Bindungen zuzulassen und perfekte Ziele in Frage zu stellen“ (Waldhelm-Auer 2012, S. 203). Diese Sichtweise stellt die Abstinenzideologie deutlich in Frage und scheint schon etwas ressourcenorientierter.

Sichtlich ist es also keine Besonderheit der Doppeldiagnose Traumafolgestörung und Suchterkrankung, dass differenzierte und integrative Therapiekonzepte zur Anwendung kommen müssen, sondern dies gilt für viele Formen der Suchterkrankung und der Komorbidität. Für die integrative Behandlung von Traumafolgestörung und Suchterkrankung existieren auch interessante psychodrama-fremde Konzepte, die den oben genannten Problematiken gerecht werden und seit vielen Jahren erfolgreich im stationären wie auch im ambulanten Setting durchgeführt werden (Lüdecke et al. 2018, S. 176; Najavits 2019, S. 18).

Konstitutiv für die integrative Behandlung ist eine pragmatische Vorgangsweise, je nach Sucht- und Traumafolge-Verlauf. Lüdecke et al. (2018, S. 130) schlägt eine Typologisierung vor, die hilfreich für die Wahl der Behandlungsmethode, aber auch für prognostische Aussagen sein kann. Typ 1 meint PatientInnen mit Monotraumatisierungen, bei denen das Trauma wenige Jahre zurückliegt (keine Kindheitstraumata) und damit auch die Suchtentwicklung kürzer ist. Oft wird bei diesen PatientInnen die Traumafolgestörung diagnostisch nicht erfasst, über längere Zeiträume kann es in der Folge zur Spontanremission der PTBS kommen und die klassische Suchttherapie erfolgreich sein. Der Verlauf ähnelt damit der reinen Suchterkrankung am meisten, gleichzeitig ist aber ein späteres Thematisieren der Traumatisierung für das Krankheitsverständnis der PatientInnen sinnvoll. Bei florider (rasch fortschreitender) Symptomatik sollte neben der Suchtbehandlung eine Behandlung der PTBS erfolgen, durchaus mit einem Anfangsschwerpunkt auf der Bearbeitung der PTBS, um Ressourcen für eine Entwöhnungsbehandlung aufzubauen.

Typ 2 ist ein Verlaufstyp mit vielfältigen Traumatisierungen in der Kindheit, häufig pathologischen Bindungsmustern, eventuell mit wechselweiser emotionaler Vernachlässigung und Reizüberflutung. Die Suchterkrankung beginnt früh und verschlechtert sich laufend. Hier steht die Stabilisierung der Suchterkrankung durch Substitution im Vordergrund, dann kann die Behandlung der Traumafolgestörung erfolgen. Je nach vorliegendem Strukturniveau muss entschieden werden, ob die integrative Behandlung stationär oder ambulant erfolgen kann.

Typ 3 leidet bereits an einer Abhängigkeitserkrankung, bevor die Traumatisierung eintritt. Die typischen Symptome einer PTBS zeigen sich und führen zu einer Verschlechterung der ohnehin schon bestehenden Suchterkrankung. Aus Sicht des Autors wäre hier der Schwerpunkt auf eine Behandlung der Traumafolgestörung zu legen und nach ausreichender Stabilisierung an eine, wahrscheinlich stationäre, Suchtbehandlung zu denken.

Typ 4: eher seltener geht es um eine bestehende Suchterkrankung, in deren Verlauf es zu einer Traumatisierung gekommen ist, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem Suchtmittelkonsum steht. Das Suchtmittel wird durch die zeitgleiche traumatisierende Erfahrung spontan abgelehnt und der Konsum, im Sinn einer Suchtverlagerung, häufig verschoben auf ein anderes Suchtmittel, manchmal auf ein (anderes) fixiertes Verhalten. Hier hängt die Frage der Behandlung von der Art des Suchtmittels ab, das konsumiert wurde bzw. das jetzt konsumiert wird. Obwohl die Gefahr besteht, mit der Behandlung der Traumafolgestörung in den vorigen Suchtmittelkonsum zurück zu fallen, ist es in der Regel für die PatientInnen nicht besser an einer PTBS zu leiden.

Die Frage, welche Aspekte sich für die Behandlung von Traumafolgestörungen und Suchterkrankungen ergeben, soll nun durch eine Gegenüberstellung zwischen dem alten und dem neuen Ansatz geklärt werden, zugespitzt auf gängige Vorurteile und Behauptungen (verändert nach: Najavits 2018, S. 20).

Fokus auf Sucht oder Trauma gerichtet

Fokus auf Sucht und Trauma gerichtet

Traditioneller Ansatz

Neuer Ansatz

Sucht oder Trauma ist Fokus, niemals beide gleichzeitig. Vor Beginn einer Therapie der Traumafolgestörung muss bei Vorliegen einer Suchterkrankung mindestens sechs Monate Suchttherapie stattfinden

Wenn PatientInnen beide Störungen haben, können sie wegen beiden psychotherapeutisch behandelt werden

Es gibt nur eine Methode für alle Fälle –

(lebenslange) Abstinenz

Es gibt viele Wege zur Heilung

Man kann nur an einer Form der Behandlung teilnehmen

Suchterkrankung und Traumafolgestörung sind oft komplex verwobene Störungen, die vieler Behandlungen bedürfen

Wenn die Patientin bzw. der Patient die Suchterkrankung überwunden hat, wird sich sofort Wohlbefinden einstellen

Symptome einer Traumafolgestörung können während der Suchtbehandlung aufflammen. TherapeutInnen müssen auch darauf achten

Wenn das Trauma überwunden ist, verschwindet die Suchtkrankheit von selbst

Es genügt nicht, nur an der Heilung der Traumafolgestörung zu arbeiten

Wenn TherapeutInnen an Traumafolgestörung und Suchterkrankung gleichzeitig arbeiten, verschlimmert sich der Zustand der PatientInnen

Entscheidend ist, wie daran gearbeitet wird. Wenn es gut gemacht wird, führt die Arbeit an beiden zu effektiven Resultaten

Eine Suchtkrankheit ist biologisch (genetisch) bedingt

Sucht ist ein multifaktorielles Geschehen. Individuelle (u. a. auch biologische) Umstände, soziale Gegebenheiten und gesellschaftliche Ursachen spielen eine Rolle

Mangelnde Berücksichtigung des Geschlechts oder der Kultur

Geschlecht und Kultur sind bedeutsame Faktoren sowohl bei Traumafolgestörungen, als auch bei Suchterkrankung

Der Konsum von Suchtmitteln ist nur ein Versuch der Vermeidung traumatischer Erinnerungen

Menschen konsumieren aus vielen unterschiedlichen Gründen Suchtmittel

4 Die Praxis der Behandlung der Traumafolgestörung und der Suchterkrankung

Nun ist die Wahl der Vorgangsweise bei der integrativen Behandlung von Suchterkrankung und Traumafolgestörung sichtlich von vielen Variablen abhängig. Die Entscheidung zum Einsatz spezifischer Techniken ist anhand der Einordnung in die Typologie, aber auch individuell im Einzelfall zu treffen. Trotzdem soll an dieser Stelle versucht werden, allgemeine Prinzipien zu erwähnen und anhand von Fallbeispielen Grundüberlegungen zugänglich zu machen.

Wie schon oben ausgeführt ist die Gewinnung von Stabilität und Sicherheit eine unabdingbare Voraussetzung für die Behandlung der Traumafolgestörung. Dies gilt, wenn auch vielleicht nicht ganz im gleichen Ausmaß, ebenfalls für die Behandlung der Suchterkrankung. Wobei bei letzterer der Aspekt der Ressourcenorientierung anfangs eine mindestens gleich große Rolle spielt, weil evozierende Vorgangsweisen den Stress und die Schwierigkeiten in der Selbststeuerung noch erhöhen. Beides, Stabilisierung und Ressourcenorientierung sind also wichtige Instrumente in der Behandlung beider Störungen und erleichtern somit die integrative Behandlung. Reddemann und Teunißen (2006, S. 197) erwähnen dazu das Beispiel von Ray Charles in Bezugnahme auf den erfolgreichen Film „Ray“. Der Künstler erleidet ein Trauma durch den Ertrinkungstod seines jüngeren Bruders und leidet in der Folge an Flashbacks und Schuldgefühlen, die er mit Heroin überwindet, das ihm hilft zu überleben. Ray Charles erleidet aber auch noch den Verlust seiner Mutter, die Erblindung und die Ausbeutung seiner Kunst durch Sehende. Wie bei vielen Künstlern schon seit langem an anderer Stelle beschrieben (Reavis 1986) führt Ray Charles’ Suchtmittelkonsum aber nicht unmittelbar in die Katastrophe, sondern stabilisiert ihn, bis er später von polizeilicher Seite unter Druck kommt. Es ist schwer zu beurteilen, ob letztlich die Droge oder die Musik Ray Charles’ Lebensretterin war; es wird aber deutlich, dass für ihn das Heroin zumindest in einer bestimmten Lebensphase noch problematischere Entwicklungen verhindern konnte.

Reddemann und Teunißen (2006, S. 199) schlagen eine ressourcenorientierte, die Suchtproblematik utilisierende Haltung der Therapeutin bzw. des Therapeuten vor. Die Konzentration auf die positiven, stabilisierenden Seiten des Suchtmittelkonsums dient nicht nur dem Beziehungsaufbau, sondern auch der Stabilisierung des Selbstwerts der PatientInnen. In der Folge kann nach Reflexion und Wertschätzung der bisherigen Lösungsmöglichkeiten noch immer überlegt und ausprobiert werden, welche weniger schädigenden Strategien in Notsituationen erfolgversprechend sind. „Verena Kast (Kast 2017, Anm. d. Verf.) hat dazu bereits 1994 das Erheben einer ‚Freudebiografie‘ empfohlen (…). Wir haben dies seither tausendfach erprobt …“ (Reddemann und Teunißen 2006, S. 199).

Die Erfahrung des Autors zeigt, dass die geforderte ressourcenorientierte und die Problematik utilisierende Grundhaltung TraumatherapeutInnen in der Regel gut gelingt, allerdings ins Stottern gerät, sobald es sich bei der Problematik um Suchtmittelkonsum handelt. Die Frage: „Können Sie mir bitte von den positiven Wirkungen Ihres Heroinkonsums erzählen?“ wird nicht so gern gestellt. Häufiger jedoch erfolgt die direktive Aufforderung: „Heroinkonsum? Kommen Sie, wenn Sie in einem halben Jahr wieder abstinent sind!“ Die Schwierigkeit ist nachvollziehbar: Ressourcenorientierung und Heroinkonsum scheinen sich auszuschließen, schnell wird die Angst zu groß, den Heroinkonsum zu stabilisieren und den PatientInnen zu schaden. Therapeutinnen und Therapeuten sind in diesem Zusammenhang aufgefordert, an ihren Einstellungen zum Suchtmittelkonsum und an ihrer ressourcenorientierten Grundhaltung zu arbeiten.

Nun könnte man meinen, dass diese Grundhaltung nur zu Beginn der Therapie, für Beziehungsaufbau und Motivation, eine Rolle spielt, und so manche Leserin oder mancher Leser stellen sich vielleicht jetzt die Frage: Muss ein/e PatientIn abstinent sein, bevor eine Traumaexposition gemacht werden kann bzw. um geheilt zu werden? Neben der an dieser Stelle psychodramatisch angebrachten Warnung vor perfekten Zielen der TherapeutInnen, soll hier mit einem FallbeispielFootnote 1 (Franke 2011, S. 98) geantwortet werden, das die ressourcenorientierte Utilisierung des Substanzkonsums in einer späteren Therapiephase zeigt.

Fallbeispiel: Frau K.

Frau K. (38) war aufgrund einer komplexen Bindungstraumatisierung lange alkohol- und kokainabhängig, sie kommt seit einem halben Jahr zur Therapie. Nach stationären Aufenthalten stabilisiert, arbeitet sie in einem sozialökonomischen Betrieb als Sekretärin. Seit einiger Zeit wird sie am Wochenende immer wieder rückfällig. Unter der Woche sei sie sehr „vernünftig“, am Wochenende möchte sie sich aber belohnen, danach wäre sie körperlich geschwächt, voller Schuldgefühle und sehr böse auf sich. Als wären da >zwei Seelen in meiner Brust, von denen jede etwas anderes will<. Ich schlage ihr vor, die beiden Anteile in einen szenischen Dialog treten zu lassen. Als intermediäre Objekte wählt Frau K. für den „giftigen Anteil“ (Figur A, Abb. 1) eine unheimliche archaische Tiergestalt („der ist sehr ungut, richtig gierig“) und für sein Gegenüber (Figur B, Abb. 2) einen Plüschvogel („weil er lustig und nett ist“).

Die beiden werden auf Sesseln gegenüber platziert, Frau K. stellt sich abwechselnd dahinter auf und wird von mir gedoppelt. Anfangs beschreibt A verführerisch, wie nett sie beide es am Wochenende haben würden, „… nur ganz wenig Gift nehmen, endlich wieder Spaß haben und mit Leuten reden!“. B argumentiert, dass dies schon lange nicht mehr lustig sei, weil sie in diesem Zustand aus lauter Angst vor Entdeckung total gehemmt wäre. Das Pro und Kontra geht eine Zeitlang hin und her und endet in Beschimpfungen und Beleidigtsein. Da der Prozess blockiert scheint, schlage ich B vor, A zu fragen, was er brauche, damit es ihm besser gehe. Darauf A, noch schmollend: „Nix!“. Mit meiner Unterstützung vermittelt ihm B, dass es ohne seine Kooperation nicht gehe und er wichtig sei. Nochmals gefragt, platzt A heraus: „Es ist mir ja so furchtbar fad mit dir, ich will endlich einmal etwas anderes machen!“. Frau K. wirkt betroffen und sagt zu mir beiseite, dass er recht habe, sie empfinde ihr Leben als sehr eintönig. Als sie A fragt, ob er auch „ungiftige“ Ideen hätte, fällt ihm nichts ein, aber Frau K erinnert sich plötzlich, dass sie schon lange Bewegung machen möchte. Ein Bild taucht in ihr auf und sie fragt A, ob er Lust habe, am Morgen den Tisch mit ihr wegzuschieben und frei herumzuturnen. A ist davon angetan und sagt seine Kooperation zu („Das ist lustig, machen wir!“). Im Rollenfeedback erzählt Frau K. von der Unterforderung in ihrer Arbeitssituation und ihrem Veränderungswunsch, den sie sich bisher noch nicht anzusprechen getraut hat. Nach der Arbeit auf der Spielbühne an der Integration ihres kreativen Anteils, der gehört werden muss, um nicht aus Frustration und Langeweile für ungute Abwechslung zu sorgen, entwickelt sich damit organisch der nächste Schwerpunkt, die Veränderungsarbeit auf der sozialen Bühne der Arbeitswelt.

Abb. 1
figure 1

Figur A (Franke 2011, S. 98)

Abb. 2
figure 2

Figur B (Franke 2011, S. 98)

5 Abschließende Bemerkungen

Die Behandlung von Traumafolgestörung und Suchterkrankung verlangt von PsychodamapsychotherapeutInnen eine profunde Auseinandersetzung mit beiden Themen. Gesellschaftliche Klischees, Vorurteile, die Dämonisierung von bestimmten Substanzen in den Medien und eine diskriminierende Gesetzgebung erschweren die Arbeit bei Vorliegen beider Diagnosen. Es besteht die Gefahr des Pendelns von KlientInnen zwischen Sucht- und Traumatherapie, bis beides enttäuscht aufgegeben wird. Aus fachlicher Sicht ist eine integrative Behandlung beider Störungen am aussichtsreichsten. Wichtige Eckpunkte dazu sind das Verständnis der Verwobenheit beider Störungen und ein stabilisierender, ressourcenorientiert utilisierender Ansatz; dann eignen sich psychodramatische Techniken hervorragend für die konkrete Therapie, wie auch Evaluationen (zuletzt Giacomucci und Marquit 2020) zeigen. Häufig sind Patientinnen und Patienten auch noch von Exklusion aus verschiedensten gesellschaftlichen Funktionssystemen (von Arbeit über Wohnen bis hin zu Teilhabe) bedroht. Ein professionelles Case-Management, wie es zum Beispiel in Suchtberatungsstellen angeboten wird, ist ein wesentlicher Bestandteil der Stabilisierung, aber in der Folge auch des Genesungsprozesses. Besteht diese Möglichkeit der Abgabe des Case-Management an SpezialistInnen nicht, sollte die Therapeutin bzw. der Therapeut den Stand der Inklusion der PatientInnen im Auge behalten.

Letztlich ist die Begegnung unbedingte Voraussetzung für die kooperative Bearbeitung der psychischen Probleme dieser PatientInnen und ermöglicht einen adäquaten Umgang, der der Komplexität der Lebenssituation gerecht wird. Es ist selbstverständlich notwendig und sinnvoll, sich als SuchttherapeutInnen und als TraumatherapeutInnen über den Tellerrand der Grundausbildung hinaus mit den methodischen Weiterentwicklungen der Psychodramapsychotherapie zu beschäftigen und sich entsprechend weiterzubilden, diese Instrumente aber gleichzeitig nicht zu überschätzen: Entwicklung findet manchmal ganz oder fast ohne unser interventionstechnisches Zutun, nur in der Begegnung, statt. Unsere PatientInnen – mit ihren oft extremen emotionalen Schwankungen, ihrer sogenannten Widerständigkeit, ihrer hohen Sensibilität und ihren wenig ausgeprägten Grenzen – spüren sehr genau, ob wir ihnen distanziert, im Schutz von spezifischen Methoden und Manualen oder mitmenschlich und mitfühlend begegnen.