1 Einleitung

Greift das pädagogische Schulpersonal bei Gewaltphänomenen in der Schule nicht ein, können diese sich verstärken, weil sie scheinbar toleriert werden (Rajaleid et al. 2020). Ein entscheidender Faktor, um Gewaltphänomene in der Schule zu reduzieren, ist daher die Interventionsbereitschaft des Schulpersonals; also die Bereitschaft in solchen Situationen überhaupt zu reagieren (S.M. Fischer 2021). Hatespeech ist als Gewaltphänomen einzustufen. Es handelt sich dabei um einen abwertenden Ausdruck (z. B. als Wort oder Darstellung) über Menschen (direkt oder stellvertretend) auf Basis zugeschriebener Merkmale (Herkunft, sexuelle Orientierung etc.) und intendiert eine Verletzung bzw. kann Schaden auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene verursachen (Kansok-Dusche et al. 2022). Auf individueller Ebene kann Hatespeech negative psychische Folgen für die Beteiligten haben (Krause et al. 2021; Wachs et al. 2022) sowie auf gesellschaftlicher Ebene mit Prozessen politischer Radikalisierung und negativen Effekten auf soziale Normen verbunden sein (Bilewicz und Soral 2020; Wachs et al. 2021a). Auch bei Hatespeech sind Desensibilisierungseffekte zu beobachten, wenn Personen häufig mit ihr konfrontiert sind (Soral et al. 2018). Hatespeech ist kein reines Online-Phänomen, sondern tritt auch analog auf (z. B. Ballaschk et al. 2021; Wachs et al. 2021a). Gleichzeitig hat Hatespeech durch das Aufkommen sozialer Medien eine neue Dynamik erhalten, in denen sie sich schnell verbreiten und Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann, was wiederum auch in die Schule hineinwirken kann, v. a. da Jugendliche solche Medien besonders aktiv nutzen (Wachs et al. 2021b). Eine erste Studie zum Interventionshandeln des pädagogischen Schulpersonals bei Hatespeech weist darauf hin, dass ebenfalls nicht immer interveniert wird (Krause et al. 2023). Da das Interventionshandeln von Lehrkräften aus der Mobbingforschung bereits als Einflussfaktor auf die Prävalenz solcher Gewaltphänomene bekannt ist, werden im vorliegenden Beitrag Hindernisse für Interventionen bei Hatespeech analysiert. Hierzu wird das etablierte Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten (Bystander-Intervention-Model; Latané und Darley 1970) herangezogen und qualitative Daten im Hinblick auf ausbleibende Interventionen bei Hatespeech ausgewertet. Die Identifikation konkreter Faktoren, die die Interventionsbereitschaft reduzieren, kann wichtige Implikationen für die Praxis liefern und ein Gegensteuern ermöglichen. Der Fokus der vorliegenden Betrachtung liegt daher, entlang des Abwägungsprozesses im Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten, auf Gründen, die Interventionen des pädagogische Schulpersonals bei Hatespeech-Vorfällen verhindern.

2 Das Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten bei Hatespeech-Vorfällen

Unter dem Begriff „Intervention“ versteht man reaktive Handlungen mit der Absicht, ein unerwünschtes Phänomen abzustellen (Hurrelmann und Holler 1988). Diese sind an diagnostische Prozesse geknüpft (z. B. Informationen sammeln) und zielgerichtet (Leutner 2013). Das Gebot einer Intervention bei Hatespeech leitet sich auch aus den Aufgaben der Schule ab, etwa Heranwachsende vor Diskriminierung zu schützen und demokratische Werte zu vermitteln (Kultusministerkonferenz [KMK] 2018). Hatespeech verletzt Betroffene (Krause et al. 2021; Wachs et al. 2022) und reproduziert zudem Ungleichwertigkeitsvorstellungen über Menschengruppen, die auch rechtsextremen und rechtspopulistischen Ideologien zu eigen sind (Sponholz 2021). Lehrkräfte und Sozialarbeiter:innen sind zudem in einer prädestinierten Lage, Gewaltphänomene wahrzunehmen und professionell eingreifen zu können. Sie können in der Schule unmittelbar, aktiv kontaktiert werden, wenn Schüler:innen Gewalt erleben. Darüber hinaus haben sie pädagogischen Einfluss auf die Normen in der Klasse (Wachs et al. 2021a). Interventionen dienen also nicht nur dem Schutz Betroffener, sondern verhindern auch, dass sich gewaltvolle Verhaltensnormen und menschenfeindliche Ideologien reproduzieren.

Zur Erforschung möglicher Gründe, warum Außenstehende in Notfallsituationen nicht eingreifen, hat sich das Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten etabliert, das einen kognitiven, fünfstufigen Prozess beschreibt (P. Fischer et al. 2011; Latané und Darley 1970). Anhand dieser Stufen wird im Folgenden der Forschungsstand zu ausbleibenden Interventionen durch das pädagogische Schulpersonal bei Hatespeech und verwandten Phänomenen vorgestellt:

  1. 1.

    Wahrnehmen einer problematischen Situation. Um intervenieren zu können, muss das Ereignis auf der ersten Stufe notwendigerweise bemerkt werden; d. h. das pädagogische Schulpersonal muss einen Hatespeech-Vorfall wahrnehmen können. Die Mobbingforschung zeigt z. B., dass Lehrkräfte Mobbing oft nicht wahrnehmen und dass dies bei Cybermobbing, da es online stattfindet, sogar noch schwieriger ist (Eldridge und Jenkins 2020). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Wahrnehmung von Hatespeech ähnlich schwierig ist, zumal diese auch flüchtig auftreten kann oder online stattfindet und dort (wie Cybermobbing) noch schwerer wahrnehmbar ist. Die Wahrnehmung von Gewaltphänomenen kann auch behindert werden, wenn die pädagogischen Fachkräfte in Eile oder abgelenkt sind (P. Fischer et al. 2013).

  2. 2.

    Interpretation als interventionswürdige Situation. Auf der zweiten Stufe muss der beobachtete Vorfall als Notfall eingeschätzt werden, der eine Intervention verlangt. Expressive Notfall-Anzeichen (z. B. Schreie) erleichtern das Erkennen eines Hilfebedarfs (Dovidio et al. 2017), sind bei Hatespeech aber gering ausgeprägt, da Betroffene teils nicht direkt erkennbar sind. Die Qualität bzw. Schwere der Situation beeinflusst womöglich die Interventionswahrscheinlichkeit (Obermaier et al. 2016). Bei Mobbing werden etwa indirekte Formen als weniger schwerwiegend angesehen (Blain-Arcaro et al. 2012). Dies deckt sich mit der Erkenntnis, dass Lehrkräfte mit breitem Gewaltverständnis (die z. B. relationales Mobbing dazuzählen) bei Mobbing eher intervenieren (Bilz et al. 2016). Hatespeech könnte als weniger schwerwiegend angesehen werden, da sie flüchtig auftritt und kein alleinstehendes Opfer betroffen sein muss. Es bedarf daher einer höheren Sensibilität bzw. eines Problembewusstseins. Bei Mobbing intervenieren Lehrkräfte eher, wenn sie sensibel für das Leid der Betroffenen sind (Blain-Arcaro et al. 2012; Eldridge und Jenkins 2020). Wenn Lehrkräfte überzeugt sind, dass Mobbing zum Erwachsenwerden dazugehört oder Betroffene sich selbst behaupten sollten, greifen sie hingegen seltener aktiv ein (Hektner und Swenson 2012). Auch die Einschätzung, ob es sich tatsächlich um Hatespeech handelt oder ob eine Äußerung durch Spaß oder beleidigenden Sprachnormen, die jedoch Verbundenheit ausdrücken sollen, motiviert ist, fällt ihnen schwer (Ballaschk et al. 2021).

  3. 3.

    Verantwortungsübernahme. Auf der dritten Stufe wägen Bystander (Beobachtende) ab, ob sie in einer Situation für die Intervention verantwortlich sind. Bei Cybermobbing zeigt sich, dass das Verantwortungsgefühl bei schwerwiegenderen Vorfällen (Obermaier et al. 2016) und mit der affektiven Empathie des Personals (Eldridge und Jenkins 2020) steigt. Ein hemmender Effekt, der bereits von Latané und Darley (1970) identifiziert wurde, ist die Verantwortungsdiffusion: Insbesondere wenn mehrere mögliche Bystander vorhanden sind, wird von Einzelnen weniger Verantwortung übernommen. Pädagogische Fachkräfte haben jedoch eine spezielle Verantwortung, die sich aus ihrer professionellen Rolle ergibt. Annehmbar ist aber, dass sich das Verantwortungsgefühl anhand des Schulbezugs unterscheidet, ähnlich wie bei Mobbing/Cybermobbing (Eldridge und Jenkins 2020): Vorfälle, die direkt in der Schule auftreten, könnten ein stärkeres Verantwortungsgefühl erzeugen als solche, die im Online-Raum und/oder außerhalb der Schule stattfinden.

  4. 4.

    Einschätzung der eigenen Kompetenzen zur Problemlösung. Stufe vier des Modells beschreibt den Abwägungsprozess hinsichtlich der eigenen Kompetenzen. Eldridge und Jenkins (2020) zeigen, dass die affektive Empathie positiv mit dem Wissen, was bei traditionellem Mobbing zu tun ist, zusammenhängt, wohingegen dieser Zusammenhang bei Cybermobbing nicht signifikant ist, was durch fehlendes Wissen erklärt werden kann. Ähnliche Unterschiede bei Offline- und Online-Hatespeech sind möglich. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Lehrkräfte in Mobbing-Situationen eingreifen mit ihrer Selbstwirksamkeit, wobei Erfahrungen mit erfolgreichen Interventionen die Selbstwirksamkeit erhöhen können (S.M. Fischer et al. 2020). Annehmbar ist, dass das Schulpersonal bislang wenige erfolgreiche Erfahrungen mit Interventionen bei Hatespeech hat.

  5. 5.

    Bewusste Entscheidung über Hilfeverhalten treffen: Auf der fünften Stufe wird die Entscheidung getroffen, ob in einer Situation interveniert wird oder nicht. Dabei wägen Beobachtende Kosten und Nutzen einer möglichen Intervention ab, bevor sie sich zur Handlung entschließen. Ein Kostenfaktor kann schon das Unterbrechen anderer Handlungen, z. B. des Unterrichtens, sein: Psychologische Forschung zeigt, dass Zeitdruck die Not anderer überwiegen kann (Dovidio et al. 2017). Studien problematisieren auch, dass gleichzeitig viele Rollenanforderungen an die Lehrkräfte gestellt werden (Mishna et al. 2006).

Das Entscheidungsmodell konnte empirisch bereits verschiedentlich angewendet werden (P. Fischer et al. 2011), auch bei Phänomenen, die mit Hatespeech verwandt sind, z. B. bei unzivilem Online-Verhalten (Jost et al. 2020) sowie bei traditionellem Mobbing und Cyber-Mobbing in der Schule (Eldridge und Jenkins 2020). Für Hatespeech selbst ist das Modell bisher allerdings nicht angewendet worden.

3 Forschungsfrage

Die vorliegende Studie zielt darauf ab, diese Forschungslücke zu schließen und mithilfe einer qualitativen Herangehensweise die spezifischen Faktoren, die das Schulpersonal daran hindern bei Hatespeech einzugreifen, zu identifizieren. Die Forschungsfrage lautet daher: Welche Hindernisse können hinsichtlich der Interventionsbereitschaft von Lehrkräften und anderem pädagogischen Schulpersonal bei Hatespeech-Vorfällen in der Schule identifiziert werden?

Da die Forschung zu verwandten Phänomenen im Vergleich zu Hatespeech fortgeschrittener ist, sollen mögliche Gründe für ausbleibende Interventionshandlungen gegenübergestellt werden. Die Ergebnisse werden zum Verständnis von Interventionen bei Hatespeech in Schulen beitragen und können dabei helfen, die Voraussetzungen für ausreichende, situationsgerechte Interventionen durch das Schulpersonal zu erkennen und zu schaffen.

4 Methode

4.1 Sample und Feldzugang

Das Sample der vorliegenden Studie umfasst 89 Interviews von sieben Schulen, davon 55 mit Zehntklässler:innen, 18 mit Lehrkräften und 16 mit anderem pädagogischen Schulpersonal, z. B. aus der Sozialarbeit. Die Interviews wurden 2019 und 2020 in Berlin-Brandenburg durchgeführt. Die Fallauswahl wurde bereits vor der Erhebung getroffen und anhand verschiedener Kriterien möglichst kontrastreich zusammengestellt („purposeful Sampling“) (Palinkas et al. 2015). Kontrastiert wurde nach Lage der Schule zwischen den Bundesländern, d. h. zwischen ländlichen und (groß-)städtischen Gebieten, und innerhalb nach sozialgeografischen Unterschieden. Zudem wurden drei Schulformen einbezogen (Gymnasien, Integrierte Sekundarschule, Oberschulen). Unterschiede hinsichtlich des angestrebten Bildungsabschlusses ergeben sich jeweils durch die Verfügbarkeit einer gymnasialen Oberstufe. Aufgrund der behördlichen Genehmigungsverfahren waren induktivere Samplingstrategien nicht umsetzbar. Der Feldzugang gelang durch direkte Anfragen bei den Schulen, Gatekeeper und eigene Netzwerke. Die ausdrücklich freiwillig Teilnehmenden wurden vorab über Erhebungszweck, Datenauswertung und ihre Rechte informiert. Weitere personenbezogene Daten, wie Alter, Geschlecht und unterrichtete Fächer, wurden u. a. aufgrund datenschutzrechtlicher Auflagen im Zuge der landesbehördlichen Genehmigungsverfahren nicht erhoben.

4.2 Datenerhebung

Die Daten wurden mithilfe episodischer Interviews nach Flick (2014b) erhoben. Ihnen lag ein teilstrukturierter Leitfaden zugrunde, der offene Erzählaufforderungen zu biografischem, erfahrungs- und situationsbezogenem Wissen mit konkreten, zielgerichteten Fragen zu semantischem Wissen verbindet.

Das Schulpersonal wurde nach bekannten Interventionsmöglichkeiten bei Hatespeech, praktisch erprobten Interventionen und ihrer Bewertung der erprobten Intervention befragt. In der Erhebungssituation konnten die Fragen und deren Reihenfolge zugunsten des natürlichen Gesprächsflusses angepasst werden. Beschreibungen des eigenen Verhaltens bei Hatespeech-Vorfällen sind dabei selbstreferenziell. Auch Berichte über Verhaltensweisen von Kolleg:innen bei solchen Vorfällen führten zu auswertbaren Aussagen. Die Schüler:innen wurden u. a. gefragt, wie das Schulpersonal auf Hatespeech-Vorfälle reagiert und welches Verhalten sie sich von den Pädagog:innen wünschen. In allen Fällen wurden Fragen zu Online- und Offline-Hatespeech gestellt. Die Leitfäden wurden mit dem Ziel reflektiert und angepasst, möglichst offen für den Untersuchungsgegenstand zu sein und eine unnötige Beeinflussung zu vermeiden (Helfferich 2014). Nach Fragen zum subjektiven Begriffsverständnis und ersten Situationsbeschreibungen wurde das Phänomen Hatespeech mittels einer Grafik erläutert. Dies diente dem Verständnis und der Abgrenzung zu anderen Phänomenen, muss aber im Sinne der Offenheit mitbetrachtet werden.

Zur weiteren Auswertung wurden Interviews kriteriengeleitet ausgewählt, darunter 21 Interviews mit Schüler:innen (J01–J21), 16 mit Lehrkräften (L01–L16) und neun mit anderem pädagogischen Schulpersonal (S01–S09). Interviews wurden ausgewählt, wenn sie bis dahin ungenannte relevante Aspekte enthielten oder reich an biografischen Berichten über tatsächliche Ereignisse bzw. konkretes Handeln der Beteiligten waren. Basierend auf dem Transkriptionssystem GAT2 (Dresing und Pehl 2018) wurden die Interviews im exakten Wortlaut, mit weiteren Informationen zum Interviewverlauf, jedoch ohne personenbezogene Daten transkribiert.

4.3 Datenanalyse und Datengüte

Die ersten Kategorien wurden deduktiv auf Basis der zentralen Erkenntnisinteressen der Forschenden gebildet und finden sich ebenfalls im Interviewleitfaden wieder, u. a. die Kategorie „Umgang/Folgen“. Die weitere Datenanalyse erfolgte in Anlehnung an die Grounded Theory (Strauss und Corbin 2010; Strübing 2014). Dazu wurden Zitate aus den Transkripten zunächst induktiv kodiert, anfangs sogar „in vivo“, d. h. im originalen Wortlaut (offenes Kodieren). Anschließend wurden Zitate innerhalb der deduktiv festgelegten Kategorien zu abstrakteren Unterkategorien gruppiert. Durch dieses Vorgehen entstanden stetig neue Subkategorien und Verknüpfungen (axiales Kodieren). Darüber hinaus wurden Anpassungen des Kategoriensystems vorgenommen, etwa verschiedene Subkategorien zu Kernkategorien verdichtet (selektives Kodieren). Memos unterstützten die Auswertung. Innerhalb der Kategorie „Umgang/Folgen“ wurden die Kernkategorien „Reaktionen und Bewältigung“, „Intervention und Prävention“ und „Potenziale im Umgang“ entwickelt. Innerhalb der Kategorie „Intervention und Prävention“ konnten verschiedene Interventionsstrategien gefunden werden (Krause et al. 2023), aber auch Berichte von fehlenden Interventionen. Darüber hinaus wurden innerhalb der Kategorie „Intervention und Prävention“ auch Aussagen zugeordnet, die in Beziehung zu konkreten Interventions- und Präventionsmaßnahmen stehen (z. B. Aussagen über Verantwortlichkeit oder Vorbildfunktion des Schulpersonals). Die Kategorie „Potenziale im Umgang“ umfasst u. a. Zitate, in denen Verbesserungen der Interventionsbedingungen vorgeschlagen werden oder Interviewte auf Grenzen ihres Handelns hinweisen. Aus diesen beschriebenen Kategorien setzen sich interpersonell die Ergebnisse zur Forschungsfrage zusammen. Zur Strukturierung der Ergebnisse werden zudem die fünf Stufen des Entscheidungsmodells für Hilfeverhalten zugrundgelegt. Die Datenanalyse wurde mit der Software MAXQDA durchgeführt.

Um die Datengüte sicherzustellen, wurde die prozedurale Reliabilität (Flick 2014a) berücksichtigt, indem die Datenerhebung standardisiert erfolgte (Audioaufnahme, Transkription). Ein weiteres Kriterium ist die bereits beschriebene Fallkontrastierung. Verschiedene Möglichkeiten der Triangulation wurden ebenfalls berücksichtigt (Denzin 1989; Flick 2019). Die kontrastierte Gestaltung des Samplings ermöglichte die systematische Einbeziehung unterschiedlicher Schulen und verschiedener Personen (an mehreren Orten und Zeitpunkten), was der Daten-Triangulation entspricht. Durch die Beteiligung mehrerer Forschender an den Erhebungs- und Auswertungsprozessen und eigene Sensibilisierungs- und Reflexionsmaßnahmen konnte die Forschenden-Triangulation berücksichtigt werden. Durch Einbeziehung verschiedener Hypothesen und Perspektiven konnten, der Theorien-Triangulation entsprechend, Verzerrungen durch vorgefasste Denkmuster und Vorstellungen entgegengewirkt werden. Das episodische Interview ermöglichte zudem eine methodologische Triangulation („within-method“) durch die Kombination von Erzählaufforderungen zu Erfahrungs- und Biografiewissen und Nachfragen zu semantischem Wissen (Denzin 1989; Flick 2019).

5 Ergebnisse

Bevor auf die Hindernisse beim Interventionshandeln durch das pädagogische Schulpersonal eingegangen wird, sollen zunächst Berichte über tatsächlich ausbleibende Interventionen abgebildet werden. Insbesondere lassen sich solche Aussagen bei Schüler:innen finden, z. B.: „Die meisten Lehrer hören halt einfach darüber hinweg. […] manche Lehrer interessiert das halt einfach nicht“ (J12), oder: „[…] die [Lehrkräfte] haben halt wirklich nichts unternommen. Die haben das gesehen und sind einfach weitergelaufen“ (J08). Auch dem Schulpersonal ist bewusst, dass nicht immer hinreichend interveniert wird und dies problematisch ist: „[Wenn] standardmäßig durch den Gang gebrüllt wird: ‚Schwuchtel‘ […] und keiner sagt dazu was, dann wird damit natürlich so etwas normalisiert“ (L08), und: „[Man muss] höllisch aufpassen, dass man das nicht einfach so unter den Teppich kehrt, weil sonst wird das so […] Banalität, so ein alltäglicher Wortgebrauch“ (L12). Dabei reflektieren sich die Befragten teils selbst, teils deuten sie an, dass Kolleg:innen nicht immer intervenieren. Im folgenden Beispiel berichtet die Lehrkraft auf die Frage, welche Interventionen ihr bekannt sind: „Na ignorieren! Also das ist, glaube ich, was am häufigsten vermutlich gemacht wird […]“ (L02) und erklärt zum eigenen Interventionshandeln: „[…] ich ignoriere es teilweise, weil ich es nicht immer wieder neu aufmache“ (L02). Für das Ausbleiben der Intervention konnten unterschiedliche Gründe gefunden werden, die im Folgenden entlang der fünf Stufen des Entscheidungsmodells für Hilfeverhalten berichtet werden.

5.1 Wahrnehmen einer problematischen Situation

Auf der ersten Stufe des Modells ist eine mögliche Erklärung für ausbleibende Interventionen, dass das Schulpersonal nicht ausreichend viele Informationen über eine Situation hat. Das wird v. a. von Schüler:innen berichtet: „Achtzig Prozent bekommen die nicht [mit]. […] so viele Kinder, da hören die ja nicht jedes einzelne Gespräch“ (J06). Die Schüler:innen erzählen zudem, dass Hatespeech in vielen Fällen absichtlich vor dem Schulpersonal verborgen wird oder z. B. an Orten geäußert wird, an denen das Schulpersonal trotz Anwesenheit nicht in der Lage ist, die Äußerungen im Einzelnen wahrzunehmen: „Ganz, ganz viel Hatespeech wird auf dem Schulhof betrieben. Meistens an Orten, wo Lehrer [es] nicht [mitbekommen]“ (J07). Lehrkräfte berichten Ähnliches: „Ich glaube, da läuft unheimlich viel, was wir gar nicht mitkriegen“ (L08). Einige reflektieren auch die Möglichkeit, dass sie einen Vorfall trotz Anwesenheit nicht bemerken: „Mit Sicherheit ist mir manches bestimmt auch schon durchgerutscht, gerade wenn man im Stress ist“ (L03). Dieses Problem tritt auch auf, wenn Hatespeech außerhalb der Schule geäußert wird, z. B. online: „[…] wir können einfach auch nicht außerhalb der Schule eingreifen und das kontrollieren“ (S03). Eine Person merkt dazu auch an, dass die Schüler:innen auch dort wissen, wie sie Hatespeech verborgen halten können: „Und machen wir uns nichts vor, die Kinder haben mehr Ahnung als wir. Was wir nicht finden oder lesen sollen, finden und lesen wir auch nicht.“ (L07). Das Erkennen wird als erster Schritt für eine Intervention identifiziert: „Dafür müssen wir’s erstmal erkennen […]“ (L04).

Es kann zusammenfassend davon ausgegangen werden, dass Ausübende Hatespeech auf unterschiedliche Weise vor dem Schulpersonal verbergen. Doch auch wenn Schulpersonal in der Nähe ist, scheint die Wahrnehmung von Vorfällen nicht gesichert zu sein, z. B. wenn die Person anderen Aufgaben nachgeht.

5.2 Interpretation als interventionswürdige Situation

Weitere Aussagen können der zweiten Stufe des Modells zugeordnet werden. Einige können als Bagatellisierung oder Desensibilisierung gedeutet werden: „[…] wir haben zwei, drei, die hier so ein bisschen auf tollen Rechten machen wollen. Aber für meinen Begriff steckt da nicht wirklich was dahinter“ (L07). In Bezug auf rechtsextreme Vorfälle erklärt die Lehrkraft weiterhin: „Aber hier auf Arbeit versuche ich da wirklich nur einzugreifen, wenn es in den Schulalltag geht“ (L07). Eine Ursache für das Nicht-Eingreifen kann auch darin zu finden sein, dass das Schulpersonal die Situation schlicht nicht als interventionswürdig einschätzt. Dabei können Fehleinschätzungen auftreten, z. B. in Abgrenzung zu gewaltvoller Sprache oder rituellen Beleidigungen zwischen Schüler:innen. Die Schwierigkeit Aussagen korrekt einzuordnen, wird vom Schulpersonal ebenfalls problematisiert: „Also wie oft betiteln sich auch die Damen untereinander ‚Schlampe‘ und das ist eigentlich als Nettigkeit gemeint […]“ (L12). Dies kann so interpretiert werden, dass einige Befragte, sofern nicht klar ist, ob es sich bei einem Ereignis tatsächlich um Hatespeech handelt, eher dazu neigen, nicht zu intervenieren: „Wenn man dann einen Witz zwischen zwei Freunden, bei dem sie cool miteinander sind, sanktioniert, dann gerät man schnell in eine Dynamik hinein […]“ (S05). Die Fachkraft problematisiert dabei die Kehrseite; eine „Dynamik“, die entsteht, wenn in den falschen Situationen (d. h. wenn es sich tatsächlich nicht um Hatespeech handelt) interveniert wird. Aus der Perspektive der Schüler:innen werden ebenfalls mögliche Fehleinschätzungen einer Situation durch das Schulpersonal geschildert, z. B.: „Aber die [Beleidigungen] passieren eigentlich auch nur aus […] Späßen. Der Grund, warum […] so ein großes Drama drum gemacht wird, wenn es aus Späßen passiert: dass die Lehrer das nicht verstehen“ (J06). Auch mangelndes Wissen über Hatespeech und fehlende Sensibilität dafür werden vom Schulpersonal problematisiert: „[…] ein Wunsch, den ich hätte, dass da im Kollegium auch nochmal ein bisschen mehr gearbeitet wird und dass da auch mehr Sensibilität und Bewusstsein und überhaupt Wissen- […] Also ich glaube, über viele Mechanismen der Diskriminierung weiß das Kollegium gar nichts“ (L08).

Zusammenfassend zeigt sich, dass das Schulpersonal eine Intervention nicht immer als erforderlich erachtet. Das kann durch Beurteilungsfehler geschehen, die auf Bagatellisierung oder eine Falschbewertung (z. B. in Abgrenzung zu gewaltvollen Sprachnormen) zurückgeführt werden. Einige Interviewte nehmen an, dass eine Erweiterung von Wissen, Bewusstsein und Sensibilität für Hatespeech helfen könnte, solche Vorfälle besser einzuschätzen.

5.3 Verantwortungsübernahme

Grundsätzlich ist sich das Schulpersonal der Anforderung bewusst, dass eine Intervention bei derartigen Vorfällen geboten ist. Sobald sie einen Vorfall erkennen „[…] sind wir natürlich aufgefordert mit allen möglichen pädagogischen und auch schulinterventorischen Möglichkeiten dort vorzugehen“ (S08). Dieser im Zustandspassiv formulierte Satz lässt sich so interpretieren, dass das Schulpersonal sich wegen der von außen auf sie übertragenen Anforderungen als Pädagog:innen (und möglicherweise nur sekundär aufgrund internaler Werthaltungen) verpflichtet fühlt. Ein weiteres Zitat aus den Daten unterstreicht diese Interpretation: „[…] da müssen wir dann auch einfach die Wege gehen. Gespräche, Klassenkonferenz, das freigeben. Und wenn wir das nicht machen, kriegen wir Ärger mit der Schulaufsicht“ (L07). Die Lehrkraft schlussfolgert die Verantwortung daraus, dass negative Folgen für sie selbst oder die Schule vermeiden werden.

Die Intervention bei einem Vorfall kann dem Verantwortungsbereich anderer Personen zugeschrieben werden, z. B.: „[…] grundsätzlich sagt die Schule natürlich auch gerne: WhatsApp ist ja nicht erlaubt und das liegt schon quasi im Verantwortungsbereich der Eltern“ (S02). Durch die Verortung in einem außerschulischen Bereich (Messenger-App) wird als „Schule“ keine Verantwortung übernommen, sondern den Eltern zugeschrieben. Dies kann auch darauf zurückzuführen sein, dass Pädagog:innen unsicher sind, bis wohin sich ihre Verantwortlichkeit erstreckt. Die unklare Zuständigkeit wird auch im folgenden Bericht über einen Hatespeech-Vorfall deutlich: „Also ich persönlich habe die Meinung, […] das ist ein schulischer Chat gewesen, weil der wäre privat so nie zustande gekommen. Und durch diesen schulischen Kontext sehe ich das schon so, dass wir als Schule […] eingreifen müssen“ (L03). In der Folge einer Verantwortungsdiffusion können aber auch verstärkt Dritte konsultiert werden, was durchaus auch Anregungs- und Handlungspotenziale freisetzen kann. So werden etwa Eltern oder Schulsozialarbeiter:innen einbezogen: „[Das] Elternhaus muss da auch mitziehen“ (L13), oder: „Wir haben hier zwei Sozialarbeiter, […] die werden […] in jeden kleinen Konflikt mit reingezogen. Die werden sehr gern mit herangezogen.“ (L17).

Insgesamt lässt sich eine gewisse Verantwortungsdiffusion feststellen, v. a. wenn ein Hatespeech-Vorfall außerschulisch stattfindet (hauptsächlich bei Online-Hatespeech). Diese kann jedoch eine Zusammenarbeit mit den Eltern und anderem Schulpersonal begünstigen.

5.4 Einschätzung der eigenen Kompetenzen zur Problemlösung

Der vierten Stufe kann das Fehlen von Kompetenzen als Hindernis für eine Intervention bei Hatespeech interpretiert werden, die für Interventionen notwendig sind, z. B. personale Kompetenzen: „Ich glaube, es gibt auch einige Kollegen, die […] es sich nicht zutrauen, […] dafür auch keinen Kopf haben, […] denen wirklich der Mut fehlt“ (L03). Andere wünschen sich „Weiterbildung für die Lehrer“ (L05). Diese sollten, nach Aussage der Interviewten, fachliche Kompetenzen zur Bewertung von Hatespeech und zu Reaktionsformen vermitteln: „Wie erkennt man […] so eine Hatespeech? Wie behandelt man das auch mit den Betroffenen?“ (S03). Teilnahmen an Weiterbildungen werden ebenso genannt: „Wenn man eine Pflicht hätte und die Lehrkräfte dafür freigestellt würden, dann gäbe es ja zumindest mal eine Chance […], dass irgendetwas Neues reinkommt und sie sich die Zeit dafür nehmen müssen und können. Das ist ja alles irgendwie zusätzliche Belastung, sich fortzubilden“ (S05). Gleichzeitig ist Verständnis dafür vorhanden, dass Weiterbildungen eine zusätzliche Anforderung für die Lehrkräfte darstellen. Andere Interviewte wünschen, dass dies bereits Teil der Ausbildung des Schulpersonals sein sollte: „[…] dass alle, die in Schule arbeiten, von vornherein auch schon so ausgebildet werden“ (S02). Zudem postulieren Interviewte den Wunsch nach Kriterien, anhand derer sie entscheiden können, wie sie reagieren sollten: „[…] ich hätte gerne so einen Kriterienkatalog. […] ab wann sind bestimmte Sachen für mich meldepflichtig. […] . Und dann bräuchte ich eigentlich auch noch einen Katalog, welche Maßnahmen sind zu ergreifen“ (L13). Aussagen wie diese, in denen mehr Orientierung für angemessene Interventionen gewünscht wird, können auf Unsicherheiten zurückgeführt werden, können aber auch als Externalisierung von Verantwortung interpretiert werden (siehe Stufe drei).

Zusammenfassend kann angenommen werden, dass das Schulpersonal in einigen Situationen nicht über die notwendigen personalen oder fachlichen Kompetenzen verfügt, um angemessen einzugreifen. Einige der Interviewten wünschten sich explizit Kriterien zur Orientierung.

5.5 Bewusste Entscheidung über Hilfeverhalten treffen

Personen, die Hatespeech als allgegenwärtiges Phänomen wahrnehmen, berichten, dass es kaum möglich ist, bei jedem Vorfall einzugreifen: „Da sind wir wieder bei dem Problem der Allgegenwärtigkeit. Wenn man jede Beleidigung auf dem Schulhof oder im Klassenraum sanktionieren würde, würde man zu gar nichts mehr kommen“ (S05), oder: „[…] wenn ich bei jeder Form von Beleidigung oder vermeintlichem Schlechtmachen von irgendwelchen Gruppierungen dazwischen gehe, dann hätte ich keine Zeit mehr am Tag“ (S09). Daher muss das Schulpersonal bewerten, ob es sich um einen Vorfall handelt, der den Aufwand einer Intervention wert ist: „Und deshalb versucht jeder einzuschätzen, was es wert ist, oder bei welcher Beleidigung man einschreiten muss. Und das ist natürlich eine Einschätzung, die irgendwie immer in Sekunden passieren muss, während man etwas anderes zu tun hat und unter Zeitdruck ist“ (S05).

Das Schulpersonal muss viele unterschiedliche Anforderungen bewältigen (Umgang mit Konflikten, Unterricht, Dokumentation etc.), sodass darin ein Grund für das Ausbleiben von Interventionen liegen kann. Bei fehlenden Kapazitäten scheint aus Gründen des gesundheitlichen Selbstschutzes keine Intervention zu erfolgen: „Wenn wir kaputt aus’m Unterricht rauskommen, noch eine Aufsicht machen, selber nicht zu Pausen kommen. Dann […] entwickeln viel mehr Menschen […] dieses Wegschauen.“ (L04). Dies zeigt, dass auch Pädagog:innen, die sich der Verantwortung bewusst sind, Situationen ignorieren, die ein Eingreifen erfordern. Dabei muss auch der Zeitaufwand, der mit Interventionen einhergeht (z. B. bei Einzelgesprächen) kostenseitig berücksichtigt werden. Eine Person berichtet über Interventionen, wenn in Messenger-Gruppen der Klasse Hatespeech auftritt: „Aber so viele Gespräche kann man ja irgendwann nicht mehr führen. Irgendwann muss man ja auch mal im Unterricht sein“ (L03). Diese Aussage zeigt auch, dass speziell Lehrkräfte an ihre regulären Aufgaben gebunden sind.

Ein:e Sozialarbeiter:in berichtet weiter: „Es ist klar, dass das dann nicht immer funktioniert, bei den richtigen Sachen einzuschreiten. Ich glaube, da wird dann vieles zu einem Grundrauschen, und es werden nur die ganz heftigen Sachen dann bemerkt und sanktioniert“ (S05). Die Person vermutet, dass die Schwere eines Hatespeech-Vorfalls entscheidend dafür ist, ob interveniert wird (womöglich auch, weil ein Nicht-Eingreifen gar bestraft werden könnte). Zudem könnten, sofern die Interpretation als Hatespeech nicht eindeutig ist, Kosten für eine Intervention gespart werden. Auch geringe Erfolge bei vergangenen Interventionen können den prognostizierten Nutzen von Interventionen im Allgemeinen verringern, wie die folgende Aussage zeigt: „[…] es wird eigentlich schon bearbeitet, aber eine Stunde später passiert das Gleiche wieder. Also wir beobachten einfach, dass es den Schülern schwerfällt, das irgendwie zu verinnerlichen“ (L09). Der wahrgenommene Nutzen kann auch dann als gering eingeschätzt werden, wenn den Beteiligten sozial-emotionale Bedarfe zugeschrieben werden: „[…] also wenn Kinder grundsätzlich Probleme mit so Affektkontrolle und so haben, dann verinnerlichen die solche Gespräche eher wenig“ (S02). Dies könnte dazu führen, dass Schüler:innen, die wiederholt Hatespeech ausüben, relativ betrachtet, seltener das Ziel von Interventionsmaßnahmen sind.

Zusammenfassend steht die Aufgabenfülle im Schulalltag einer Intervention aus zwei Gründen entgegen: Erstens wird die Intervention als Belastung wahrgenommen, v. a. da als notwendig erachtete Ressourcen fehlen, und zweitens ist der Nutzen nicht garantiert, sodass das Eingreifen vom prognostizierten Interventionserfolg bedingt wird, abhängig von der konkreten Handlung und den Beteiligten.

6 Diskussion

6.1 Zusammenfassung der Ergebnisse

Basierend auf dem Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten untersuchte die vorliegende Studie, welche Hindernisse hinsichtlich der Interventionsbereitschaft des pädagogischen Schulpersonals bei Hatespeech-Vorfällen in der Schule identifiziert werden können (siehe Abb. 1). Die Erkenntnisse schließen an frühere Forschungen zu verwandten Phänomenen an. Es konnte gezeigt werden, dass ausbleibende Interventionen mit Herausforderungen in der Wahrnehmung von Hatespeech (Stufe 1) verbunden sein können. Eine mögliche Erklärung ist, dass Schüler:innen Hatespeech dann ausüben, wenn das Schulpersonal den Vorfall nicht wahrnehmen kann, um Interventionen, z. B. Bestrafungen, aktiv zu vermeiden. Auch scheinen Vorfälle nicht bemerkt zu werden, wenn die Ablenkung (z. B. durch die Anwesenheit vieler anderer Schüler:innen bzw. deren gleichzeitig stattfindendes Kommunikationsgeschehen) hoch ist. Ein solcher Mangel an Informationen hat naheliegenderweise das gänzliche Ausbleiben einer Intervention zur Folge. Im Online-Raum scheint die Wahrnehmung der Vorfälle besonders schwierig. Ähnliche Erkenntnisse sind bereits aus der Mobbingforschung bekannt (Eldridge und Jenkins 2020). Ein weiteres spezifisches Problem der Wahrnehmung von Hatespeech-Vorfällen ist, dass z. T. kein Opfer erkennbar ist, da Hatespeech sich gegen soziale Gruppen richtet und individuelle Zugehörigkeiten nicht immer bekannt oder ersichtlich sind.

Abb. 1
figure 1

Die Stufen des Entscheidungsmodells für Hilfeverhalten (Latané und Darley 1970), Gründe für ausbleibende Interventionen des pädagogischen Schulpersonals bei Hatespeech-Vorfällen, Implikationen für die Praxis; eigene Darstellung

Darüber hinaus wurde Hatespeech nicht immer als problematisches Phänomen, das Konsequenzen nach sich ziehen sollte, bewertet (Stufe 2). Als Gründe wurden vom Schulpersonal die schwierige Unterscheidbarkeit zwischen rohen Sprachnormen und tatsächlicher Hatespeech problematisiert und parallel die fehlende Sensibilität bzw. das fehlende Hatespeech-Wissen genannt. Bei Mobbing konnte bereits gezeigt werden, dass eine höhere Sensibilität für das Leid der Betroffenen eine Intervention wahrscheinlicher macht (Blain-Arcaro et al. 2012). Desensibilisierungseffekte, die durch häufige Konfrontation mit Hatespeech einsetzen (Soral et al. 2018), können auch in einigen Aussagen der Lehrkräfte als wirksam gedeutet werden. Zudem scheint die Schwere eines Hatespeech-Vorfalls, ähnlich wie bei Cybermobbing (Obermaier et al. 2016), die Interventionsnotwendigkeit zu verdeutlichen.

Gleichzeitig steigt mit der Schwere eines Vorfalls auch das Verantwortungsbewusstsein (Obermaier et al. 2016), wobei diese bei Hatespeech in Abgrenzung zu jugendlichen Sprachnormen nicht immer klar erkennbar ist (Stufe 3). Auf der anderen Seite kann auch eine Verantwortungsdiffusion Grund für ausbleibendes Eingreifen sein, insbesondere wenn Verantwortung an die Eltern (v. a. bei Online-Hatespeech) oder an Sozialarbeiter:innen in der Schule delegiert wurde. Zwar wurde die Verantwortlichkeit für Interventionen von verschiedenen Interviewten aus der beruflichen Rolle abgeleitet und als professionelle Anforderung interpretiert. Die Verantwortungsübernahme bei einem Vorfall scheint jedoch vom Schulbezug abzuhängen und ist insbesondere online diffus. Das Teilen der Verantwortung kann auch ein Potenzial sein, wenn multiperspektivische Möglichkeiten freigesetzt werden, z. B. Interventionen unter Einbezug anderer Schulakteure oder der Eltern (Krause et al. 2023), wodurch auch individuelle Unsicherheiten reduziert werden können.

Die Daten deuteten an, dass ein gering ausgeprägtes Kompetenzempfinden des Schulpersonals angemessenes Interventionshandeln bei Hatespeech hemmen kann (Stufe 4). Dies schließt an bestehende Erkenntnisse zum Kompetenzempfinden bzw. zur Selbstwirksamkeitserwartung an, sowohl bei Mobbing als auch bei unziviler Online-Kommunikation (S.M. Fischer et al. 2020; Jost et al. 2020). Bei Online-Hatespeech kann, ähnlich wie bei Cybermobbing (Eldridge und Jenkins 2020), speziell Wissen und Training fehlen. Im Datenmaterial konnten Berichte gefunden werden, in denen sich Befragte Fortbildungen wünschen, um sich Wissen über geeignete Reaktionsweisen anzueignen.

Auf Ebene der bewussten Entscheidung über Hilfeverhalten (Stufe 5) berichteten die Befragten von Zeitdruck und den vielen anderen Aufgaben im Schulalltag, die einer Intervention entgegenstünden (bzw. auch die Qualität einer Intervention beeinflussen). Das Schulpersonal wägt vor einer Intervention solche Kosten gegenüber einem möglichen Nutzen (z. B. den Anforderungen als Lehrkraft/Schule zu entsprechen) ab. Auch aus der Forschung zu verwandten Phänomenen ist bekannt, dass vielzählige andere Anforderungen ein Eingreifen hemmen (Dovidio et al. 2017; P. Fischer et al. 2013; Mishna et al. 2006). Weiterhin deutet sich in den Daten teils auch Resignation an, die aufgrund ausbleibender Interventionserfolge entstehen kann, sodass die betroffenen Fachkräfte nicht (mehr) bereit waren, Zeit für erneute Interventionen in ähnlichen Situationen aufzuwenden. Chancen auf Anerkennung für erfolgreiches Interventionshandeln können nutzenseitig die Interventionsbereitschaft erhöhen (Jost et al. 2020).

Das Entscheidungsmodell für Hilfeverhalten scheint zur Erklärung für ausbleibende Interventionen bei Hatespeech-Vorfällen in der Schule gut geeignet zu sein, da sich in den qualitativen Daten alle Stufen des kognitiven Prozesses abbilden lassen.

6.2 Implikationen für die Praxis

Aus den Erkenntnissen lassen sich Implikationen für eine Verbesserung der Interventionsbereitschaft und des Interventionshandels bei Hatespeech in der Schulpraxis ableiten. Eine gute, vertrauensvolle Beziehung zwischen Schüler:innen und den pädagogischen Fachkräften kann dazu beitragen, dass Heranwachsende sich den Pädagog:innen bei Hatespeech-Vorfällen anvertrauen, wodurch die Wahrnehmung des Problems erst möglich wird (Stufe 1). Um die Sensibilität für Hatespeech und das Problembewusstsein zur Einordnung als interventionswürdiges Ereignis (Stufe 2) zu stärken, könnten Aufklärungsprogramme zu Hatespeech angeboten werden, die sich z. T. explizit gewünscht wurden. Dabei können Diskriminierungsmechanismen und negative Folgen für Beteiligte und Gesellschaft thematisiert werden. Auch Präventionsprogramme für Schüler:innen (z. B. das Programm „HateLess“) können Lerneffekte für Lehrkräfte nach sich ziehen (Wachs et al. 2023). Spezialisierte Weiterbildungsangebote, die auf die reproduzierende Wirkung problematischer Normen, besonders bei fehlender Anwendung und Durchsetzung erwünschter Normen durch das Schulpersonal, eingehen, könnten zudem dazu beitragen, das Verantwortungsbewusstsein zu stärken (Stufe 3). Auch Verweise auf die Verantwortung im Rahmen der beruflichen Rolle können diese nochmals verdeutlichen. Zudem kann das Potenzial multiperspektivischer Teams aktiviert werden (um z. B. Verantwortungsdiffusion entgegenzuwirken), indem diese, ggf. auch unter Beteiligung von Schüler:innen, gebildet werden. Hinsichtlich der benötigten Kompetenzen (Stufe 4) erklärten einige Befragte, dass sie klar definierte Interventionsmethoden/Interventionstrainings hilfreich fänden. Auch die Vermittlung von Wissen über Reaktionsweisen, z. B. durch Weiterbildungen, wurde als mögliche Verbesserung der Interventionsbereitschaft genannt. Dies könnte nötige Kompetenzen (etwa zu Interventionsstrategien und Unterstützungsmöglichkeiten) vermitteln und die Selbstwirksamkeit erhöhen. Im Hinblick auf das Treffen einer bewussten Entscheidung über das Hilfeverhalten (Stufe 5) wird der Ausbau zeitlicher und personeller Ressourcen genannt, um Kapazitäten für angemessene Interventionen zu erweitern. Auch Entlastungsmöglichkeiten könnten angestrebt werden, z. B. durch strukturelle Anpassungen im Schulalltag und den Ausbau von Schulsozialarbeit. Zeitkontingente im Schulalltag könnten umverteilt werden, etwa durch die Stärkung von Präventionsarbeit gegenüber dem Lehrplan, wodurch die Verbreitung von Hatespeech schon vorab reduziert werden kann und so die akkumulierten Kosten (Zeit, Aufwand, etc.) für Interventionen im Schulalltag verringert werden. Neben der Schulsozialarbeit können auch anderen Personen innerhalb der Schule (z. B. Schulleitung, Eltern) und außerhalb (z. B. externe Anbieter von Trainings) herangezogen werden. Auch Chancen auf Anerkennung könnten im Schulbetrieb gestärkt werden.

6.3 Limitationen und weitere Forschung

Hinsichtlich der vorliegenden Studie sind gewisse Limitationen zu nennen. Möglich ist, dass zusätzliche Interviews weitere Faktoren und Spezifika zutage gefördert hätten. Diese Einschränkung ergibt sich auch durch behördliche Auflagen, die ein induktiveres Sampling verhindern. Dem konnte durch gezielte Kontrastierung des Samples (purposeful Sampling) und der Möglichkeit, nachträglich eine Fallauswahl treffen zu können, begegnet werden. Die deduktive Anbindung an ein etabliertes Modell bringt Einschränkungen mit sich, bietet jedoch Anschlussfähigkeit an bisherige Forschung und eine fundierte Strukturierung der Daten. Weiterhin wird das Modell üblicherweise genutzt, um den Abwägungsprozess einer Person zu beschreiben, während die herangezogenen Interviewdaten von verschiedenen Personen stammen. Berichte des Schulpersonals über eigenes Handeln sind selbstreferenziell. Durch die Auswertung von Schüler:innen-Daten konnte dieser Limitation begegnet werden. Außerdem muss angemerkt werden, dass die Wahrnehmung und Bewertung von Hatespeech sowie die Berichte darüber subjektiv und selektiv sind.

Zukünftige Studien könnten (ausbleibende) Interventionen bei Hatespeech in der Schule vertieft untersuchen, um das komplexe Zusammenspiel der Wahrnehmung des Vorfalls, der Bestimmung eines Handlungsziels, kognitiver Abwägungsprozesse sowie der Handlung weiter zu ergründen. Quantitativ ließe sich prüfen, wie die Selbstwirksamkeitserwartung der Lehrkräfte und deren Interventionsbereitschaft zusammenhängt. Ähnliches könnte auch in Bezug auf die Einschätzung als interventionswürdiges Ereignis und die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme geprüft werden. Auch die Verknüpfung von kognitiven Wahrnehmungs- bzw. Diagnoseprozessen und der Interventionshandlung könnte vertieft untersucht werden und z. B. mögliche Beurteilungs- und Attributionsfehler aufdecken, die zu ausbleibenden Interventionen führen können. Darüber hinaus könnten Untersuchungen zu den Ursachen, die das Schulpersonal im Hinblick auf Hatespeech zuschreibt, das Verständnis ihrer Interventionen erweitern.

7 Fazit

Mithilfe der vorliegenden Studie konnten Gründe für ausbleibende Interventionen durch das pädagogische Schulpersonal entlang der fünf Stufen des Entscheidungsmodells für Hilfeverhalten aufgedeckt werden. Dazu wurden episodische Interviews mit pädagogischem Schulpersonal und Schüler:innen an sieben Schulen in Berlin und Brandenburg geführt und ausgewertet. Die Daten deuten an, dass Hatespeech-Vorfälle vielfach in Abwesenheit des pädagogischen Schulpersonals stattfinden, sodass diese sie nicht wahrnehmen können, teilweise aber auch durch die Parallelität vieler anderer Reize im Schulalltag unbemerkt bleiben. Bemerken die Fachkräfte einen Hatespeech-Vorfall, können Unsicherheiten in der Interpretation als interventionswürdiges Ereignis, diffuse Verantwortlichkeiten und mangelnde Kompetenzüberzeugungen für ausbleibende Interventionen ursächlich sein. Auch Zeitdruck und andere Anforderungen im Schulbetrieb stehen einer Intervention entgegen. Zudem wurden die Ergebnisse dem Forschungsstand zu verwandten Phänomenen gegenübergestellt und Überschneidungen und Unterschiede beschrieben. Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass bei Hatespeech soziale Gruppen adressiert werden und nicht etwa, wie bei Mobbing, einzelne Personen betroffen sind. Auf Basis der Ergebnisse können Bedarfe für Aufklärungs- und Weiterbildungsangebote abgeleitet werden, u. a. zum Phänomen Hatespeech selbst, zur Verantwortlichkeit des Schulpersonals und zu Strategien und Möglichkeiten des Interventionshandelns. Zudem wird nochmals deutlich, dass das pädagogische Schulpersonal im Schulalltag die nötigen Ressourcen und zeitlichen Kapazitäten zur Verfügung haben muss, um adäquat intervenieren zu können. Zukünftige Forschung sollte die komplexen kognitiven Prozesse vor einer möglichen Interventionshandlung weiter ergründen, um weitere Einflussfaktoren und Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Interpretation und Interventionshandlung aufzudecken.