1 Einleitung

Jeden Tag wählen Redaktionen aus einer riesigen Zahl von Stellungnahmen, sozialen und natürlichen Ereignissen jene aus, denen sie zutrauen, auf Interesse bei den Rezipient:innen zu stoßen und damit Aufmerksamkeit zu wecken. Das Wissenschaftsressort der FAZ wählte in der zweiten Januarwoche 2021 zum Beispiel eine neue Studie aus der Fachzeitschrift Physical Review Letters aus, in der es um die Potenziale der Quantenkryptographie ging. Die Welt berichtete aus Anlass einer Veröffentlichung in Nature Astronomy über die Entdeckung einer Galaxie in einigen Milliarden Lichtjahren Entfernung, die keine neuen Sterne mehr hervorbringt. Der Tagesspiegel wiederum thematisierte die Evolution der „Hundeartigen“. Anlass war eine Studie in Nature, in der das Ergebnis einer paläogenetischen Untersuchung des ausgestorbenen „Schattenwolfs“ publiziert wurde. Denselben Anlass griff zeitgleich auch die Süddeutsche Zeitung auf.

Solche einzelnen redaktionellen Auswahlentscheidungen untersucht die vorliegende Studie. Wir fragen danach, wie viele dieser Entscheidungen „kongruent“ getroffen werden, d. h. wie viele Anlässe (wie die Studie über Quantenkryptographie) nur von einem, wie viele übereinstimmend von zwei, wie viele von drei und weiteren Medientiteln ausgewählt werden.Footnote 1 Wir wollen den „externen Effekt“ dieser individuellen Auswahlhandlungen freilegen, ein nicht intendiertes soziales Phänomen, das aus der Aggregation der Handlungen resultiert (vgl. Fengler und Ruß-Mohl 2008, S. 678–679; Reinemann und Huismann 2007, S. 477). Die Ausprägung dieses externen Effekts ist zwischen den Extrempolen totale Fokussierung (alle Redaktionen wählen näherungsweise zeitgleich dieselben Anlässe) und extreme Fragmentierung (jede Redaktion wählt andere Anlässe) angesiedelt.

Mit dieser Studienanlage werden zwei Ziele verfolgt, ein inhaltliches und ein methodisches: Erstens wollen wir ermitteln, ob das redaktionelle Auswahlhandeln speziell in Wissenschaftsressorts inkongruenter ist als in anderen Ressorts und wie das zu erklären ist. Zweitens interessiert uns, ob die journalistische Auswahl von Berichterstattungsanlässen einem spezifischen Verteilungsgesetz folgt und wie sich diese Gesetzmäßigkeit nutzen lässt, um Wandlungsprozesse im Journalismus zu beschreiben.

Inspiriert ist dieses Erkenntnisinteresse davon, dass die Verteilung kongruenter Auswahlentscheidungen ein Merkmal von öffentlichkeitstheoretisch herausragender Bedeutung ist. Beim Agenda-Setting und der Meinungsforschung ist ein Mindestmaß kongruenter Berichterstattung eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Wirkungen von Massenkommunikation – nur, was von vielen gemeinschaftlich rezipiert wird, kann auch gesellschaftliche Effekte auslösen (vgl. Eilders 2004, S. 196). Beim Inter-Media-Agenda-Setting, Agenda Building, den Nachrichtenwerten und auch beim Gatekeeping ist Kongruenz das Ergebnis verschiedener, besonders sozialer Einflussfaktoren, namentlich Interaktionen mit anderen Journalist:innen, Quellen oder Rezipient:innen. Die kongruente Auswahl bestimmter Themen und Anlässe wurde darüber hinaus vereinzelt als Kriterium der Auswahl- und Bewertungskompetenz des Journalismus interpretiert (vgl. Haller 2003) sowie als Indikator für Vielfalt bzw. Fragmentierung (vgl. Rössler 2007, S. 470–472).

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Im ersten wollen wir den theoretischen Rahmen der Untersuchung skizzieren, den hier gewählten Ansatz in den Forschungsstand zur Kongruenz journalistischer Auswahlentscheidungen einbetten und Hypothesen ableiten. Im zweiten werden wir unser methodisches Vorgehen erläutern und im dritten unsere Ergebnisse vorstellen, die wir im vierten Abschnitt diskutieren.

2 Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand

2.1 Die Logik der Situation journalistischen Auswahlhandelns

Theoretisch fassen wir die Auswahl konkreter Anlässe als individuelles Entscheidungsproblem von Journalist:innen (vgl. Donsbach 2004), dessen Komplexität aus drei miteinander verwobenen Dimensionen erwächst, der Sach‑, Zeit- und Sozialdimension. Diese drei Dimensionen bilden zusammen die Logik der (Auswahl‑)Situation im Sinne Hartmut Essers (vgl. Esser 1999, S. 94–96). Damit gemeint sind die Randbedingungen, die das Selektionshandeln journalistischer Akteur:innen kennzeichnen. Diese Randbedingungen skizzieren wir im Folgenden mit Schwerpunkt auf dem Wissenschaftsressort, da nur so plausible Vorschläge unterbreitet werden können, wie die Verteilung der Auswahlkongruenz speziell in Wissenschaftsressorts zu erklären ist.

2.1.1 Sachliche Einflüsse auf die Nachrichtenauswahl

In der Sachdimension erwächst Komplexität aus dem Umstand, dass Unkenntnis über die Zahl verfügbarer Optionen herrscht. Dies gilt besonders für die Auswahl von wissenschaftlichen Anlässen. Wissenschaftsjournalist:innen sehen sich einer enormen Fülle von potenziellen Anlässen gegenüber. Treiber dieser Fülle ist die wachsende Zahl wissenschaftlicher Resultate (vgl. Bornmann und Mutz 2015; Laakso et al. 2011) und die wachsende Zahl von Pressemitteilungen durch Wissenschaftsorganisationen und wissenschaftliche Zeitschriften (vgl. Autzen 2014; Serong et al. 2017).

Darüber hinaus wirkt die Hyperspezialität wissenschaftlicher Anlässe komplexitätssteigernd (vgl. Scheufele 2013, S. 14041), was besonders für Studienergebnisse gilt. Ein:e Journalist:in, die mit der Auswahl relevanter wissenschaftlicher Ergebnisse befasst ist, muss das, worum es in diesen Ergebnissen geht, ansatzweise verstehen, um die gesellschaftliche Tragweite oder lebensweltliche Relevanz einschätzen zu können (vgl. Lehmkuhl 2019b, S. 208–209). Aus der Hyperspezialität einzelner Befunde ergibt sich zudem das Problem, dass diese Ergebnisse für sich genommen häufig gesellschaftlich irrelevant sind, da sich die Bedeutung entweder erst durch die Berücksichtigung weiterer Ergebnisse erschließt oder/und ins Ungewisse zukünftig zu erwartender Ergebnisse verlagert ist.

Zudem wirken Zweifel an der Integrität der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion in der Sachdimension wahrscheinlich komplexitätssteigernd. Diese Komplexitätssteigerung lässt sich nur unter Vorbehalt annehmen, weil nur eine Einzelstudie aus Spanien vorliegt, die die Relevanz des Problems in Wissenschaftsredaktionen nahelegt (vgl. Cortiñas-Rovira et al. 2015).

2.1.2 Zeitliche Einflüsse auf die Nachrichtenauswahl

In zeitlicher Hinsicht erhöht der Umstand, dass eine journalistische Selektionsentscheidung in nachrichtlichen Formaten schnell getroffen werden muss, die Komplexität. Es ist anzunehmen, dass der zeitliche Druck unter den Bedingungen eines Verlustes von Reichweiten etablierter Anbieter, des Wegfalls von Anzeigenerlösen und der insgesamt wirtschaftlich prekären Lage relevanter Online- und Offline-Medien im Zeitverlauf gestiegen ist (vgl. Kiefer 2005; Lobigs 2017Footnote 2).

Forschungen deuten darauf hin, dass es auch im Wissenschaftsjournalismus zu einer Beschleunigung der Abläufe gekommen ist, auch aufgrund technischer Fortschritte bei der Distribution wissenschaftlicher Ergebnisse (vgl. Amend und Secko 2012, S. 263–264; Granado 2011, S. 806–808).

2.1.3 Soziale Einflüsse auf die Nachrichtenauswahl

Die Sozialdimension beinhaltet den Einfluss Dritter auf das individuelle Entscheidungshandeln im Journalismus. Drei Interaktionskontexte erzeugen in ihrem spezifischen Zusammenwirken in der Sozialdimension Komplexität:

Erstens die Interaktionen mit anderen Journalist:innen: Die Auswahl eines Anlasses durch eine Redaktion muss sich im Lichte der Entscheidungen aller anderen (als relevant erachteten) Redaktionen bewähren. Selektierende Journalist:innen müssen sich fragen, ob andere Journalist:innen dieselbe Auswahlentscheidung treffen (vgl. Reinemann 2008). Dahinter steht zum einen die Befürchtung, dass von Konkurrenzmedien als wichtig erachtete und öffentlich resonanzfähige Ereignisse „verpasst“ werden könnten. Zum anderen kann aber die Auswahlentscheidung von Konkurrenzmedien auch dazu führen, dass eine schon getroffene Auswahlentscheidung revidiert wird, wenn Exklusivität angestrebt ist.

Nur wenige Arbeiten haben die Relevanz der Kolleg:innenorientierung im Wissenschaftsjournalismus untersucht. Die wenigen vorhandenen Beobachtungs- und Befragungsstudien deuten jedoch darauf hin, dass auch hier eine Art „grenzüberschreitend geknüpftes Netzwerk wechselseitiger Beobachtungen“ (Brüggemann 2012, S. 84) existiert (vgl. bspw. Lehmkuhl und Peters 2016; Vicari 2007). So nannten Wissenschaftsjournalist:innen, die nach ihren wichtigsten Quellen für Themen befragt wurden, neben wissenschaftlichen Fachzeitschriften auch journalistische Titel wie den New Scientist, BBC News oder die New York Times (vgl. Granado 2011, S. 801).

Zweitens die Interaktion mit den Quellen: Die Bedeutung des Journalismus dürfte aus Sicht seiner wissenschaftlichen Quellen in den zurückliegenden 25 Jahren angestiegen sein (vgl. Lehmkuhl 2019a, S. 304–307; Schäfer 2011, S. 402). Eine wichtige Ursache ist die so genannte neue Governance der Wissenschaft (vgl. Grande et al. 2013), also der partielle Rückzug des Staates aus der Detailsteuerung der Wissenschaft zugunsten einer projekt- oder programmförmig organisierten, an konkreten Zielen orientierten Steuerung. Diese politisch initiierte Wettbewerbsorientierung gilt als Motor der Medialisierung der Wissenschaft, weil insbesondere der Qualitätsjournalismus aus Sicht der Wissenschaft bedeutsamer wird, um die Relevanz des eigenen Tuns gegenüber politischen Eliten zu unterstreichen (vgl. Marcinkowski et al. 2013; Peters et al. 2015). Das wirkt sich nicht nur auf die Zahl der Pressemitteilungen und die Zahl von „embargoed news“ der Wissenschaftsverlage aus (vgl. Autzen 2014; Kiernan 2016; Serong et al. 2017; Vogler und Schäfer 2020), sondern auch auf den „Spin“ in diesen Mitteilungen. Input-Output-Studien zeigen, dass ein erheblicher Anteil von Pressemitteilungen aus dem biomedizinischen Bereich die Aussagekraft und Relevanz von Studien übertreibt, um Resonanz im Journalismus zu erzeugen (vgl. Brechman et al. 2009; Sumner et al. 2014, 2016).

Drittens schließlich die Interaktion mit den Rezipient:innen: Ein relevanter Koordinationsmechanismus der Auswahlhandlungen von Journalist:innen und Rezipient:innen ist die Orientierung an Merkmalen, die sich den Dimensionen „Deviance“ und „Significance“ zurechnen lassen. Deviance bezieht sich auf unübliche Ereignisse, die von Normen oder dem Normalzustand abweichen, Significance auf Auswirkungen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche oder auch eine möglichst große Zahl Betroffener (vgl. Shoemaker und Cohen 2012, S. 7–15). Diese Nachrichtenfaktoren begründen in je spezifischer Kombination die Relevanz eines Ereignisses oder Themas für Journalist:innen und Rezipient:innen in ähnlicher Weise (vgl. Eilders 1997, 2016, S. 12–16; Maier et al. 2018, S. 26–28).

Die Orientierung an diesen Dimensionen ist mindestens aus Sicht der Journalist:innen auch im Wissenschaftsjournalismus als Koordinationsmechanismus wirksam (vgl. Blöbaum 2017, S. 230; Schäfer 2011, S. 404), um die Bindung an ein Publikum sicherzustellen. Die spezifischen Faktoren, die im Wissenschaftsjournalismus bedeutsam sind, dürften sich jedoch von denen im Politikjournalismus unterscheiden (vgl. Amend und Secko 2012, S. 262; Badenschier und Wormer 2012, S. 59).

Es ist anzunehmen, dass die Koordinierung der Auswahlhandlungen von Journalismus und Rezipient:innen in den letzten Jahren erheblich komplexer geworden ist (vgl. Dunwoody 2014, S. 35–37; Neuberger et al. 2019, S. 1260). Die Interaktion des Journalismus mit seinem Publikum kann als Kontrollverlust des Journalismus modelliert werden. Er beschleunigt sich durch eine Vervielfältigung des nicht-journalistischen Angebots und die insbesondere technische Ertüchtigung des vormals passiven Publikums zum aktiven Produzenten öffentlicher Botschaften (vgl. Chan-Olmsted und Wang Rang 2019; Jenkins und Deuze 2008, S. 8–9). Mit diesem Kontrollverlust schwindet die Bindung des (Wissenschafts‑)Journalismus an ein Publikum hinreichender Größe (vgl. Brossard und Scheufele 2013; Schäfer 2017, S. 283–284).

Entsprechend kommen neben ereignis-, themen- und produktbezogenen Merkmalen verstärkt auch Nutzer:innen- bzw. Nutzungsmerkmale als Faktoren in Betracht, um Selektionen insbesondere des Online-Journalismus anzuleiten (vgl. Anderson 2011; Vu 2013). Es spricht einiges dafür, dass gerade Selektionsentscheidungen im Wissenschaftsjournalismus in starkem Maße von Publikumsvorlieben beeinflusst sind. Während die Themenselektion in der Politik überformt ist von normativen, demokratietheoretisch begründeten Ansprüchen, gilt das für den Wissenschaftsjournalismus allenfalls bedingt. Zudem dürfte die relativ große Attraktivität wissenschaftlicher Inhalte für höher gebildete und besser verdienende Publikumssegmente eine Orientierung an deren Vorlieben begünstigen (vgl. Dogruel und Beck 2017, S. 136–137).

Zusammengefasst lassen die sachlichen, zeitlichen und sozialen Einflüsse auf die Nachrichtenauswahl vermuten, dass eine kongruente Auswahl von wissenschaftlichen Anlässen unwahrscheinlich ist.

2.2 Empirische Verteilung der Anlassselektion

Nachdem die Logik der Auswahlsituation von Journalist:innen skizziert wurde, wenden wir uns im Folgenden dem Forschungsstand zu, der sich mit den externen Effekten befasst, die aus diesen Randbedingungen resultieren. Wie eingangs beschrieben, verstehen wir unter „externen Effekten“ soziale Phänomene, die aus der Aggregation der Handlungen individueller Akteur:innen entstehen (vgl. auch Reinemann und Baugut 2016, S. 316–317), in unserem Fall aus den Entscheidungshandlungen von Journalist:innen.

Gestützt vor allem auf zwei eigene Vorstudien und vier Arbeiten von Patrick Rössler (2000, 2002, 2003a, 2003b) gehen wir davon aus, dass die Aggregation von individuellen Anlassselektionen immer zu einer linksschiefen Verteilung führt. Das bedeutet, dass sehr viele Anlässe nur von einzelnen Medien ausgewählt werden und sehr wenige Anlässe von vielen Medien kongruent ausgewählt werden. Abstrakt formuliert besteht die Charakteristik dieser Verteilung darin, dass die exponentielle Abnahme einer Größe y (in unserem Fall: die Zahl der kongruent ausgewählten Anlässe) in sehr regelmäßiger Relation steht zur linearen Zunahme einer Größe x (in unserem Fall: der Anzahl der auswählenden Medientitel bzw. die Kongruenzstufe) (vgl. Newman 2005).

In unseren Vorstudien, die sich auf die Verbreitung von Studienergebnissen in mehreren tausend Online-Medientiteln weltweit beziehen, nahm die Wahrscheinlichkeit einer kongruenten Auswahl von Studienergebnissen mit jedem weiteren Medientitel um den Faktor von etwa 1/n3,4 ab (vgl. Kohler et al. 2020; Lehmkuhl und Promies 2020). Auf ein kleines Sample von fünf Medientiteln und 115 unterschiedlichen Anlässen übertragen, würde das bedeuten, dass etwa 100 Anlässe exklusiv nur von einem Medientitel aufgegriffen werden, 11 von zwei (100/23,4), 3 von drei Medientiteln (100/33,4) und einer von vier Medientiteln. Eine kongruente Auswahl eines Anlasses durch alle fünf Medientitel wäre diesen Befunden zufolge sehr unwahrscheinlich. Rössler hat sich in vier Untersuchungen (2000, 2002, 2003a, 2003b) mit der Anlassauswahl von Politikredaktionen beschäftigt. Auf Basis seiner Ergebnisse ergibt sich für den politischen Journalismus ein Faktor von näherungsweise 1/n1,8. Bei fünf Medientiteln und 100 exklusiven Anlässen werden 29 Anlässe von zwei Titeln aufgegriffen, 14 Anlässe von drei, acht Anlässe von vier und immerhin noch fünf von allen fünf Medientiteln.

Ein besonders interessantes Merkmal der Verteilung ist ihre Skaleninvarianz (vgl. Newman 2005, S. 334–335). Die Verteilung bleibt immer gleich, unabhängig davon, wie viele Medientitel untersucht werden. Darauf deuten mindestens die Befunde Rösslers. Er stellte in zwei miteinander verknüpften Erhebungen der Politikberichterstattung entgegen seiner Erwartung fest, dass der Anteil der exklusiven Anlässe auch dann annähernd konstant blieb, wenn man die Zahl der untersuchten Medientitel von 15 auf 27 erhöhte (vgl. Rössler 2003b). Dies lässt sich plausibel dadurch erklären, dass die Zahl möglicher Anlässe so groß ist, dass auch die Vergrößerung der Zahl der Medientitel den Anteil exklusiver Anlässe nicht vergrößert.

Von Rössler unbemerkt blieb ein weiteres Indiz für die Skaleninvarianz der Verteilung. Ob er nun sieben nationale TV-Nachrichtensendungen untersuchte oder die Politikteile von 15 oder 27 nationalen Tageszeitungstiteln – in allen Fällen nahm der Anteil der Anlässe, die kongruent ausgewählt wurden, mit jedem weiteren Medientitel um näherungsweise 1/n1,8 ab. Das heißt: Stellt man die Verteilungskurven auf einer gleich langen x‑Achse mit 7, 15 und 27 Einheiten dar, dann liegen die Kurven aller drei Analysen ziemlich genau übereinander.Footnote 3

2.3 Hypothesen und Forschungsfragen

Aufgrund der vorgestellten Befunde formulieren wir:

H1a

Die Zahl der Anlässe, die durch Wissenschaftsredaktionen fünf deutscher Tageszeitungen kongruent ausgewählt werden, nimmt mit jedem Medientitel regelmäßig um einen Faktor von ungefähr 1/n3,4 ab.

H1b

Die Zahl der Anlässe, die von Politikredaktionen fünf deutscher Tageszeitungen kongruent ausgewählt werden, folgt einer ähnlichen Verteilung.


Der Vergleich der Befunde von Rössler mit denen aus unseren Vorstudien lässt vermuten, dass Wissenschaftsressorts inkongruenter auswählen als insbesondere die Politikressorts. Das skizzierte Einflussgefüge sorgt also in geringerem Maße dafür, dass sich Medienaufmerksamkeit auf einen kleinen Kern von wichtigen Anlässen konzentriert. Deshalb formulieren wir:

H2

Die Verteilungskurve der kongruenten Auswahl fällt in Wissenschaftsressorts deutscher Tageszeitungen steiler ab als in Politikressorts.


Darüber hinaus wollen wir die folgenden Forschungsfragen untersuchen:

RQ1

Wie ist die Kongruenz der Auswahl im Vermischten, in Wirtschafts‑, Kultur- und Medienressorts sowie bei Kommentaren und bei den Aufmachern verteilt?

RQ2

Welches Verhältnis besteht zwischen der Kongruenz der Auswahl und dem Umfang der Berichterstattung?

3 Methode

Das Ziel der Analyse besteht darin, die Kongruenz der Anlassauswahl verschiedener Ressorts anhand eines kleinen nationalen Mediensamples von fünf Tageszeitungen zu vergleichen. Es soll also bestimmt werden, wie viele Anlässe von den verschiedenen Ressorts dieser Zeitungen exklusiv aufgegriffen wurden und wie viele von zwei, drei usw.. Dazu sind wir nach dem Vorbild von Rössler (2003b) zweistufig vorgegangen.

Im ersten Schritt erfolgte eine Vollerhebung aller Artikel der fünf regionalen und überregionalen Titel Stuttgarter Zeitung, Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung, Die Welt und Frankfurter Allgemeine Zeitung, die im ersten Buch bzw. dem ersten Bund, in der Wirtschaft, dem Vermischten, der Kultur sowie auf den Medien- und Wissenschaftsseiten veröffentlicht worden sind. Bei der Auswahl der Medientitel handelt es sich um eine bewusste Auswahl typischer Fälle, die begründungspflichtig ist (vgl. Früh 2017, S. 98–99). Da die Verteilung kongruenten Auswahlhandelns eines sehr großen Mediensamples in einem sehr kleinen Sample reproduziert werden sollte, erschien es angesichts der kleinen Zahl von nur fünf Medientiteln geboten, möglichst ähnliche Titel auszuwählen, da ansonsten das Risiko bestanden hätte, dass kaum Kongruenz auftritt.

Ähnlichkeit bezieht sich dabei auf Kriterien wie Reichweite und inhaltliches Profil, aber auch darauf, dass alle Titel Wissenschaftsressorts unterhalten, die für einen oder mehrere periodisch erscheinende Teile der Zeitung verantwortlich zeichnen. Darüber hinaus ähneln sich diese Zeitungen auch bezogen auf die über die Wissenschaftsredaktionen hinausgehende Ressortstruktur. Ein weiteres wichtiges Kriterium war die Vergleichbarkeit mit anderen Studien. Die überregionalen Titel waren bereits Teil ähnlicher Untersuchungsanlagen (vgl. Eilders 2004; Rössler 2003b), was Vergleiche mit den Ergebnissen dieser Studien ermöglicht. Neben diesen inhaltlichen Kriterien haben auch forschungsökonomische Gründe einfacher Verfügbarkeit insbesondere bei der Wahl der Regionaltitel eine Rolle gespielt.

Der Untersuchungszeitraum umfasste (a) eine Woche im Juni 2018 (18.06.–23.06.) und (b) zwei Wochen im Februar/März 2019 (18.02.–02.03.)Footnote 4. In beiden Untersuchungszeiträumen haben wir die gesamte Berichterstattung auf den Wissenschaftsseiten sowie die im ersten Buch der Zeitungen erfasst (ausgenommen das Vermischte). Nur im ersten Untersuchungszeitraum haben wir die Kongruenz der Anlassselektionen in den Ressorts Kultur, Wirtschaft, Vermischtes sowie Medien bestimmt. Es wurden 18 Ausgaben von jedem der fünf Zeitungstitel analysiert (90 Ausgaben), bezogen auf die klassischen Ressorts und die Medienseite je sechs Ausgaben einer Woche (30 Ausgaben). Das ergab einen Textkorpus von 4112 Artikeln.

Sechs Codierer:innen bestimmten neben formalen Merkmalen wie Erscheinungstag oder Text- und Bildgröße das Themenfeld, zu dem der Artikel gehörte (Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Lebenswelt). Darüber hinaus wurde der konkrete Anlass eines Artikels in Stichworten ausformuliert sowie formal kategorisiert. Unterschieden wurden Ereignisse, Stellungnahmen und kalenderaktuelles Geschehen, wie etwa Jahrestage. Im zweiten Schritt haben wir den Datensatz wieder nach dem Vorbild von Rössler (2003b) so transformiert, dass nicht der Artikel, sondern der konkrete Anlass die Untersuchungseinheit bildete. Dazu wurden in mehreren Gruppensitzungen die Listen mit der stichwortartigen Bezeichnung der Anlässe abgeglichen und fortlaufend nummeriert. So ließ sich induktiv ermitteln, welche Anlässe von mehreren Zeitungen aufgegriffen wurden. Artikel, deren Anlässe nicht eindeutig identifizierbar waren, wurden als „nicht erkennbar“ klassifiziert.

Auf diese Weise haben wir 2521 unterschiedliche Anlässe ermittelt, die zusammen die gut 4000 Artikel veranlasst haben. Im Unterschied zu Rössler, der nur jene Anlässe als kongruent wertete, die Artikel desselben Tages veranlasst haben, beträgt der Synchronisationszeitraum in dieser Erhebung eine Woche bzw. zwei Wochen. Wenn ein Anlass von einem Medientitel am Montag aufgegriffen wurde, in einer anderen aber erst am Dienstag oder am Freitag, galt das als kongruente Auswahl.

Zur Überprüfung der Reliabilität der Codierung diente ein Zufallssample von 34 Artikeln. Die Reliabilität wurde durch die Berechnung des Koeffizienten Krippendorffs alpha ermittelt. Hier gelten Reliabilitätswerte von mindestens 0,667 als akzeptabel (vgl. Krippendorff 2004, S. 241). Die Variablen erreichten mit einer Ausnahme Werte oberhalb von 0,68. Unterhalb dieser Schwelle blieb trotz zweimaliger Nachschulung die formale Typisierung der konkreten Anlässe, also ob es sich etwa um eine Stellungnahme oder ein Ereignis handelt. Die unbefriedigende Reliabilität wirkt sich aber nur auf die deskriptive Beschreibung der Anlassstruktur aus, nicht auf die eigentliche Identifizierung kongruenter Anlässe. Diese Identifizierung wurde wie beschrieben auf die konkrete Benennung der Anlässe durch die Codierer:innen gestützt, nicht auf die formale Codierung der Anlässe.

4 Ergebnisse

4.1 Deskriptive Befunde

Bevor wir auf die Hypothesen eingehen, werden rein deskriptiv Einsichten vorgestellt, die das Verständnis der Befunde erleichtern. Der Umfang der Berichterstattung beim Tagesspiegel, der Welt und der Stuttgarter Zeitung unterscheidet sich relativ deutlich von dem der SZ und der FAZ. Die drei erstgenannten Titel veröffentlichten in den beiden Untersuchungszeiträumen zwischen 600 und 700 Artikel, während die SZ und die FAZ auf 1000 bzw. 1200 Artikel kamen. Wie Abb. 1 zeigt, kommt dieser Unterschied vor allem durch die umfangreichere Politik‑, Kultur- und, im Falle der FAZ, durch die deutlich umfangreichere Wirtschaftsberichterstattung zustande. Der Umfang der Wissenschaftsberichterstattung ist dagegen bei allen Zeitungen außer dem Tagesspiegel annähernd gleich. Dieser veröffentlichte im Untersuchungszeitraum annähernd doppelt so viele Artikel wie die vier übrigen Titel, was darauf zurückzuführen ist, dass diese Zeitung Wissenschaft und Bildung auf ihren Ressortseiten vereint. Die übrigen Titel unterhalten eigene Hochschulseiten, die nicht erfasst worden sind.

Abb. 1
figure 1

Zahl der Artikel nach Ressorts (N = 4112; *Erhoben wurde nur die Berichterstattung in der Woche zwischen dem 18. und 24.06.2019)

Im Vergleich der Anlasstypen nach Ressorts fällt auf, dass Berichte auf Wissensseiten vergleichsweise selten durch Stellungsnahmen veranlasst werden und vergleichsweise häufig durch kalenderaktuelles Geschehen, also durch Jahrestage und dergleichen (s. Abb. 2). Davon abgesehen dominieren bei den Wissensressorts wie bei allen anderen ereignisbezogene Anlässe, wobei speziell die Wissensressorts eher selten latent aktuelle Ereignisse aufgreifen. Als latent aktuell wurden Ereignisse codiert, die länger als einen Tag zurückliegen. Dies kann als Folge der durch das Embargo der wissenschaftlichen Zeitschriften zeitlich synchronisierten Berichterstattung über Studienergebnisse interpretiert werden (vgl. Kiernan 2003).

Abb. 2
figure 2

Anteile der Anlasstypen nach Ressorts (N = 4112; *Erhoben wurde nur die Berichterstattung in der Woche zwischen dem 18. und 24.06.2019)

4.2 Kongruenz im Wissenschaftsressort

Nach der Deskription wenden wir uns nun der hypothesengeleiteten Analyse zu. In den fünf Zeitungstiteln erschienen in den beiden Untersuchungszeiträumen im Sommer 2018 und Winter 2019 auf den Wissenschaftsseiten 279 Artikel, die durch 252 unterschiedliche Ereignisse oder Stellungnahmen veranlasst worden sind (s. Abb. 3). 92,1 % der Anlässe wurden exklusiv nur von einem der Medientitel aufgegriffen, sieben Anlässe von drei Titeln. Anlässe, die von vier oder allen fünf Titeln auf den Wissenschaftsseiten aufgegriffen wurden, kamen in den beiden Untersuchungszeiträumen nicht vor. Die Verteilungskurve fällt um den Faktor 1/n3,3 ab. Das Bestimmtheitsmaß der Verteilungskurve beträgt R2 = 0,96.

Abb. 3
figure 3

Verteilung der kongruenten Auswahl von Anlässen auf Wissensseiten von fünf nationalen Tageszeitungen (N = 252) im Vergleich zur Auswahl im ersten Buch/Bund (ausgenommen Vermischtes und Meinung) (N = 970) in Prozent

Die Verteilungskurve fällt damit nahezu um den gleichen Faktor wie in unseren Vorstudien zur Kongruenz der Auswahl von Studienergebnissen (vgl. Lehmkuhl und Promies 2020). Damit kann Hypothese 1a bestätigt werden. Wir haben darüber hinaus untersucht, ob sich der Umfang der Berichterstattung abhängig davon unterscheidet, wie kongruent ausgewählt wurde. Als Maß haben wir den durchschnittlichen Textumfang in Zeichen gewählt und die durchschnittliche Differenz zwischen der Zahl der Medientitel, die einen Anlass aufgreifen, und der Zahl der Artikel, die publiziert wurden. Beides deutet darauf hin, dass es in Wissenschaftsressorts keinen Zusammenhang gibt zwischen der Kongruenz der Auswahl und dem Umfang der Berichterstattung.

4.3 Kongruenz im Politikressort

H1b und H2 können ebenfalls bestätigt werden. Im ersten Buch der Medientitel wurden von den 970 Anlässen in den beiden Untersuchungszeiträumen 698 (72 %) exklusiv von nur einem Medientitel aufgegriffen, 27 der Anlässe (2,8 %) von allen fünf Medientiteln (s. Abb. 3). Auch diese Verteilungskurve fällt sehr regelmäßig ab, und zwar um den Faktor 1/n2,1. Das Bestimmtheitsmaß der Verteilung beträgt R2 = 0,99. Die Verteilung fällt deutlich flacher ab als in den Wissenschaftsressorts.

Damit haben wir die etwa 20 Jahre alten Befunde von Rössler (2002, 2003b) grundsätzlich reproduziert. Allerdings fällt unsere Kurve verglichen mit der von Rössler etwas steiler ab, was darauf hindeutet, dass die Kongruenz der Auswahl von Anlässen des allgemeinen Zeitgeschehens im Verlauf der zurückliegenden 20 Jahre abgenommen haben dürfte. Dabei haben wir verglichen mit Rössler einen „großzügigeren“ Synchronisationszeitraum von einer Woche bzw. zwei Wochen (anstelle eines Tages) gewählt, was eigentlich zu einem höheren Kongruenzwert hätte führen müssen.

Darüber hinaus zeigt sich wie bei Rössler (2002, 2003b) und anders als in den Wissenschaftsressorts eine spiegelbildliche Beziehung zwischen der Anlasskongruenz und dem Umfang der Berichterstattung. Sie steigt mit jeder Kongruenzstufe (= Anzahl der Medientitel) annähernd exponentiell an. Je kongruenter ein Anlass aufgegriffen wird, desto häufiger kommt es vor, dass er mehr als einen Artikel pro Medientitel auslöst. Über die total kongruenten Anlässe haben durchschnittlich drei der Zeitungstitel mehr als einen Artikel verfasst. Betrachtet man den zweiten Indikator, die Textlänge in Zeichen, dann ergibt sich ab der Kongruenzstufe 2 ein linearer Zusammenhang zwischen der Kongruenz der Auswahl und dem Umfang der Berichterstattung. Mit jeder Stufe nimmt der Umfang um durchschnittlich 1000 Zeichen zu.

4.4 Kongruenz in den übrigen Ressorts

Abschließend wollen wir auf die Kongruenz der Auswahl in den anderen Ressorts eingehen (s. Abb. 4). Wirtschaft, Kultur und Vermischtes weisen verglichen mit der Auswahl im ersten Buch eine leicht niedrigere Kongruenz auf, die Verteilungskurve fällt in diesen Ressorts um etwa 1/n2,3 ab (R2 > 0,96). Beim Aufmacher und bei den Kommentaren beträgt der Exponent 2,5 (R2 > 0,94), d. h. die Kongruenz der Kommentare und die der Aufmacher fällt nochmals etwas steiler ab als im ersten Buch und den klassischen Ressorts. Die Unterschiede zwischen den genannten Ressorts und Genres sind aber so gering, dass wir sie in Abb. 4 zusammengefasst präsentieren.

Abb. 4
figure 4

Verteilung der kongruenten Auswahl in Wirtschafts- und Kulturressorts, im Vermischten sowie bei Kommentaren und Aufmachern (N = 1201) im Vergleich zu der in Medienressorts in Prozent (N = 105)

Sehr inkongruent dagegen ist die Auswahl in den Medienressorts. Sie ist mit der der Wissenschaftsressorts vergleichbar: Über 90 % der Anlässe werden nur in einem einzigen Titel genutzt, die Verteilungskurve fällt in den Medienressorts um 1/n3,5 (R2 = 0,95).

Der Zusammenhang zwischen der Kongruenz der Auswahl und dem Umfang der Berichterstattung ist in der Kultur und der Wirtschaft feststellbar, nicht jedoch im Vermischten und auf den Medienseiten.

5 Diskussion

Wir haben in dieser Studie zwei Ziele miteinander verflochten, ein vorrangig methodisches und ein inhaltliches. In methodisch-technischer Hinsicht zielte unsere Analyse darauf, die Verteilung der Anlassselektivität unterschiedlicher Ressorts zu identifizieren und formalisiert zu beschreiben. In diesem Zusammenhang ist der Befund von großer Bedeutung, dass diese Verteilungen skaleninvariant zu sein scheinen. Der Vergleich mit der Verteilung der Auswahl von Studienergebnissen macht deutlich, dass der Exponent der kongruenten Auswahlentscheidungen in Wissenschaftsressorts bei nur fünf Medientiteln fast genau dem entspricht, der für mehrere tausend Medientitel ermittelt worden ist (vgl. Lehmkuhl und Promies 2020). Demnach haben wir begründeten Anlass für die Vermutung, dass sich schon mit einem sehr kleinen Sample verallgemeinerbare Aussagen zur Verteilung der Anlasskongruenz treffen lassen. Diese Vermutung muss aber durch systematische, größer angelegte Analysen ähnlichen Zuschnitts weiter überprüft werden.

Dies erscheint wegen des Potenzials, das dem Indikator beizumessen ist, lohnend. Dieses Potenzial für die komparative Journalismusforschung lässt sich erstens durch den Vergleich unserer Ergebnisse zur Selektivität der Politikressorts mit denen von Rössler (2003b) veranschaulichen. Wenn wir Skaleninvarianz annehmen, dann zeigt der Vergleich, dass Politikressorts heute inkongruenter auswählen als noch vor gut 20 Jahren, dass sich also der Kernbestand von Ereignissen von allgemeiner Relevanz leicht verringert hat. Zweitens lässt er sich durch den aktuellen Vergleich der Selektivität insbesondere von Politik- und Wissenschaftsressorts veranschaulichen. Die Ergebnisse weisen einen deutlichen Unterschied aus, der mit Blick auf das Einflussgefüge, das auf diese beiden „Journalismen“ wirkt, interpretierbar ist.

Nimmt man Orientierungsansprüche (vgl. McQuail 2010, S. 91; Rössler 2002, S. 151; Vlasic 2004, S. 89) zum Maßstab einer qualitativen Interpretation der Auswahl von Wissenschaftsressort, dann sind diese Redaktionen verglichen mit Politikredaktionen deutlich schlechter in der Lage, das öffentliche Interesse auf einen Kernbestand von wichtigen Ereignissen zu lenken.

Das Geflecht von Einflüssen, die für die zufällige Auswahl konkreter Anlässe durch Wissenschaftsjournalist:innen erklärungskräftig sind, wurde im ersten Teil skizziert. Wir wollen an dieser Stelle nur die aus unserer Sicht besonders wichtigen Faktoren nennen: In sachlicher Hinsicht dürfte neben ihrer großen Vielzahl die Spezialität der Anlässe ein Grund sein für die vergleichsweise inkongruente Auswahl. Einzelne naturwissenschaftliche Studienergebnisse zum Beispiel sind so speziell, dass die Aussagekraft praktisch nie über einen sehr eng limitierten Bereich hinausgeht. Entsprechend gering ist in der Regel die gesellschaftliche Relevanz einzelner Befunde.

Ein weiterer Ansatzpunkt für eine plausible Erklärung sind soziale Einflüsse. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Zeitschriften oder einzelnen Forschungsorganisationen, eine Vielzahl selbst individueller Wissenschaftler:innen wetteifert um die Aufmerksamkeit von Journalist:innen. Die daraus resultierende Flut von Mitteilungen lässt sich anders als im Politik- oder Wirtschaftsjournalismus nur schwer etwa mit Quellenhierarchien strukturieren. Zwar gibt es eine ausgeprägte Quellenpräferenz bezogen auf wissenschaftliche Zeitschriften (vgl. Schäfer 2011, S. 404), trotzdem wählen Wissenschaftsjournalist:innen Anlässe abhängig vom Aufmerksamkeitswert eines Ergebnisses aus einer sehr großen Zahl von Fachzeitschriften aus, deren Zugänglichkeit sich insbesondere dank EurekAlert! stark verbessert hat (vgl. Kiernan 2016). Zusammengenommen wird eine fokussiertere Auswahl durch eine ins Amorphe tendierende Quellenlage erschwert.

Darüber hinaus gibt es weitere soziale Einflüsse, wie etwa eine negative Kolleg:innenorientierung oder auch Besonderheiten der Publikumsbindung gerade des Wissenschaftsjournalismus, die die exklusive Auswahl begünstigen dürften. Hierzu liegen noch keine nennenswerten Forschungen vor, auf denen aufgebaut werden könnte, nicht zuletzt deshalb, weil die arbiträre Auswahl durch Wissenschaftsressorts zumindest bisher in der „Science of Science Communication“ kein Thema war.

Wir wollen abschließend Beschränkungen des verwendeten methodischen Zugriffs erörtern. Zunächst ergeben sich Limitationen durch eine Beschränkung auf zwei Untersuchungszeiträume. Daraus erwächst Unsicherheit, weil wir zufällig Untersuchungszeiträume gewählt haben könnten, in denen die Kongruenz der Auswahl besonders niedrig war. Dafür gibt es einen Anhaltspunkt. Das Science Media Center Deutschland veröffentlicht wöchentlich Ergebnisse eines Mediamonitorings deutschsprachiger Medientitel (vgl. Science Media Center 2019). Darin werden Anlässe genannt, die in der zurückliegenden Woche von mindestens fünf Titeln mit eigenen Berichten (ausgenommen Agenturberichten) aufgegriffen worden sind. Meistens werden ein bis drei Anlässe identifiziert, in einer Woche unseres Untersuchungszeitraums im Februar 2019 aber ausnahmsweise kein einziger. Deshalb ist es denkbar, dass durch die Wahl des Untersuchungszeitraums das Ausmaß der Kongruenz im deutschen Wissenschaftsjournalismus unterschätzt wird. Zu einer Überschätzung der Kongruenz könnte dagegen die Auswahl ähnlicher Medientitel geführt haben. Bei einer repräsentativen Stichprobe von Zeitungen könnte die Kongruenz in den verschiedenen Ressorts noch geringer ausfallen.

Auch die Wahl von konkreten Anlässen als Einheit für die Kongruenzbestimmung sorgt dafür, dass eine unter Umständen deutlich höhere Themenkongruenz verdeckt bleibt. Dies ist ganz besonders da relevant, wo dimensionsreiche Debatten mit großer Publizität wie in unserem Sample etwa der Streit zwischen CDU und CSU über Asylrechtsfragen sehr viele unterschiedliche Anlässe schaffen, so dass zwei Titel zwar je exklusiv einen konkreten Anlass aufgreifen, beide aber thematisch zum Asylrechtsstreit gehören. Einer prinzipiell wahrscheinlichen starken Dominanz einzelner Großthemen (vgl. Smyrnaios et al. 2010) wird durch die Konzentration auf konkrete Anlässe als Untersuchungseinheit nicht angemessen Rechnung getragen.

6 Fazit

Festzuhalten bleibt, dass wir den begründeten Verdacht hegen, dass die Journalismusforschung mit dem Exponenten linksschiefer Verteilungen einen Indikator in Händen hält, mit dem sich Wandlungen der Selektivität im Journalismus hochaggregiert beschreiben lassen. Sein Potenzial für die komparative Forschung ist evident, das gilt insbesondere für die Beschreibung sehr langfristiger Entwicklungen. Ansatzpunkte gibt es aber beispielsweise auch bei der vergleichenden Analyse der Selektivität von traditionellen und Online-Medien.