1 Einleitung

Die Rolle sozialen Erinnerns für die Alltagspraxis staatlicher Organisationen, jenseits aller Unterstellungen bürokratischer Rationalität und Verfahrenslegitimität, wurde bisher noch zu wenig beleuchtet. Als staatliche Organisation unterliegt das Ordnungsamt, das im Zentrum dieser Analyse steht, nicht nur rationalen bürokratischen Routinen. Vielmehr muss die kommunale Ordnungs- und Sicherheitsverwaltung auch als soziale Praxis untersucht werden, bei deren Vollzug die Beteiligten auf Grundlage von als geteilt unterstellten, teilweise verkörperten Wissensbeständen sich fortwährend wechselseitig koordinieren und legitimieren. Bei Kontrollen ordnungswidrigen Parkens ergeben sich immer wieder Konfliktsituationen, wenn Verkehrsteilnehmer:innen der Sanktion durch einen Strafzettel zu entgehen versuchen. Im Zuge dessen werden relevante Merkmale des vorliegenden Vorwurfs interaktional rekonstruiert und Vergleichbarkeiten mit anderen, vergangenen sozialen Situationen hergestellt. Dabei werden Wissensbestände aufgerufen und als geteilt unterstellt sowie auf verschiedene Weise in die Situation eingebracht.

Der ethnographische BeitragFootnote 1 fokussiert sich auf Prozesse des Erinnerns erst kürzlich zurückliegender Ereignisse und wie diese interaktiv rekonstruiert werden. Ziel ist, Dimensionen interaktional verhandelter Zeitlichkeiten, aber auch Normativitäten sozialen Erinnerns im Alltag eines Ordnungsamtes herauszuarbeiten. Der Beitrag strukturiert sich wie folgt: Im ersten Teil werden sozialtheoretische Perspektiven auf das soziale Erinnern des Alltäglichen und auf das institutionelle Erinnern als Organisationskompetenz entwickelt. Darauf aufbauend werden zweitens die ethnographische Forschung und die Analyseverfahren kurz erläutert und offengelegt. Drittens, erfolgt dann die Analyse der ethnografischen Daten. Hier werden zunächst Ereignisse rekonstruiert, die kurz vor – aber außerhalb – der Interaktion selbst liegen. Die Untersuchung behördlicher Kontrollen zeigt, wie systematische, professionell-institutionelle Verfahren des Rekonstruierens aufgebaut sind und wie diese in Interviews mit Amtsmitarbeiter:innen thematisiert werden. Aus den teilnehmenden Beobachtungen werden anschließend die, in den Interaktionen zwischen Amts- und Zivilpersonen entstehenden Normativitätsebenen und Legitimationsformen näher beleuchtet. Das Fazit schließt mit den wichtigsten Erkenntnissen zum erinnerungstheoretischen und praxeologischen Verhältnis ab, insbesondere im Hinblick darauf, auf welche Weisen Fragmente alltäglichen Geschehens zu Episoden geteilter, kollektiver Erinnerung in nuce transformiert werden.

2 Soziales Erinnern des Alltäglichen

Soziales Erinnern ist ein soziologisches Schlüsselkonzept, das erklären kann, auf welche Ressourcen sich gesellschaftliche Akteure bei der Herstellung, Wahrnehmung und Interpretation ihrer sozialen Realität stützen und so soziale Ordnung generieren. Einschlägige Forschungen zu sozialem Erinnern fokussieren auf längere Zeitspannen, wenn sie soziale (Halbwachs 1967) sowie kulturelle und kommunikative Gedächtnisse (Assmann 1988, 1996) in den Blick nehmenFootnote 2. Relevante Beiträge sozialwissenschaftlicher Gedächtnisforschungen stellen diskursive, sich verfestigende und objektivierende Vergangenheitsbezüge heraus, die – u. a. durch gesellschaftliche Strukturen vermittelt – und als Erfahrungen einer sich dadurch konstituierenden Gruppe oder von Kollektiven geteilt werden (Mannheim 1928; Halbwachs 1967; Welzer 2001; Gukelberger und Meyer 2023). Darauf aufbauend konzentriert sich dieser Beitrag auf Prozesse des Erinnerns erst kürzlich zurückliegender Ereignisse und wie diese auch im Verhältnis zu den diskursiven Vergangenheitsbezügen stehen. Dabei spielt insbesondere das Alltagsgedächtnis eine Rolle, welches nach Assmann auch als kommunikatives Gedächtnis bezeichnet werden kann: Als „jene Spielarten des kollektiven Gedächtnisses, […] die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen“ (Assmann 1988, S. 9 f.).

Soziales Erinnern im Alltag, das innerhalb der Interaktion stattfindet, wurde sehr viel weniger intensiv erforscht: Das Konstanzer Projekt über rekonstruktive Gattungen in der Alltagskommunikation (Bergmann und Luckmann 1995) erhob die Erforschung informeller, nicht-narrativer, protologischer Formen des Rekonstruierens zum Programm. Aufgrund des Interesses an Gattungen – verfestigten Mustern der Kommunikation – bezog es sich empirisch auf Binnenstrukturen bereits geronnener, „proto-narrativer“ Muster (z. B. von Konversionserzählungen; Ulmer 1988) oder auf Wechselwirkungen zwischen den Binnen- und den Außenstrukturen kommunikativer Formate, in denen die Vergangenheit rekonstruiert wird (z. B. im Klatsch; Bergmann 1987). Spontane Rekonstruktionen des unmittelbar Vergangenen oder „Vergangenheitsrekonstruktionen ‚en passant‘“ wurden in diesem Zusammenhang in familiären Gesprächen analysiert (Keppler 1995). Im Alltag – im Gegensatz zu institutionalisierten Prozessen des Erinnerns und Reproduzierens eines „Kollektivgedächtnisses“ – werden Erinnerungen eher in Form kleiner, profaner Geschichten, oftmals fragmentarisch und mit verteilten Rollen, unterbrechenden Fragen und signifikanten Themenwechseln rekonstruiert (Keppler 1995, S. 186). Oft sind sie allen Beteiligten bereits bekannt und werden daher nur mittels kurzer Bemerkungen wachgerufen (Bergmann 2000).

Auf das, seitens der Ko-Partizipand:innen permanent mitlaufende Interaktionsgedächtnis – d. h. deren Kompetenz, die Partikularität der laufenden Interaktion fortlaufend in ihre Interpretation der Äußerungen einzubeziehen, – bezieht sich die Konversationsanalyse mit den Konzepten des „Glossierens“, des „(Re‑)Formulierens“ und der „Reparatur“, das Gesprächsinstanzen bezeichnet, in denen (evaluativ, summarisch, fokussierend, kritisch) auf das bislang erfolgte interaktionale Geschehen zurückgeblickt wird (Garfinkel und Sacks 1970; Schegloff 2000).

Insgesamt gesehen, erscheint es also bei der Untersuchung von Alltagspraktiken des sozialen Erinnerns erstens sinnvoll, zwischen einem situativen Erinnern der bisherigen gemeinsamen Interaktionsgeschichte (dem Interaktionsgedächtnis) und dem Erinnern von als geteilt unterstellten allgemeineren Wissensbeständen zu unterscheiden. Zweitens können sowohl vergangene Geschehnisse rekonstruiert werden, die allen Beteiligten bekannt sind, als auch Inhalte, die nur einer Person bekannt sind, bzw. von denen zunächst nicht bekannt ist, wer sie kennt. Charakteristisch ist, dass Formen alltäglicher Erinnerungsarbeit keiner formalisierten Systematik unterliegen, vielmehr zeichnen sie sich durch die interpretativen Prozesse des Aktualisierens der Interaktionsgedächtnisse und des geteilten Wissens der Ko-Partizipand:innen über die jeweils bisherige Interaktionsgeschichte aus (Goffman 1974, S. 566; Lewis 1979; Schegloff 1991). In den behördlichen Kontrollen, die im Fokus dieser Analyse stehen, treffen nun jene Alltagspraktiken des sozialen Erinnerns auf systematische, professionell-institutionelle Verfahren der Referenzarbeit. Daher soll im Folgenden das Spannungsverhältnis zwischen alltäglichem und institutionellem Erinnern theoretisch vertieft werden.

3 Institutionelles Erinnern als Organisationskompetenz

Die gemeinsame Verfertigung von Erinnerungen in der Interaktion ist ein gewöhnlicher Bestandteil menschlichen Zusammenlebens. Sie ereignet sich jedoch nicht nur im Privaten, sondern auch in Organisationen, was in diesem Beitrag im Fokus stehen soll.

Beiträge aus der Organisationsforschung zu professionalisierten Gedächtnissen beleuchten einerseits, wie Gedächtnisse als Speicher von Wissensbeständen in Organisationen übertragen und aufrechterhalten werden. Dabei dient ein organisationales Gedächtnis vor allem als ein beständiges Archiv, um Wissen zu überliefern (Mensching 2023, S. 154 f.). Andererseits richten sich weitere Forschungen auf die professionellen Akteur:innen und deren Umgang mit institutionalisierten Prozessen des Erinnerns (ebd.). In diesem Kontext verortet sich auch dieser Beitrag. Studien verdeutlichen, dass institutionelle Gedächtnisbezüge keine individuellen Erinnerungsleistungen sind, sondern vielmehr ein Systemerfordernis, um Kontrolle über wiederkehrende Ereignisse zu schaffen (Espositio 2002, S. 25). Institutionelle Gedächtnisbezüge äußern sich in kollektiven und routinierten Handlungspraktiken von Organisationsmitgliedern, die in ihrem Vollzug auf systematisierte Erinnerungen zurückgreifen (Mensching 2023, S. 158).

Soziales Erinnern innerhalb von Organisationen unterscheidet sich vor allem insofern vom Alltagserinnern, als dass behördliche Entscheidungsprozesse (z. B. die Gewährung einer amtlichen Leistung oder Verhängung einer Sanktion) systematisch nachvollziehbar sein und mit Dokumenten belegt werden müssen. Professionelle Mitglieder einer Organisation unterliegen daher einer gewissen systematischen Dokumentationspflicht. Dafür müssen diese für ihre vergangenen Entscheidungen z. B. in einem gegenwärtigen Interaktionsgeschehen mit Klient:innen oder Bürger:innen nachvollziehbare „Beweise“, die als Grundlage für ihre legitime Entscheidung dienten, darlegen und erinnern können (Mensching 2016, 2023). Dies setzt eine professionelle Form des Umgangs mit sozialen Erinnerungspraktiken in behördlichen Kontexten voraus. Gleichwohl lassen sich diese interaktiven Erinnerungspraktiken nicht mit standardisiertem, routiniertem Handeln im Sinne Webers (1972 [1922]) gleichsetzen.

Auf Basis einer ethnomethodologischen Sozialtheorie, lassen sich institutionelle Erinnerungspraktiken nicht unabhängig von alltäglichen Praktiken des Erinnern betrachten, denn sie konstituieren sich in der wechselseitigen Interaktion: Wie Garfinkel (1967a) herausgearbeitet hat, gehört es zur wechselseitigen Elaboration von Regel und Fall in der behördlichen Praxis, dass permanent wechselseitig fallspezifische Details von behördlichen Relevanzen und behördliche Prinzipien im Lichte der praktischen Kontingenzen des Tuns betrachtet werden. Durch diese Praxis konstituiert und reproduziert sich eine Organisation. Garfinkel hat diese wechselseitige Elaboration bekanntlich als Accountability bezeichnet. Sie bildet den Grund dafür, dass das behördliche Gedächtnis, etwa in Form von Akten, aus praktischen Gründen notwendig „indexikal“ – d. h. kontextuell, situativ und fortwährend vorläufig gestaltet – ist. Während sich behördliches, institutionelles kommunikatives Handeln an dieser wechselseitigen Elaboration von Fall und Regel orientiert und die Behörde so fortlaufend hervorbringt, unterliegt kommunikatives Handeln im Alltag keinen derartig formalisierten Systematik‑, Dokumentations- und Rechtfertigungszwängen. Beispielsweise zeigen die Forschungen von Stephan Wolff (2010) und Hermann Müller (1997) in Gerichten oder in psychiatrischen Praxen, wie Professionelle mit widerständigen Alltagspraktiken des Erinnerns ihrer Klient:innen oder Patient:innen professionell und distanziert umgehen müssen.

In Anlehnung an Garfinkels Verständnis von sozialer Ordnung und den ethnomethodologischen Studies of Work (Bergmann 2006) stellt dieser Beitrag die Differenz zwischen formulierten behördlichen Normen und Regeln und den tatsächlichen Handlungen der Akteur:innen in den Fokus: Verwaltungshandeln ist insofern stets als soziale Praxis zu begreifen, da in Momenten der Interaktion – oder gar des Konflikts – Professionelle und Alltagsakteure im Wechselspiel Vergangenheitsbezüge herstellen.

Um die interaktiven Erinnerungspraktiken in Organisationen zu erforschen, lohnt es sich, nicht nur die sprachlichen Komponenten zu berücksichtigen, sondern auch räumliche und örtliche Gegebenheiten, Materialitäten und technische Instrumente sowie verkörperte Arbeitspraktiken (embodied practices) mit einzubeziehen (Bergmann 2006, S. 395). Dies wird auch in der folgenden Analyse berücksichtigt: Im Unterschied zu Forschungen, die sich auf verfestigte Vergangenheitsbezüge, oder ausschließlich auf die Interaktionsgeschichte selbst beziehen, werden nun Ereignisse untersucht, die kurz vor – aber außerhalb – der Interaktion stattfinden. Im Folgenden soll analysiert werden, wie systematische Verfahren des Rekonstruierens aufgebaut sind und auf Alltagspraktiken sozialen Erinnerns treffen. In welchen unterschiedlichen Zeittiefen diese interaktional rekonstruiert werden, soll dabei ebenfalls in den Fokus dieser Analyse rücken.

4 Empirischer Fall und Methoden

Empirische Grundlage dieses Artikels sind Daten, die zwischen 2022 und 2023, während einer mehrmonatigen ethnographischen Feldforschung im Ordnungsamt einer deutschen Großstadt erhoben wurden. Dadurch kann eine Innenperspektive in den Interaktionsalltag eines Ordnungsamtes eröffnet werden. Insgesamt wurden über mehrere Monate hinweg teilnehmende Beobachtungen in verschiedenen Fachbereichen des Ordnungsamts durchgeführt. Dabei wurde zum einen die schriftliche Kommunikation nach außen (u. a. E‑Mails, Akten, Beschwerdemanagement) dokumentiert. Zum anderen wurden Einsätze und Kontrollgespräche auf der Straße begleitet sowie der informelle (Wissens‑)Austausch über Kontrollen, Einsatzbesprechungen, persönliche Wahrnehmungen und Herausforderungen – etwa in Pausen – dokumentiert. Ferner wurden mit einzelnen Personen und Kleingruppen 15 vertiefende Interviews durchgeführt. Der Auswahl der Interviewpartner:innen lag das Ziel zugrunde, möglichst viele unterschiedliche, mit den verschiedenen (Berufs‑)PositionenFootnote 3 zusammenhängende Perspektiven zu gewinnen. Persönliche und sensible Information wurden anonymisiert sowie Pseudonyme für Personen vergeben. Das Datenmaterial wurde auf Basis der ethnomethodologischen Interaktionsanalyse ausgewertet (Sacks 1984; Bergmann 1981).

5 Herstellung von Temporalität und Normativität in behördlichen Kontrollen

Im Folgenden werden anhand empirischer Beispiele die Erinnerungspraktiken am Beispiel von Parkraumkontrolleur:innen (PRKs) in den Blick genommen. Die PRKs haben die gesetzliche Aufgabe der Feststellung und Verfolgung von verkehrsrechtlichen Verstößen im ruhenden Verkehr. Dieser Analyse muss vorausgeschickt werden, dass sich bei der Kontrolle von hunderten Autos täglich die einzelnen Mitarbeiter:innen keineswegs an jedes von ihnen als ordnungswidrig geparkt dokumentierte Auto erinnern können. Gleichwohl sind die Mitarbeiter:innen aufgefordert, nicht sofort nach einer Kontrolle alle Informationen wieder zu vergessen. Diese Informationen sind von grundlegender Bedeutung, gerade wenn es zu einem schriftlichen Einspruch oder direkten Kontakt mit Bürger:innen kommt, die versuchen, sich der Sanktion zu widersetzen: Wie die begrenzte Menge an Informationen für diese kurze Zeitspanne systematisch gehalten und in die Interaktion eingebracht wird, soll Folgend aufgezeigt werden.

Aus rechtlicher Sicht definiert die Straßenverkehrsordnung ([StVO] § 12 (2)) „wer sein Fahrzeug verlässt oder länger als drei Minuten hält, der parkt“. Die rechtliche Grundlage ist somit sehr eindeutig: Wenn ein PKW ohne gültigen Parkschein länger als drei Minuten in einer Parkverbotszone steht, muss ein Strafzettel erteilt werden. Ist das Stehen des Wagens kürzer als drei Minuten, gilt es als Halten, für das andere Regeln gelten. Wird ein Parken durch die PRKs beobachtet, braucht es nur wenige Minuten, um die relevanten Informationen (Nummernschild des PKW, Straße, etc.) aufzunehmen und den Strafzettel am betroffenen Fahrzeug anzuheften. Für den Organisationsalltag der Ordnungshüter:innen spielen neben diesen rechtlichen Regelungen vor allem Konfliktsituationen eine Rolle, wenn das erst kürzlich zurückliegende Ereignis (z. B. Parken des Autos) konfliktiv in unterschiedlichen Zeittiefen erinnert wird. Im Folgenden werden einige Beispiele solcher Konflikte in ihrem je spezifischen Fallverlauf nachgezeichnet.

5.1 Professionell-institutionelle Erinnerungsarbeit

Die professionell-institutionelle Erinnerungsarbeit, bleibt kein rein individueller kognitiver Prozess (Kastl 2020). Um die gesammelten Informationen erinnern zu können, spielen technische Instrumente für die Kontrolle, Dokumentierung und Archivierung eine wichtige Rolle (Bergmann 2006, S. 395). Das Gerät zur „mobilen Datenerfassung“ (MDE-Gerät, Abb. 1a) dient dazu, ein ordnungswidrig parkendes Auto als Fall elektronisch zu erfassen und unmittelbar einen Strafzettel (Abb. 1b) auszudrucken. Von den Ordnungsamtmitarbeiter:innen wird es als Erinnerungshilfe verwendet.

Abb. 1
figure 1

a MDE-Gerät. b Strafzettel

Denn bei den Strafzetteln (Abb. 1b) zeigt sich eine Verschränkung von materiellen Zeichen (Kennzeichen, Straße, Datum) mit situativen Gegebenheiten, die durch die PRKs zusammengeführt werden müssen. Selbst bei der Uhrzeit wird keine genaue Angabe, sondern ein Beobachtungszeitraum erfasst, der sich im professionell-institutionellen Gedächtnis der PRKs registriert und auch auf dem offiziellen Strafzettel dokumentiert wird. Der Strafzettel dient darüber hinaus als schriftliches Beweismittel mit einem offiziellen Aktenzeichen, damit er sich nicht ohne weiteres wieder verändern oder rückgängig machen lässt. Eine Voraussetzung dafür ist, dass tatsächlich die örtliche Umgebung sorgfältig geprüft wird, bevor der Strafzettel ausgefertigt wird. Somit dient der Strafzettel im Fall eines Konflikts kurzzeitig oder auch langfristig nicht nur als legitimes Beweisstück, sondern auch als Erinnerungsbrücke für das amtliche Handeln der Ordnungsamtmitarbeiter:innen.

Zunächst wird anhand von Interviews mit zwei Parkraumkontrolleur:innen gezeigt, wie aus ihrer Sicht ein professionelles Erinnerungssystem über Fälle der Erfassung von Ordnungswidrigkeiten aufgebaut wirdFootnote 4. Sie bilden eine Vergleichsfolie für die Analyse der Erinnerungsprozesse in situ, die im Anschluss erfolgt (5.2). Ferner demonstrieren sie das Selbstverständnis der Mitarbeiter:innen des Ordnungsamts in Bezug auf ihre Professionalität und ihre Arbeit in und als Behörde.

5.1.1 Beispiel 1, Kontrolle eines PKW ohne Fahrschein, Fall F (Z. 1–15)Footnote 5

Parkraumkontrolleur F erzählt retrospektiv in einem Interview von einer Kontrollsituation.


figure b

PRK F beginnt nicht mit der Beschreibung des Konflikts, der eigentlicher Gegenstand des Interviews war, sondern mit einer Rekonstruktion seines Vorgehens, das in der präventiven Beweissicherung und damit der Herstellung einer unangreifbaren argumentativen Position bei einem möglichen Konflikt um die Rechtmäßigkeit des Strafzettels besteht.

Zunächst teilt F seine (1) Beobachtung der Umgebung im Interview mit: „Ich habe ihn beobachtet. Es waren zehn Minuten“ (Z. 1). Das Pronomen „ihn“ bezieht sich hier nicht auf eine Person, sondern auf das ohne gültigen Parkschein parkende Auto. Während eines Zeitraums von zehn statt der gesetzlich ausreichenden drei Minuten hat F die Straße und Umgebung des Autos also genauestens beobachtet, um sicher zu stellen, dass sich der Fahrzeughalter nicht in der Nähe des Autos oder des Parkscheinautomaten befindet (Z. 1).

Anschließend nimmt F auf eine (2) Zeitangabe Bezug, indem er festhält, wann der Strafzettel als dokumentierendes Beweisstück in Relation zur berichteten Beobachtungszeit ausgestellt wurde (Z. 1 f.). Danach begründet er sein Handeln ausführlich (Z. 3–10).

Noch bevor er mit dem Bericht der Interaktion mit dem PKW-Fahrer beginnt, schildert F, dass er eine dritte, potenziell problematische Variable geprüft hat, indem er auf (3) Materialität Bezug nimmt. Er berichtet, dass er die Motorhaube abgetastet habe (Z. 16), um sich zu vergewissern, dass der Motorraum nach dem Parken abgekühlt und der Wagen bereits über einen längeren Zeitraum geparkt ist. Auch hier wird eine Referenz zu Zeitlichkeit hergestellt. Die kalte Motorhaube, unter Berücksichtigung der Jahreszeit, ist ein Indiz dafür, dass der PKW schon über eine längere Zeit geparkt ist (Z. 17–18; Z. 22–23).

F berichtet als sein praktisches Arbeitsvorgehen, wie er die situativen und materiellen Gegebenheiten abarbeitet und dabei verschiedene Zeitlichkeitsreferenzen herstellt. Durch das Abarbeiten unterschiedlicher Variablen wie (1) örtliche Umgebung, (2) Zeitangaben und (3) Materialität etabliert er eine argumentativ vertretbare Version der situativen Gegebenheiten. Dies zeigt, wie ein professionelles Erinnerungssystem aufgebaut ist und als bürokratische Beweisaufnahme für die Amtspersonen dient. Wie nun Erinnerungsbezüge in Interaktionen relevant gemacht werden, zeigt die weitere rekonstruktive Schilderung des Fallverlaufs. Nachdem F seine Untersuchungen um und über das Auto beendet hat, erscheint, wie er berichtet, der Besitzer des PKWs und versucht sich der Sanktion zu widersetzen.

5.1.2 Beispiel 1, Kontrolle eines PKW ohne Parkschein, Fall F (Z. 26–42)

figure c

Ein Gespräch ergibt sich der Darstellung zufolge, da der Fahrzeughalter des sanktionierten PKWs angibt, gerade dabei gewesen zu sein, sich einen Parkschein zu holen (Z. 26). Damit stellt er die amtliche Handlung des Ordnungshüters in Frage, so dass in diesem Moment die verhängte Sanktion und die Aussage des PKW-Halters konträr zueinanderstehen.

Daraufhin aktiviert F Deutungsschemata, die in seinem professionell-institutionellen Gedächtnis gespeichert sind, um die von ihm verhängte Sanktion nun interaktiv zu legitimieren: Auf das Argument, dass der PKW-Halter gerade dabei gewesen sei, sich einen Parkschein zu holen (Z. 26), erwidert F, dass die Motorhaube des Wagens kalt sei, was beweise, dass er schon länger dort stehe (Z. 29). Hierauf verändert der PKW-Halter seine Argumentation und offenbart, dass er beim Frühstücken war und daher keinen Parkschein gezogen hat (Z. 32). Auch hier entgegnet F ihm mit einer Zeitlichkeitsreferenz, indem er darauf hinweist, dass ein Parkschein auch schon bereits um 7:00 Uhr hätte gezogen werden können (Z. 33).

Darauf macht der PKW-Fahrer sein Gewohnheitsrecht bzw. seine gewohnheitsmäßige Tätigkeit (Z. 34) geltend, jenseits der Tatsache, ob er ordnungswidrig parkt oder nicht. Hier stehen sich langfristiges Gewohnheitsrecht und punktuelle Sanktionsmacht des Ordnungsamtes gegenüber. Das angeführte Gewohnheitsrecht setzt sich nicht durch, denn F weist darauf hin, dass dies auch da bereits eine Ordnungswidrigkeit dargestellt habe und er nur durch Zufall nicht sanktioniert wurde (Z. 34). Die geleistete, systematische Dokumentationsarbeit eines professionell-institutionellen Gedächtnisses, wird erst im Kontrollgespräch interaktiv als Erinnerung relevant gemacht und zeigt sich als wichtiger praktischer Bestandteil des Organisationsalltags des Ordnungsamtes.

5.1.3 Beispiel 2, Kontrolle falschparkender Transporter, Fall K (Z. 1–14)

Eine ähnliche Kontrollpraxis zeigt sich hier im Interviewgespräch der PRK K, die von der Kontrolle eines Transporters berichtet.


figure d

K berichtet, dass sie zunächst die örtliche, räumliche Umgebung genaustens auf mögliche Bewegungen des Fahrzeughalters beobachtet, in ihrem Fall sogar für ganze 15 min (Z. 4). Darüber hinaus entscheidet sie sich dafür, zunächst ein anderes Auto aufzunehmen (Z. 7). Auch hier spielt erneut Materialität eine Rolle, da der Transporter aufgrund seiner Größe mehrere Male dahingehend inspiziert wird (Z. 10), dass kein Parkschein oder eine Sondergenehmigung ausliegt. Auch hier umfasst die Materialität zugleich eine Referenz zur Zeitlichkeit, da die Größe und Länge des Transporters bewirkt, dass K die Notwenigkeit sieht, den Transporter mehrere Male (Z. 10) abzulaufen und im Vergleich zu anderen Autos mehr Zeit für die Kontrolle aufwendet (Z. 7). Erst dann wird der Strafzettel ausgestellt, in dessen protokolliertem Teil Informationen längerfristig und endgültig archiviert werden. Ähnlich wie im Kontrollfall von F wird hier ersichtlich, wie Kontrolleurin K die situative Gegebenheit anhand verschiedener Variablen (Materialität, Umgebung) abarbeitet und dabei verschiedene Zeitlichkeitsreferenzen der situativen Gegebenheiten herstellt. Ein professionelles Erinnerungssystem ermöglicht die Dokumentations- und Referenzierungsarbeit von visuellen, zeitlichen und sozialen Eindrücken sowie materiellen Gegenebenheiten, die zur Bildung von bürokratischen Urteilen führen und später interaktiv geltend gemacht werden können. Wie K berichtet, ergibt sich auch in ihrem Fall ein Gespräch mit dem Halter des Fahrzeugs.

5.1.4 Beispiel 2, Kontrolle falschparkender Transporter, Fall K (Z. 14–26)

figure e

Folgt man der Erzählung von K, ergibt sich anders als im Fall von F, direkt eine angespannte Situation, da der Fahrzeughalter des Transporters K aggressiv begegnet (Z. 15): Obwohl es sich um ein Interview und daher um eine indirekte Wiedergabe der Aussage des Fahrzeughalters durch K handelt, wird durch die hohe Tonlage und den aggressiven Ton dennoch an die ursprüngliche Äußerung des Sprechers erinnert (Günthner 1995, S. 12). Aus ihrer Perspektive stellt der Fahrzeughalter des Transporters auch eine alternative Vergangenheit her, indem entgegnet, dass er nur für eine Minute etwas abgegeben habe (Z. 16). Allerdings gibt er der Kontrolleurin kaum Raum, sich zu der von ihr verhängten Sanktion zu äußern und dabei ihre professionell-institutionelle und legitimatorische Erinnerungsarbeit im Gespräch zu leisten. Vielmehr bedrängt und beleidigt er sie (Z. 18 f.) und hinterfragt den Sinn und Zweck des Handelns des Ordnungsamts insgesamt (Z. 20). K begründet es mit der angespannten Situation, dass sie in diesem Moment keine interaktionale Erinnerungsarbeit leistet, obwohl sie im Vorfeld genügend Beweise gesammelt hatte, um diese in der Interaktion relevant zu machen. Sie hört dem Mann lediglich ruhig zu (Z. 21). Die verbale Auseinandersetzung endet damit, dass der Halter des Fahrzeugs in seinen Transporter steigt, erneut verbal und körperlich beleidigend gegenüber K wird und dann abfährt (Z. 26).

Der Verlauf des Kontrollvorgangs zeigt, dass professionell-institutionelles Erinnern in behördlichen Kontexten auch in Abhängigkeit zum zeitlichen und sequenziellen Verlauf und der Prozesshaftigkeit des Gesprächs selbst steht. Auf die kommunikativen Akte des Fahrzeughalters musste K im Verlauf des Gesprächs reagieren. Allerdings entschließt sie sich dazu, sich selbst zurückzunehmen und darauf zu verzichten, auf die beleidigenden Vorwürfe zu reagieren und in eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Fahrzeughalter einzutreten. In dieser Situation hätte K durch ihre getane Dokumentationsarbeit daran erinnern können, dass der Transporter schon länger als eine Minute ordnungswidrig steht. Allerdings räumt der Fahrzeughalter ihr nicht genug interaktionalen Raum ein. Sie zeigt ihm ihre Zurückhaltung verbal wie körperlich an (Z. 21, 22), macht sie so accountable und wirkt deeskalierend in der bedrohlichen Situation.

An dieser Stelle kann auf Grundlage der beiden Beispiele festgehalten werden, dass die Ordnungsamtmitarbeiter:innen für eine kurze Zeitspanne verschiedene visuelle, örtliche, materielle und soziale Gegebenheiten aufnehmen und als zeitliche Referenzdaten zueinander in Beziehung setzen. Das professionell-institutionelle Gedächtnis zeichnet sich aber nicht nur durch jene systematische Dokumentationsarbeit der bürokratischen Beweisaufnahme aus. Erst in den Kontrollsituationen, werden die registrierten Referenzdaten interaktional rekonstruiert. Dabei wird durch die PRKs eine glaubwürdige Version interaktiv erinnert, um damit die Sanktion zu legitimieren.

Obwohl im ersten empirischen Teil zunächst die systematischen-institutionellen Erinnerungsprozesse im Fokus der Untersuchung standen, zeigen beide Beispiele bereits, wie institutionelle Praktiken auf Alltagspraktiken sozialen Erinnerns treffen: Die Schilderung von K verdeutlicht, dass zur Kontextsensitivität des professionellen Handelns auch die Notwendigkeit gehört, die geleistete institutionelle Erinnerungsarbeit situativ einzuschätzen.

5.2 Interaktionales und konfliktives Erinnern in behördlichen Kontrollen

Im Folgenden stehen die direkt beobachteten Situationen des interaktiven Erinnerns im Vordergrund. Die Analyse der Erinnerungsprozesse in situ veranschaulicht, wie Konflikte mithilfe verschiedener Zeit- und Normativitätsebenen in Gesprächen praktisch hervorgebracht werden. Dabei spielt Temporalität eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des Konflikts. Ein Konflikt muss sich „auf der Basis zunächst noch am Konsens orientierter Kommunikation Zug um Zug ausdifferenzieren. Gleichzeitig erhält damit auch die These zusätzlich Gewicht, dass der Konflikt seinen Zustand im Prozess wechselseitiger Reaktionen sukzessive und kontinuierlich verändert“ (Messmer 2016, S. 87).

In Beispiel 3 steht ein größeres Auto in zweiter Reihe auf einer viel befahrenen Straße vor einem Imbiss. Es ergibt sich eine Konfliktsituation zwischen den zwei kontrollierenden Mitarbeitern des Ordnungsamtes und dem Fahrzeughalter und dessen Vater. Das Beispiel erlaubt es, unterschiedliche Schichten der z. T. konfliktiven interaktionalen Rekonstruktion des Geschehens durch die beiden Parteien nachzuzeichnen:

5.2.1 Beispiel 3 – Parken in zweiter Reihe

Teilnehmende:

O1 (Ordnungsamtsmitarbeiter 1), O2 (Ordnungsamtsmitarbeiter 2), B (PKW-Fahrer), V (Vater des Fahrers), H (Forscherin)

Ethnographische Kurzbeschreibung:

A parkt in zweiter Reihe vor dem Imbiss seines Vaters. Die Straße ist viel befahren. Am Straßenrand gibt es weitere Imbisse und Restaurants. O1 und O2 warnen mich vor, bevor wir in die Straße gehen, dass sie schnell handeln müssen. Die Situation ist bereits angespannt, da sich mit Auftreten des Ordnungsamtes in der Straße viele zu ihren Fahrzeugen begeben und wegfahren. O1 und O2 identifizieren den in 2. Reihe parkenden PKW von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Dann entscheidet O1, „ihn zu schreiben“, und läuft hinüber. O2 und H folgen ihm. Er beginnt, mithilfe seines MDE-Geräts Daten des PKW aufzunehmen. Folgende Interaktion ergibt sich.


figure f

Als O1 vor dem PKW steht und mithilfe seines MDE-Geräts die relevanten Daten aufnimmt (Zeit, Autokennzeichen, Straße; Z. 1), kommt der Besitzer (B) des Fahrzeugs aus einem Imbiss-Laden und ruft ihm von der anderen Seite zu „das musste jetzt nicht sein? (.) ich hab nur mein handy von drinnen geholt.“ (Z. 2–3). B eröffnet so die Interaktion und stellt die Berechtigung und Notwendigkeit der Datenaufnahme und Strafzettelausstellung in Frage, indem er seine Version der unmittelbaren Vergangenheit darstellt. Hier zeigt sich die Verschränkung von rekonstruierender mit moralischer Kommunikation. Er wiederholt und präzisiert seine Version, dass er lediglich sein Handy geholt habe, und verweist auf die temporale Angabe „schnell“ (Z. 2). Zugleich korrigiert er sein geäußertes „musste“ in „muss“ und stellt so den Sachverhalt als noch veränderbar dar. Insgesamt macht er deutlich, dass es sich um kein länger andauerndes Parken, sondern nur ein kurzes Halten handele. O1 nimmt auf diese Unterscheidung Bezug, da sie rechtlich relevant ist, und widerspricht ihm, indem er das Ereignis als ordnungswidriges Parken in zweiter Reihe identifiziert, mit der zusätzlichen Begründung, dass er den Verkehr dadurch blockiert (Z. 3–4). B gibt an, sein Handy in seinem Restaurant vergessen zu haben (Z. 4). Die Nähe zur Örtlichkeit plausibilisiert hier die temporale Kürze des Haltens. O1 und O2 erwidern erneut, dass er durch das anhaltende Ereignis den Verkehr blockiere (Z. 6–7). Es gehe nicht um ein punktuelles Ereignis (Halten und Handy holen), sondern um einen länger andauernden Prozess (Parken in zweiter Reihe und Blockieren des Verkehrs), der hier als sanktionierungsbedürftig relevant gemacht wird.

Aus dem Transkript geht hervor, dass kurzes Handyholen und andauerndes ordnungswidriges Parken interaktiv relevant gemacht werden und sich darin unterschiedliche Zeitdimensionen manifestieren. Daher stellt O2 interaktional eine Rekonstruktion der Vergangenheit her, indem er mit dem Beweis argumentiert, dass die beiden Mitarbeitenden das Parken in zweiter Reihe beobachtet hätten (Z. 9). Damit bringt O2 einen Wissensbestand mit einer neuen Zeittiefe in die Interaktion ein, der das vergangene, sanktionsbedürftige Ereignis objektiviert. Mithilfe indexikaler Begriffe („das von da drüben“, Z. 9) stellt er zur örtlichen Umgebung eine Zeitlichkeitsreferenz her. Darauf geht der Fahrzeughalter ein und fragt kritisch, was sie genau beobachtet hätten (Z. 10). O2 konkretisiert die Rekonstruktion und macht deutlich, dass ihre Beobachtungen sich auf das ordnungswidrige Parken in zweiter Reihe beziehen (Z. 11). Dies tut er jedoch, ohne zu explizieren, wie die rechtliche Definition für Parken lautet. Mit dem angeführten Beweis der längerfristigen Beobachtung spitzt sich das Gespräch weiter zu einem Konflikt zu. Während O1 mit seinem MDE-Gerät ein Foto des Fahrzeugs erstellt, die Situation archiviert und ein Beweismittel herstellt (Z. 12), widerspricht B in aggressivem Ton und streitet ab, dass er geparkt hat (Z. 13), wobei er möglicherweise einen Alltagsbegriff von Parken nutzt, der nicht dem rechtlichen Begriff entspricht.

Die Interaktion eskaliert, als B nun auch körperlich eingreift und versucht, O1 das MDE-Gerät aus der Hand zu schlagen (Z. 13). Damit versucht er, die Fotografie der Situation bzw. deren Archivierung körperlich zu verhindern. O1 wehrt mit „was soll das jetzt“ (Z. 14) den unmittelbar vorausgegangenen Angriff Bs auf seine Arbeitstätigkeit (Foto als Beweismittel) ab. Dies wird untermalt von dem indexikalen Ausdruck „jetzt“. Der PKW-Fahrer wiederum bezieht sich mit seiner spiegelbildlichen Aussage „was solln das hier“ auf den anhaltenden Prozess der Kontrollmaßnahme durch die beiden Ordnungsamtsmitarbeitenden (Z. 15).

Im weiteren Verlauf bestätigt der Vater des PKW-Halters (V) die Vergangenheitsrekonstruktion seines Sohnes (Z. 17), dass er „nur“ das Handy geholt habe. B hat allerdings seine Argumentation geändert und beharrt nicht mehr auf seiner vorherigen Version. Stattdessen verhöhnt er nun die Ordnungsamtsmitarbeiter und betitelt ihr Handeln als „stressend“ (Z. 18, 20), was eine Moralisierung und Banalisierung ihrer Tätigkeit impliziert und eine andere Ebene sozialer Normativität in den Konflikt einspielt.

Der Vater des PKW-Halters bringt einen weiteren Grund vor, indem er sich auf die Örtlichkeit bezieht, wo das kurze Halten erfahrungsgemäß erlaubt sei. Er beruft sich auf das Gewohnheitsrecht (Z. 21). Das eingeforderte Gewohnheitsrecht setzt sich jedoch nicht gegenüber der punktuellen Sanktion der Ordnungsamtsmitarbeiter durch (Z. 22). Auch der erneute Bezug des Vaters auf die Zeitlichkeit (kurz, Z. 23) wird von den Ordnungsamtsmitarbeitern abermals als Begründung abgelehnt.

Daraufhin verlässt B das Geschehen: Er steigt in das Auto und fährt weg (Z. 25), was nicht nur als Reaktion der Empörung, sondern auch als Behebung der Ordnungswidrigkeit zu interpretieren ist. Der Konflikt endet schließlich damit, dass O1 auf die Prozesshaftigkeit des Konflikts selbst Bezug nimmt und an dessen situativen Verlauf und wechselseitige Reaktionen interaktional erinnert (Z. 26). Er räumt die Möglichkeit ein, dass er aufgrund seines Ermessenspielraums die Sanktion hätte fallen lassen können, wäre B im Verlauf der Interaktion nicht verbal und körperlich aggressiv (Ausschlagen des MDE-Geräts) geworden (Z. 26–28). Der Vater versucht noch einmal, für seinen Sohn einzutreten, aber der Ordnungsamtsmitarbeiter lässt sich aufgrund von Bs Verhaltens und der Prozesshaftigkeit der Kontrollinteraktion nicht mehr überreden (Z. 29–40).

An dieser Stelle zeigt sich deutlich ein kurzer Austausch, in dem zwei verschiedene Zeittiefen der interaktionalen Vergangenheit hergestellt werden. Als sich O1 in Z. 32 noch einmal empört über Bs Ton äußert, signalisiert V Verständnis für den Strafzettel und nennt seine familiäre Beziehung zu B: Er sei der Vater (Z. 33). O1 geht hierauf nicht ein, sondern wiederholt seine Empörung über Bs Verhalten in der zurückliegenden Interaktion. Sein „nein“ (Z. 34) ist jedoch auch als Antwort auf Vs direkt zuvor geäußerte Bemerkung, er sei Bs Vater, lesbar, was V auch scherzhaft in die Interaktion einspielt (Z. 35). O1 geht auf Vs Spiel mit zwei interaktionalen Vergangenheitsschichten nicht ein (Z. 36). Die Interaktion endet damit, dass der Vater das Fehlverhalten seines Sohnes akzeptiert und den Mitarbeitenden zubilligt, die Sanktion zu beenden und ihre Arbeit fertigzustellen (Z. 42–44). Die kurze Episode zeigt die Möglichkeiten, interaktional zwischen Vergangenheitstiefen hin- und herzuspringen. Nicht nur werden unterschiedliche Zeitlichkeitsreferenzen hergestellt, die vor der Interaktion liegen, sondern es wird auch mit interpretativen Möglichkeiten umgegangen, die in der Interaktion bereits weiter oder weniger weit – gar erst im vorigen Redezug – zurückliegen.

Der Konflikt zeigt exemplarisch, wie unterschiedliche Zeittiefen konfliktiv erinnert werden. Darüber hinaus verdeutlicht das Beispiel, wie institutionelle Erinnerungsarbeit im Lichte der praktischen Kontingenzen des Tuns betrachtet werden muss: Einerseits werden Rekonstruktionen des Vergangenen anhand von verschiedenen Zeitlichkeitsreferenzen alltäglicher und institutioneller Erinnerungsarbeit (kurz Handy im Laden holen vs. Beobachten der andauernden Situation) in der Interaktion zwischen den Ordnungsamtsmitarbeitern und dem Pkw-Fahrer unterschiedlich kommunikativ und konfliktiv ausgehandelt. Andererseits beeinflusst das situative Erinnern der Interaktionsgeschichte (als Interaktionsgedächtnis) maßgeblich den Prozess der Kontrolle. Insbesondere beeinflusst es die Entstehung möglicher, aus der situativ rekonstruierten Vergangenheit direkt ableitbarer Zukünfte mit oder ohne Strafzahlungsaufforderung.

Neben den verschiedenen Zeittiefen werden auch Wissensbestände mit unterschiedlicher Normativität in den Konflikt eingespielt: Ferner ist auch hier eine Tendenz zur Empörung und Moralisierung durch die Beklagten festzustellen, während auf Seiten der Behördenmitarbeitenden Versuche der Objektivierung und Entmoralisierung zu beobachten sind. Die Eingabe von Informationen in das MDE-Gerät und das Ausdrucken eines Strafzettels werden dabei als erster „Rede-“zug interpretiert, auf den dann von Seiten der Beklagten mit Empörung reagiert wird (vgl. zum Telefonklingeln als erstem Redezug, auf den mit der Hörerabnahme und einem Gruß reagiert wird, Schegloff 1979). Die technische Aufnahme der Situation ist offenbar als Vorwurf interpretierbar, der typischerweise eine Reaktion der Verteidigung und das Anzweifeln von dessen Berechtigung und Legitimität nach sich zieht (vgl. Günthner 2012).

Eine letzte Beobachtung bezieht sich auf die Nutzung der in den Interviews dargelegten systematischen Beweisaufnahme in der Interaktion. Anders als dort suggeriert, wird sie im Konflikt keineswegs vollständig expliziert, gerade wenn sich Vorwurfsaktivitäten und Tendenzen der Moralisierung seitens der Beklagten abzeichnen. Im Gegenteil, es bleibt vieles implizit, wie im vorliegenden Fall etwa die rechtliche Differenz zwischen kurzem Halten und längerem Parken, die eine große Bedeutung für die Konfliktentfaltung einnimmt.

5.2.2 Beispiel 4 – Parken am Taxistand

Kontext:

A hat ein Ticket gezogen, sein Auto allerdings auf einem Taxistand, dessen Schilder durch eine Baustelle etwas verdeckt sind, geparkt.

Teilnehmende:

O (Ordungsamtsmitarbeitende), H (Forscherin), A (PKW-Halter).

Ethnographische Kurzbeschreibung:

O und H laufen eine Straße hinunter, in der sich eine große Baustelle befindet. Aufgrund der Baustelle sind verschiedene Schilder aufgestellt. O kontrolliert die parkenden Autos, entlang der Straße. Es dauert mehrere Minuten, bis O den roten PKW erreicht und ihre Kontrolle beginnt. O begutachtet länger den Zettel, der in der Windschutzscheibe ausliegt. Sie schaut sich um, begutachtet die Schilder in der Umgebung und legt die Hand auf die Motorhaube des PKWs. Schließlich fotografiert sie den Wagen mithilfe des MDE-Geräts, druckt einen Strafzettel aus und führt die Kontrollmaßnahmen am nächsten Auto fort. Der Fahrzeughalter des roten PKW kommt nun auf O zu.


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In Beispiel 4 beginnt die Interaktion damit, dass der PKW-Halter A mit ausgesteckter Hand, mit der er mit einem kleinen Zettel winkt, auf die Ordnungsamtsmitarbeitende O zuläuft und ruft „für was habe ich des gezogen?“ (Z. 1). A stellt einen Bezug zu einem vergangenen Ereignis her. Allerdings bleibt seine Frage implizit und ist unterfüttert mit indexikalen Ausdrücken („des“), so dass ohne Kontext nicht klar erschlossen werden kann, worum es sich handelt. O, die gerade ein anderes Auto kontrolliert, bemerkt ihn und dreht sich um (Z. 3). Nun zeigt A seinen Parkschein und fragt erneut, warum er ihn gezogen habe (Z. 4). Seine Aussage bleibt weiterhin implizit, da er nicht konkretisiert, worum es sich genau handelt.

Er macht sein Anliegen, trotz seiner vagen Formulierung, accountable. O kann die Situation entsprechend einordnen: Sie erinnert sich an das vergangene Geschehen und entgegnet, dass es sich aufgrund der von ihr vollzogenen systematischen Beweisaufnahme um einen Taxistand (Örtlichkeit) handele, auf dem er geparkt hat (Z. 5). Hervorzuheben ist, dass O zunächst als bürokratische Realität und Tatsache feststellt, „ist taxistand“ (Z. 5), sich dann aber korrigiert und einen Vergangenheitsbezug herstellt: „war taxistand“. Dieser Vergangenheitsbezug kann sich auf zweierlei beziehen: Es wird zum einen eine Referenz zum Zeitpunkt hergestellt, als der PKW-Halter dort geparkt hat, und zum anderen wird eine zweite Referenz zum Zeitpunkt der Kontrolle hergestellt. Damit stellt die Ordnungsamtsmitarbeiterin anhand einer Örtlichkeit (Taxistand) Bezüge zu verschiedenen Zeittiefen her (Zeitpunkt des Parkens, der Sanktion, der Gegenwart).

Allerdings werden auch seitens A differente Vergangenheitsbezüge hergestellt, indem er ihre Erklärung bestreitet und auf die anderen umliegenden Schilder verweist (Örtlichkeit). So behauptet er, die Schilder verweisen auf keinen Taxistand, sondern lediglich auf die Baustelle (Z. 7). O wiederholt daraufhin den bereits formulierten Vergangenheitsbezug, beharrt darauf, dass es sich um einen Taxistand gehandelt habe, und konkretisiert ihre Aussage mit einer genauen Zeitangabe („sechs bis zweinzwanzig uhr“, Z. 8), deren Geltung zum aktuellen Zeitpunkt andauert. A wendet sich damit von der Rekonstruktion der Beschilderung in der Straße ab und macht seinen bereits gezogenen Parkschein (Materialität) als objektivierten Beweis der Vergangenheit interaktiv relevant (Z. 9). Er erhebt Anspruch auf Reziprozität, da er bereits Geld für seinen parkenden PKW gezahlt und sich rechtens verhalten habe. Erst jetzt wird der Kontext der Situation aufgelöst, bzw. es erfolgt eine Entindexikalisierung, da O erklärt, dass der gezogene Parkschein am Taxistand nicht nutzbar und gültig ist (Z. 11), was auch in der Zukunft so bleibe (Z. 10).

Sowohl O als auch der PKW-Halter A machen beiderseits unterschiedliche rechtliche Vergangenheitsbezüge geltend. Anhand der systematischen Beweisaufnahme beharrt O auf der Version des Taxistandes (Örtlichkeit und Zeitangabe), während A dieser widerspricht. Stattdessen verweist er auf die Beschilderung der Baustelle (Örtlichkeit) sowie den gezogenen Parkschein (Materialität). Deutlich wird, dass professionell-institutionelle, wie auch alltägliche Erinnerungsarbeit Ereignisse unterschiedlich dokumentieren und aus ihrer jeweiligen Perspektive interaktiv rekonstruieren. Der wesentliche Unterschied der beiden Erinnerungspraktiken liegt jedoch in der systematischen Beweisaufnahme von O. Sie hat sowohl die örtlichen Gegebenheiten als auch den Parkschein geprüft, bevor sie eine bürokratische Sanktion verhängt hat, was bedeutet, dass ihre Argumentation nicht willkürlich verändert werden kann.

A wiederum verwirft seine bisherigen Zeitlichkeitsrekonstruktionen und behauptet nun, dass er nicht mehr als zwei Minuten (Temporalität) dort gestanden habe (Z. 12). O negiert auch diese alternative Rekonstruktion und entgegnet, dass der Wagen dort schon länger gestanden habe (Z. 12). Diese Verneinung begründet sich aus ihrer geleisteten, systematischen Beweisaufnahme der situativen Gegebenheiten (längerer Aufenthalt in der Straße, Prüfung der Motorhaube). Sie macht diese Rekonstruktion allerdings nicht interaktional explizit. Es ergibt sich ein Konflikt (Z. 13–16), in dem beide differente Vergangenheiten zur Legitimation ihres Handelns anführen (Falschparken vs. kurz etwas Abgeben).

Das Konfliktgespräch wird vorerst beendet, indem A damit droht, einen Anwalt zu nehmen (Z. 18). Er bezeichnet das Handeln des Ordnungsamtes als „Abzocke“ (Z. 21), und beide Konfliktparteien wenden sich voneinander ab. Allerdings fährt A mit seinem Fahrzeug noch einmal an O vorbei und empört sich erneut über das Vorgehen des Ordnungsamtes, wobei er den Begriff der „Abzocke“ wiederholt (Z. 26). Während H und O weiterlaufen, geht O die geleistete systematische Beweisaufnahme erneut durch und vergewissert sich, dass ihr Handeln rechtens und legitim war (Z. 29–30).

An der Kreuzung, wo beide Parteien an der Ampel erneut aufeinandertreffen, zeigt A auf ein geparktes weißes Auto und empört sich, dass es nicht sanktioniert wurde (Z. 32–34). Nachdem alle bisherigen Versuche, sich der Sanktion zu widersetzen, von O abgewehrt wurden, macht A Inhalte von gesellschaftlicher und zeitlicher Normativität (hier: der kollektiven Identität und der Humandifferenzierung) relevant. Dabei schreibt er dem weißen parkenden PKW eine deutsche Zugehörigkeit zu, dessen Kontrolle vorgeblich wissentlich übersehen wurde, wohingegen er als „Ausländer“ (Z. 34) sanktioniert würde. Es bleibt implizit, dass es sich hier um eine Selbstbeschreibung in Bezug auf das bereits vergangene Interaktionsgespräch handelt.

Einerseits werden durch diese differenzmarkierenden Vorwürfe und Prozesse des Othering als „Ausländer“ (Z. 34) seitens A gesellschaftliche Strukturunterstellungen evoziert, die ihn möglicherweise an Situationen des diskriminierenden Kontakts mit Behörden und seine minorisierte Stellung in der Gesellschaft erinnern (Ha 2000, S. 380). Anderseits nutzt er diese Zuschreibung als letzten Redezug, denn nach dieser Aussage fährt er lautstark über die Kreuzung und verlässt das Interaktionsgeschehen. Klar ist, dass O das falsch parkende Auto zu einem Zeitpunkt sanktioniert hat, bei dem sie nicht auf eine Herkunft des PKW-Fahrers schließen konnte.

Beispiel 4 – wie auch Beispiel 3 – zeigen, wie institutionelles Erinnern und Alltagserinnern im Konflikt stehen und das erst kürzlich Geschehene anhand von Materialität, Örtlichkeit und Temporalität jeweils in unterschiedlichen Zeittiefen rekonstruiert wird. Dabei wird im Vergleich der empirischen Beispiele deutlich, dass unterschiedliche kommunikative Strategien zur Feststellung bzw. Umgehung sanktionsbedürftiger Vergangenheiten angewendet werden: Während in Beispiel 3 der PKW-Fahrer B auf seiner Version der Vergangenheit beharrt, wechselt der PKW-Fahrer A in Beispiel 4 stetig seine Vergangenheitsrekonstruktionen, die er interaktiv an verschiedenen Objektivationen festmacht. Die Amtspersonen orientieren sich an ihrer systematischen Beweisaufnahme, explizieren diese aber nicht vollständig, abhängig von dem jeweiligen Interaktionsereignis und der Prozesshaftigkeit des Konflikts.

Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass der professionelle Umgang in Kontrollgesprächen alltagsweltlich begründet bleibt: Soziales Erinnern in behördlichen Kontexten konstituiert sich durch die Elaboration, indem Amts- und Zivilpersonen in der Interaktion wechselseitig aufeinander reagieren müssen. Dabei zeigt das empirische Material, dass zum einen institutionelle Erinnerungsarbeit stets einem Dokumentations- und Rechtfertigungszwang unterliegt und sich daran systematisch orientiert. Das Alltags-Erinnern unterliegt keiner derartigen Systematik. Hier können auch Vorwürfe, Empörung und moralische Urteile über das institutionelle Handeln gefällt und Zeittiefen beliebig verändert werden. Allerdings ist anzumerken, dass die Professionellen kaum auf Beschuldigungen und Vorwürfe eingehen und innerhalb ihrer rechtlichen und legitimen Begründungen handeln oder wie in den Beispiele 2, 3 und 4 nicht alle gesammelten Beweise explizit angeführt werden, sondern diese z. T. implizit gehalten werden. Die Strafzettelverhängung wird so nicht durchgehend inhaltlich und argumentativ begründet, sondern so ausgeführt, dass kein Widerspruch zugelassen wird. Dennoch erlangen jene Vorwürfe und Moralisierungen durch die Beklagten einen Raum, der nicht professionell seitens der Amtspersonen bearbeitet wird. Dies lässt abschließend einige Schlussfolgerungen über das erinnerungstheoretische Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Erfahrung zu.

6 Fazit

In der vorliegenden Untersuchung zu sozialem Erinnern in Konfliktsituationen bei behördlichen Kontrollen wurden die Dimensionen von Zeitlichkeit und Normativität besonders berücksichtigt. Die empirischen Beispiele haben gezeigt, wie die Konfliktparteien mithilfe unterschiedlicher Zeittiefen, Örtlichkeiten sowie Materialtäten eine glaubwürdige Version des kürzlich Vergangenen interaktional erinnern. Dabei wurde deutlich, dass sowohl die die Prozesshaftigkeit der Interaktion, in ihrem sequenziellen Ablauf als auch die jeweiligen Zeitlichkeitsreferenzen für das interaktionale Geschehen und die Entfaltung eines Konflikts konstitutiv sind. Zwei Erkenntnisse sollen hervorgehoben werden, die aus der Analyse hervorgehen.

Erstens geben die systematischen Erinnerungsprozesse aus den Interviews Aufschluss darüber, wie ein professionelles Erinnerungssystem aufgebaut wird. Situative Gegebenheiten werden anhand verschiedener Referenzen (Materialität, Zeitlichkeit, Örtlichkeit) auf ihre Zeittiefe und Prozessfähigkeit hin abgearbeitet, um somit ein Mapping der situativen Gegebenheiten herstellzustellen. Die Aufnahme und Verarbeitung von visuellen, zeitlichen und sozialen Eindrücken sowie materiellen und örtlichen Gegenebenheiten führen zur Bildung von bürokratischen Urteilen, die später interaktiv begründet werden können. Dabei zeigt sich jedoch, dass nicht alle gesammelten Informationen im Konfliktfall auch als „Beweise“ interaktiv geltend gemacht werden (Beispiele 2, 4). Ähnlich wie bei einer rein schriftlichen Kommunikation werden viele systematisch erhobenen Details aus praktischen Gründen nicht expliziert und bleiben indexikal (vgl. Garfinkel 1967b, S. 186). Denn das professionell-institutionelle Handeln konstituiert sich eben durch die Reflexivität, die sich erst aus der Interaktion ergibt, indem Amts- und Zivilpersonen aufeinander reagieren müssen, ihre Reaktionen gegenseitig anzeigen und diese falladäquat accountable machen. Zu dieser professionellen und zugleich falladäquaten Kontextsensitivität zählt die Kompetenz, die Notwendigkeit interaktionaler Erinnerungsarbeit situativ einzuschätzen – und im Zweifelfall auch zugunsten der Streitschlichtung oder Deeskalation zu unterlassen und in die Zukunft zu verschieben.

Zweitens wurde deutlich, dass in Konfliktsituationen auch mit interpretativen Möglichkeiten, etwa der Empörung, Moralisierung, aber auch mit humandifferenzierenden Vorwürfen, die z. T. wiederum auf größere gesellschaftliche Zeittiefen verweisen, professionell umgegangen werden muss. Die empirischen Beispiele demonstrieren, dass die Rolle einer kompetenten, neutralen Amtsperson in einer pluralen Gesellschaft nicht selbstverständlich anerkannt wird. In alltäglichen Kontrollinteraktionen entstehen vielmehr Konflikte über das kurzzeitig zurückliegende, sanktionierte Ereignis hinaus: In Beispiel 2, 3 und 4 wurde ersichtlich, dass Amtspersonen in diesen für sie polarisierenden Situationen versuchen, weitestgehend ihrer professionellen und neutralen Rolle gerecht zu werden, indem sie versuchen, nah am sanktionierten, vergangenen Ereignis zu bleiben oder vieles implizit bleibt, um interaktiv objektivierende und entmoralisierende Erinnerungsbezüge herzustellen. Die präferierte Form besteht darin, den Vorwurf, die Empörung oder Moralisierung anzunehmen, anstatt systematisch darauf zu reagieren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Amtspersonen sich an ihrem institutionell-legitimen Erinnerungssystem orientieren und dabei keine alltäglich-persönliche Perspektive einnehmen sollten. So werden diese normativen Vorwurfsaktionen systematisch ausgeblendet und erhalten unverarbeitet dadurch einen Raum, in dem sie nicht professionell aufgefangen werden. Damit werden sie auch zu Episoden potenzieller kollektiver Erinnerung in nuce transformiert. Inwiefern professionell-institutionelle Erinnerungsarbeit auch jene Vorwurfsaktivitäten professionell bearbeiten kann und muss, könnte sich als ein anschlussfähiger und aufschlussreicher Forschungsbeitrag erweisen.

Nicht zuletzt haben die vorgestellten Beispiele gezeigt, dass – in Interaktionen verschiedene Temporalitäten und Zeittiefen, auch in Form von kurzzeitigem Erinnern, als Bedingung von Vergesellschaftung wirken und für diese konstitutiv sind. Fragmente alltäglichen Geschehens werden so zu Episoden potenzieller kollektiver Erinnerung in nuce transformiert und zu Bruchstücken möglicher Generalisierung gemacht.