1 Einleitung

Das Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) Unsere gemeinsame digitale Zukunft beginnt mit der Feststellung: „Digitalisierung wird oft als gewaltiger Umbruch bezeichnet, der auf unsere Gesellschaft zukommt und dem es sich anzupassen gilt.“ (WBGU 2019, S. 1) Mit ihrem Gutachten setzen die Autor*innen dem entgegen, „dass die Digitalisierung so gestaltet werden muss, dass sie als Hebel und Unterstützung für die Große Transformation zur Nachhaltigkeit dienen und mit ihr synchronisiert werden kann“ (ebd.). Mit dieser Ausgangsüberlegung ist eine implizite Aussage über das Verhältnis der beiden Dynamiken gesellschaftlichen Wandels „Nachhaltigkeit“ und „Digitalisierung“ verbunden: Der Begriff Nachhaltigkeit bezeichnet eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung, die seit nunmehr einem halben Jahrhundert eingefordert wird, trotz vielfältiger, teils einschneidender Maßnahmen im Ergebnis aber weit hinter in internationalen Abkommen selbst gesteckten Zielen wie der Reduktion des CO2-Ausstoßes zurückbleibt – Digitalisierung hingegen ist tatsächlich ein „gewaltiger Umbruch“, der von Kommunikationsweisen über das Verhältnis von öffentlich und privat bis hin zu Formen des Wirtschaftens kaum einen gesellschaftlichen Bereich unverändert lässt und dabei stattfindet, ohne durch öffentliche Forderungen oder politische Diskussionen ins Werk gesetzt worden zu sein. Für die soziologische Theorie bedeutet diese Konstellation eine Herausforderung: Wie kann es sein, dass Digitalisierung – bei aller Unwägbarkeit ihres Verlaufs – so weitreichende Veränderungen bewirkt, dass sie überwiegend als unaufhaltsame Tatsache behandelt wird, der es sich anzupassen gilt, während ein gesellschaftlicher Wandel in Richtung mehr Nachhaltigkeit trotz in ihrer Dringlichkeit weithin anerkannten Problemlagen und vielfältigen Bemühungen zu deren Bewältigung jedenfalls im Ergebnis so zaghaft bleibt, dass die Folgen von Klimawandel, Biodiversitätsverlust oder der Vermüllung der Ozeane immer deutlicher zutage treten?

Bereits der Bericht an den Club of Rome über die Grenzen des Wachstums legte dar, dass ein grundsätzlicher Systemwechsel zum Verhindern einer Negativspirale erforderlich sei (Meadows et al. 1972). Zudem weist insbesondere die Klimaforschung, durchaus mit politischer Resonanz, seit langem auf die existenzielle ökologische Gefährdung im Zuge eines anthropogen bedingten Klimawandels hin (Stehr und von Storch 1995; UN 1998; Garrelts und Dietz 2014). Schließlich ist Nachhaltigkeit erklärtes Ziel verschiedener internationaler Vereinbarungen, wobei sich seit den Überlegungen im Brundtland-Report (Hauff 1987) diese Abkommen einerseits auf eine Reduktion des CO2-Ausstosses fokussieren (UN 1998), andererseits mit den Sustainable Development Goals (UN 2016) konkrete Ziele in insgesamt 17 Nachhaltigkeitsbereichen ausformuliert wurden. Doch trotz dieser Aufmerksamkeit sowie entsprechend großer Anstrengungen auf vielen Ebenen werden die vereinbarten Ziele nicht erreicht. Im Gegenteil: Statistiken zeigen eindrücklich, dass Ressourcenverbrauch, Kohlendioxidemission, Mobilität etc. seit den 1950er- und dann nochmals seit den 1990er-Jahren eher stärker gestiegen sind (IPCC 2014, S. 3 ff.).

Zeitgleich ist Digitalisierung dabei, die globale Gesellschaft in vielerlei Hinsicht zu verändern: Das Internet mit seinen digitalen Endgeräten und Applikationen wandelt Kommunikationsverhalten, Orientierung im Raum, Informationsvermittlung und die Möglichkeiten der Bildung sozialer Gruppen; zugleich entsteht eine materiale digitale Infrastruktur, deren Bedeutung für soziale Teilhabe und nationale Wettbewerbsfähigkeit kaum zu überschätzen ist. Mit der Digitalisierung „of everything“ verändern sich Arbeitswelt, Geschäftsmodelle, Wettbewerbspositionen, Möglichkeiten der Überwachung und Einflussnahme sowie über kurz oder lang auch das Verständnis von Demokratie, Menschenwürde und Individualität, möglicherweise gar das Humane selbst (etwa Gershenfeld 2012; Lindemann 2014; Mau 2017; Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018; Burow et al. 2019; Grunwald 2019; Staab 2019; Zuboff 2019) – und all dies, ohne dass, wie im Falle von Nachhaltigkeit, ein internationaler Konsens über eine anzustrebende gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Digitalisierung zuvor formuliert worden wäre.

Ausgehend von einer gesellschaftstheoretischen Perspektive wird im Folgenden die These vertreten, dass der Grund für die genannte Disparität der Transformationen in der spezifischen Materialität der modernen Gesellschaft liegt. Im Zuge gesellschaftlicher Evolution verändern sich nicht nur die soziale Differenzierungsform, gesellschaftliche Semantiken oder das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Es verändert sich auch, was in einer Gesellschaft als Materialität gilt und wie ausgehend von dieser innergesellschaftlichen Real-Konstruktion mit Materialität umgegangen wird. Die Materialität der modernen Gesellschaft kann als autonome Materialität charakterisiert werden. Diese autonome Materialität ist es, die der modernen Gesellschaft Digitalisierung nahelegt – eine nachhaltige Entwicklung erfordert jedoch eine Transformation der Materialität selbst. Eine materialitätstheoretisch erweiterte Perspektive erlaubt auf diese Weise zu erklären, warum Digitalisierung Gesellschaft so vielfältig verändert, dass ein „gewaltiger Umbruch“ konstatiert werden kann, trotz aufwändiger internationaler Abstimmungen und vielfältigster Bemühungen aber ein gesellschaftlicher Wandel in Richtung Nachhaltigkeit insofern nicht gelingt, als die abgestimmten Ziele im Ganzen nicht erreicht werden. Auch Herausforderungen, Bedingungen und Möglichkeiten einer „nachhaltigen Digitalisierung“ können so prägnanter formuliert werden.

Im Folgenden werden im Sinne einer Ausgangsdiagnose Nachhaltigkeit und Digitalisierung als Entwürfe gesellschaftlichen Wandels näher bestimmt. Es wird deutlich, dass beide Entwicklungen in verschiedene Richtungen weisen und bislang weitgehend unabhängig voneinander untersucht werden. Wo eine Verbindung beider Phänomene erfolgt, geschieht dies in der Regel mit einem auf technische Effizienz ausgerichteten, indikatorenorientierten Nachhaltigkeitsverständnis (Abschnitt 2). Als Beobachtungsperspektive schlägt Abschnitt 3 eine materialitätstheoretisch erweiterte Systemtheorie vor, die die Materialität moderner Gesellschaft als autonome begreift. Aus dieser Perspektive lässt sich gesellschaftliche Veränderung im Zuge von Digitalisierung mit deren besonderer Passung zur spezifischen Materialität der modernen Gesellschaft erklären. Am Fallbeispiel der sogenannten digitalen Landwirtschaft (Digital Farming) wird diese Überlegung vertieft und gezeigt, dass und wie Nachhaltigkeit – im Unterschied zu Digitalisierung – mit autonomer Materialität nur schwer vereinbar ist (Abschnitt 4). Abschließend werden die gesellschaftlichen Anforderungen an eine nachhaltige Digitalisierung diskutiert, die sich aus der skizzierten Perspektive ergeben (Abschnitt 5).

2 Nachhaltigkeit, Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel

Nachhaltigkeit bezeichnet zunächst eine bestimmte Umgangsweise mit Ressourcen (im weitesten Sinne), nämlich eine solche, die diese Ressourcen zwar nutzt, aber nicht übernutzt. Derart entsteht der Begriff ursprünglich in der deutschen Forstwirtschaft im Kontext steigenden Holzverbrauchs. Die bekannte Definition des Brundtlandt-Berichts bringt dies verallgemeinert zum Ausdruck: „Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987, S. 46). Nachhaltigkeit ist damit zunächst ein deskriptiver Begriff. Prominent wird Nachhaltigkeit als Konzept und Diskurs jedoch vor dem Hintergrund einer Kritik an bestehenden Umständen und der damit einhergehenden normativen Forderung nach einer Veränderung dieser Umstände. Ausgehend von einer Problemdiagnose – Übernutzung von Ressourcen, Klimawandel, Armut etc. – wird die Erforderlichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung begründet.

Allerdings laufen trotz einer grundsätzlichen Einigkeit über die Existenz von Problemen die Vorstellungen erheblich auseinander, was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist und in welche Richtung die entsprechende Veränderung gehen soll bzw. mit welchen Mitteln sie zu erreichen ist (Henkel 2016a). Um nur zwei – in sich wiederum heterogene – Nachhaltigkeitsverständnisse und damit verbundene mögliche Transformationsrichtungen zu benennen: Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man im Sinne der Degrowth-Bewegung für Konsumeinschränkung, Regionalwirtschaft, Reparieren, Tauschen und entsprechendes persönliches Wissen plädiert (Jackson 2009; Paech 2012; Schmelzer und Vetter 2019) – oder ob man im Sinne einer ökologischen Modernisierung auf grünes Wachstum, technologische Lösungen, Effizienzsteigerung und entsprechend vor allem auf naturwissenschaftlich-wirtschaftswissenschaftliches Wissen setzt (Jänicke 1993; Elkington 1997; Enquete-Kommission 2013). Wem Verantwortung für Nachhaltigkeit zugerechnet wird, wie Ressourcen verteilt werden sollen, welches Wissen nachgefragt wird und in welche Richtung und auf welche Art gesellschaftliche Institutionen demzufolge zu entwickeln wären, wird angesichts derart verschiedener Verständnisse von Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Wandels sehr verschieden beantwortet (Henkel 2016a).

Diese Konstellation einer insgesamt erwünschten, in ihrer Ausrichtung jedoch heterogenen und umkämpften gesellschaftlichen Entwicklung hin zur Nachhaltigkeit hat eine komplexe Vorgeschichte. Während in den 1970er-Jahren die Fragilität des Systems Erde und die Endlichkeit von Ressourcen klar im Mittelpunkt stehen, kommt mit der Entwicklung von Nachhaltigkeit als international-politischem Transformationsziel das Anliegen der Armutsbekämpfung hinzu, was die ökologischen um soziale und ökonomische Zielsetzungen erweitert (Pfister et al. 2016, S. 10 ff.). Trotz dieser Verschiebung kann die Entwicklung bis in die 1990er-Jahre als eine erste Phase des Nachhaltigkeitsdiskurses und der damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderung gesehen werden: Sie ist geprägt von einer Aufbruchsstimmung, der Überzeugung, etwas ändern und besser machen zu können, sowie von der Entwicklung neuer Forschungs- und Handlungsansätze, etwa der sozial-ökologischen Forschung (Forschungsgruppe Soziale Ökologie 1987), der Transdisziplinaritätsforschung (Hirsch Hadorn et al. 2006) oder der Technikfolgenabschätzung (Petermann und Coenen 1999). Auch die Soziologie bringt – wiewohl sie dem Anliegen nachhaltiger Entwicklung durchaus reserviert gegenübersteht (etwa Wehling 1997) – eigene Perspektiven in die neu entstehenden Forschungs- und Handlungsansätze ein (Brand 1997, S. 29 ff.).

Diese positiv-veränderungsorientierte Phase einer nachhaltigen Entwicklung und deren soziologischer Begleitung weicht ab den 1990er-Jahren zunehmend einer gewissen Desillusionierung. Eine Reihe von Wirkungsanalysen der zum Teil mit umfassenden strukturellen Eingriffen und erheblichen Kosten verbundenen Transformationsprogramme kommt zu dem Schluss, dass diese die angestrebten Nachhaltigkeitsziele nur unvollkommen, in anderer Form oder gar nicht erreichen (vgl. bspw. Binas 2006; Lange 2008; Reißig 2009; Enders und Reming 2012; Servatius 2012). Die Einigung auf dem Pariser Klimagipfel 2015 galt für die Beobachter bereits als „Wunder von Paris“, der zwischenzeitliche Ausstieg der USA aus den Klimaabkommen als sinnbildlich für das Ende solchen Wunderglaubens. Nachhaltige Entwicklung bleibt zwar auf der politischen Agenda, konkurriert jedoch um Aufmerksamkeit mit anderen Herausforderungen wie ökonomischen Krisen, Kriegen, Digitalisierung oder gesellschaftlichem Zusammenhalt. Entsprechend ändert sich auch die soziologische Beteiligung am Diskurs. Zum Teil wird die Erfolglosigkeit der bisherigen Nachhaltigkeitsbemühungen scharf herausgearbeitet (prägnant das Schlagwort der „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“, Blühdorn 2018, 2020; kritisch Brand 2021); zum Teil werden Dilemmata der Nachhaltigkeit diskutiert (Henkel et al. 2023) oder wird auf Konflikte im Anstreben der verschiedenen Nachhaltigkeitsziele verwiesen (Engebretsen et al. 2017); zum Teil entsteht eine kritisch-reflexive Beobachtung der Gesellschaft der Nachhaltigkeit (Neckel et al. 2018). Und schließlich lässt sich eine „zweite Welle“ der soziologischen Nachhaltigkeitsforschung identifizieren, die eine spezifisch soziologische Position stark machen will, indem sie jenseits von Transformationsoptimismus Nachhaltigkeit multiparadigmatisch verortet und Nachhaltigkeitshemmnisse reflektiert (Wendt et al. 2018; SONA 2021).

Während die Soziologie eher Schwierigkeiten hat, sich zu der normativen Forderung einer Großen Transformation zur Nachhaltigkeit zu positionieren, erschließt sich Digitalisierung ihr als Untersuchungsgegenstand direkt. Digitalisierung ist, mit Durkheim gesprochen, eine soziologische Tatsache – eine stille Revolution (Bunz 2012), die zum Zeitpunkt der Beobachtung bereits stattgefunden hat oder jedenfalls nicht mehr aufzuhalten ist. Entsprechend tut sich die Soziologie hier deutlich leichter. Zwar ist die Soziologie auch hier an neu entstehenden Forschungsansätzen wie den „digital humanities“ (Rehbein 2016) nicht unbedingt an vorderster Front beteiligt. Doch entstehen neben empirischen Untersuchungen zu spezifischen Einzelphänomenen, etwa dem Einfluss auf Familie (Feldhaus und Logemann 2014) oder der Praxis der Selbstvermessung (Duttweiler et al. 2016), früh gesellschaftstheoretische Analysen, also Untersuchungen von Veränderungen der Gesellschaft mit genuin soziologischen Mitteln. Digitalisierung wird weniger als Herausforderung der Leistungsfähigkeit der Soziologie diskutiert, sondern vielmehr anhand etablierter Analyseperspektiven des gesellschaftsstrukturellen Wandels, des Kapitals oder der Macht untersucht. Offensichtlich sind soziologische Konzepte so passend für die Untersuchung von Digitalisierung in ihrer Wirkung auf Gesellschaft, wie Digitalisierung anschlussfähig an die moderne Gesellschaft selbst ist.

Bereits in den 1990er-Jahren nimmt Niklas Luhmann die von ihm so genannten elektronischen Medien in seine Gesellschaftstheorie auf, indem er sie als Verbreitungsmedien (neben Schrift und Buchdruck) charakterisiert und damit auf ihr gesellschaftliches Strukturwandlungspotenzial verweist (Luhmann 1999). Dirk Baecker greift dies auf und versucht sich daran, die Konturen der entsprechend „nächsten“ Gesellschaft zu fassen (Baecker 2007). Armin Nassehi schließlich sieht in der digitalen Kultur weniger einen Wandel als eine Wiedereinführung der funktional differenzierten Gesellschaft in sich selbst, ein Sichtbarwerden der modernen Erfahrung, wie regelmäßig und berechenbar, wie musterhaft Verhalten geworden ist (Nassehi 2019). Neben diesem Fokus auf Digitalisierung als kommunikativem Medium gesellschaftlicher Transformation wird die Kapitaldimension von Digitalisierung soziologisch untersucht. Daten als Kapital, Besonderheiten einer digitalen kapitalistischen Wirtschaftsweise sowie die Wirkung auf Herrschaft und Arbeit schließen dabei an klassische soziologische Topoi an (Nachtwey und Staab 2015; Kirchner und Beyer 2016; Staab 2019; Zuboff 2019). Schließlich nimmt die Soziologie auch die Folgen der digitalen Transformation der Gesellschaft für leiblich-gesellschaftliche Seinsweisen in Raum und Zeit und für die Bestimmung des Menschlichen in den Blick (Lindemann 2014; Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018; Burow et al. 2019; Grunwald 2019).

Obwohl Nachhaltigkeit und Digitalisierung seit Jahrzehnten parallel verlaufen, explizit mit gesellschaftlichem Wandel verknüpft werden und Gegenstand soziologischer Beobachtung sind, liegen bislang keine Untersuchungen vor, die beide Phänomene auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene explizit miteinander verknüpfen. Wo Digitalisierung überhaupt mit Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht wird, handelt es sich vor allem um ökonomisch-technische Betrachtungen, die etwa einer CO2-Reduktion durch Videokonferenzen anstelle von Dienstreisen oder möglichen Effizienzgewinnen durch smarte Technologie nachgehen (Ong et al. 2014). Nachhaltigkeit wird hier in der Regel implizit mit technischer Effizienz gleichgesetzt. Im Zusammenhang mit smarter Technologie im weitesten Sinne – von der digitalen Korrespondenz via Smartphone bis hin zum Smart Home – werden mit Verweis auf Möglichkeiten des reduzierten Einsatzes von Energie oder materialen Ressourcen wie Papier Digitalisierung und Umweltfreundlichkeit in ähnlicher Weise ins Verhältnis gesetzt (als Überblick Grunwald 2019). Obwohl Rebound-Effekte, also der Mehrverbrauch einer Ressource infolge ihrer leichteren Verfügbarkeit (Binswanger 2001; Shove 2018), ebenso bekannt sind wie die negativen Umweltimplikationen der Herstellung bzw. Entsorgung digitaler Geräte (Baldé et al. 2017), und obwohl man auch von der durch Digitalisierung nochmals erhöhten Störanfälligkeit großtechnischer Systeme weiß (van Laak 2018, S. 221 ff.), erfolgt eine Verbindung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung in erster Linie über die Vorstellung technischer Effizienzgewinne durch Digitalisierung.

3 Die Materialität der Gesellschaft. Eine Erweiterung gesellschaftstheoretischer Analyse

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Dynamiken von Nachhaltigkeitswende und Digitalisierung wird eine Herausforderung für die soziologische Theorie offensichtlich: Wie kann es sein, dass eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung, trotz ihrer konstatierten Dringlichkeit, hinter den in umfassenden Aushandlungsprozessen selbst gesteckten und immer wieder bestätigten Zielen zurückbleibt, während sich ein gesellschaftlicher Wandel durch Digitalisierung wie von selbst zu vollziehen scheint? Zwar gibt es soziologische Thesen, warum Digitalisierung erfolgt – etwa: die Interessenallianz von digitalen Großunternehmen und Konsumenten im digitalen Kapitalismus proprietärer Märkte (Staab 2019) oder die Analogie zwischen Codierung und Programmierung in den Funktionssystemen der Gesellschaft wie in der Datentechnik selbst (Nassehi 2019, S. 326 und passim). Auch gibt es Thesen dazu, warum eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung im Ergebnis enttäuscht – etwa: die Hegemonie von Wohlfühlnarrativen einhergehend mit Denkverboten, die eine Verteidigung nicht-nachhaltiger Verhältnisse und Lebensstile stützen (Blühdorn 2020, S. 15 ff.). Umso vielversprechender wäre indes die gleichzeitige gesellschaftstheoretische Inblicknahme des Doppelphänomens eines gesellschaftlichen Wandels in Richtung Nachhaltigkeit einerseits, in Richtung Digitalisierung andererseits.

Die hier verfolgte These ist, dass sowohl die Dynamik der Digitalisierung als auch die der nachhaltigen Entwicklung mit der spezifischen Materialität der modernen Gesellschaft einhergeht. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich nicht nur aus durch Individualisierung, funktionale Differenzierung und bürokratische Rationalisierung, sondern parallel und in Co-Evolution auch durch das, was ich „autonome Materialität“ nennen möchte. Wenn die Soziologie bislang Nachhaltigkeit und Digitalisierung nicht gemeinsam in den Blick genommen hat, so könnte diese Leerstelle auch darin begründet liegen, dass mit Materialität ein prospektiv verbindendes Theorieelement nicht oder kaum in die Untersuchung gesellschaftlicher Evolution einbezogen wird. Indem die Soziologie sich über die Untersuchung des Sozialen disziplinär abgrenzt, fokussiert sie auf sinnhaftes soziales Handeln oder sinnhafte Kommunikation (Henkel 2014). Zwar ist mit der Akteur-Netzwerk-Theorie sowie allgemeiner noch mit den Praxistheorien eine Öffnung insofern erfolgt, als Materialität in die praktische Herstellung des Sozialen integriert wird (Reckwitz 2003). Jedoch verbleiben derartige Ansätze überwiegend auf der mikrosoziologischen Ebene der Interaktionsanalyse, was sich insbesondere aus dem methodischen, v. a. ethnografischen Fokus der Praxistheorien erklärt, Gesellschaftstheorie als soziologische Untersuchung übergreifenden gesellschaftlichen Wandels aber weitgehend unberührt lässt. Die Untersuchung der von Nachhaltigkeit und Digitalisierung geprägten gesellschaftlichen Entwicklung kann durch eine gesellschaftstheoretische Perspektive gewinnen, die die Materialität der Gesellschaft berücksichtigt.

Wie weitreichend die Konsequenzen einer Einbeziehung von Materialität für die Untersuchung des Sozialen sind, lässt sich für ein breites Spektrum soziologischer Ansätze zeigen (Henkel und Lindemann 2017). Für die hier angestellten Überlegungen wird aufgrund ihres gesellschaftstheoretischen Fokus jedoch die Perspektive einer materialitätstheoretisch erweiterten Systemtheorie gewählt (Henkel 2016b, 2017a). In diesem Abschnitt wird zunächst die These einer autonomen Materialität der modernen Gesellschaft entwickelt, die dann im folgenden Abschnitt als Voraussetzung der unterschiedlichen Prägung gesellschaftlicher Entwicklung durch Nachhaltigkeit und Digitalisierung ausgeführt wird.

Die Systemtheorie im Anschluss an Luhmann fasst das Soziale über Kommunikation (anstelle von Handlung) als kleinster Einheit, Gesellschaft wird definiert als Gesamtheit von Kommunikation. Wieso eine Kommunikation Anschluss findet, wie sich Erwartungszusammenhänge ausbilden und unter welchen Bedingungen Komplexität von Kommunikation und damit von Gesellschaft steigen kann, sind zentrale Fragen. Kommunikation ist dabei stets als sinnhafte Kommunikation verstanden. Sinn ist das Medium, in dem konkrete kommunikative Formen aktualisiert werden können. Über das Medium Sinn ist Gesellschaft zugleich mit sozialen Akteuren verbunden. Indem Gedanken ebenfalls im Medium Sinn selektiert werden, sind sinnhaft operierende Bewusstseinssysteme mit sinnhaft operierenden Kommunikationssystemen verbunden (Luhmann 1971; Luhmann 1999, S. 44 ff., S. 595 ff.).

Auf der Ebene von Gesellschaft lässt sich aus dieser Perspektive nach deren primärer Differenzierungsform fragen (Luhmann 1999, S. 609 ff.). Methodologisch dient die semantische Analyse, also die Untersuchung des Wandels gepflegter Semantik dazu, auf gesellschaftliche Strukturen rückzuschließen (Luhmann 1981b). Struktur bedeutet dabei die Erwartbarkeit bestimmter kommunikativer Anschlüsse. Die zentrale Frage gesellschaftstheoretischer Untersuchung ist, wie es dazu kommt, dass bestimmte soziale Strukturen erhalten bleiben – denn weil sinnhafte Kommunikation stets aneinander anschließt und dabei aus dem Horizont potenzieller Unterscheidung schöpfen kann, ist die Erwartung eines bestimmten kommunikativen Anschlusses mit jeder neuen Kommunikation enttäuschbar. Bei der Untersuchung gesellschaftlicher Evolution ist daher wichtig zu verstehen, welche Strukturen wie und warum derart abgesichert sind, dass sie in der Regel trotz steter Enttäuschungsmöglichkeit erhalten bleiben (Henkel 2010a).

Diese klassische Formulierung der Systemtheorie hat den die 1980er-Jahre dominierenden Linguistic Turn insofern mit vollzogen, als sie ausschließlich auf Kommunikation fokussiert. Das hat Konsequenzen für die gesellschaftstheoretische Analyse. Beobachtet wird der Wandel von einer primär segmentär differenzierten Gesellschaft hin zu einer primär stratifizierten Gesellschaft (Luhmann 1999, S. 634 ff., S. 678 ff.) sowie anschließend der Wandel hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der sich zentrale gesellschaftliche Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Politik als innergesellschaftliche Funktionssysteme schließen, indem sie sich ausschließlich an ihrer jeweiligen Leitunterscheidung orientieren und daraufhin spezifische Programme und Strukturen entwickeln (ebd., S. 743 ff.). Beispielsweise orientiert sich Wissenschaft an der Codierung wahr/unwahr, die nach systeminternen Richtigkeitskriterien entlang wissenschaftlicher Theorien und Methoden zugeordnet werden und auf die hin sich spezifische Strukturen und Institutionen ausbilden. Weder Zahlungen noch Recht oder politische Macht können verwendet werden, um eine spezifische Aussage als wahr oder unwahr zuzuordnen. Dies gilt vice versa auch für die anderen Funktionssysteme. Damit besteht eine gesellschaftliche Primärstruktur zwar verschiedener, im Verhältnis zueinander aber gleichrangiger gesellschaftlicher Funktionssysteme.

Gegenstand gesellschaftstheoretischer Analysen ist nicht nur die Typik gesellschaftlicher Strukturen, sondern auch die Frage, wie es zu einem Wandel der gesellschaftlichen Primärstruktur kommen kann. Da die Theorie sinnhafte Kommunikation als den Ausgangspunkt sozialtheoretischer Analyse setzt, liegt es nahe, die Antwort auf diese zentrale Frage in den Kommunikation betreffenden Aspekten zu suchen und zu finden: neue kommunikative Verbreitungsmedien erweitern demnach die Möglichkeiten und damit die Komplexität von Kommunikation, was dann zu einem Wandel der gesellschaftlichen Primärstruktur führt (ebd., S. 202 ff.). Entsprechend sei der Übergang von einer segmentären zu einer stratifizierten Gesellschaft durch die Einführung von Schrift ausgelöst worden, die eine größere Komplexität von Kommunikation ermöglicht, welche dann durch die stratifizierte Primärstruktur realisiert werden kann. Die Erfindung des Buchdrucks als weiterem Verbreitungsmedium sei Auslöser des Übergangs hin zur funktional differenzierten Gesellschaft. Dass systemtheoretisch früh über einen gesellschaftlichen Strukturwandel im Kontext von Digitalisierung nachgedacht wird, liegt vor diesem Hintergrund nahe (Baecker 2007). „Elektronische Medien“ (Luhmann 1999, S. 302 ff.) können sinnvoll als kommunikatives Verbreitungsmedium beobachtet werden, das wiederum Kommunikationsmöglichkeiten erweitert und damit erneut ein Komplexitätspotenzial eröffnet – auch wenn man darüber streiten kann, ob ein gesellschaftlicher Strukturwandel, der dieses Komplexitätspotenzial realisiert, bereits stattgefunden hat oder nicht (Henkel 2010b).

Die klassische Systemtheorie ist also sehr gut eingerichtet darauf, Digitalisierung als Auslöser grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen bzw. einer neuen Stufe gesellschaftlicher Evolution zu untersuchen. Sie kann auch eine Begründung liefern, wodurch Digitalisierung in der modernen Gesellschaft einen Umbruch bewirken kann: Weil die Gesellschaft über die binäre Codierung der Funktionssysteme selbst digital ist und sich nur digital verstehen kann, können Digitaltechniken an sie andocken (etwa, dort Binarität und Digitalität gleichsetzend: Nassehi 2019, S. 62). Ebenso kann sie vermuten, warum eine Transformation in Richtung Nachhaltigkeit nicht stattfinden wird: Weil nämlich ökologische Kommunikation in die Programme der Zuordnung der Codewerte der einzelnen Funktionssysteme aufgenommen werden müsste, um hier greifen zu können, was aber aus Gründen zu geringer „Resonanz“ der Gesellschaft mit ihrer Umwelt, verbunden mit zu großer innergesellschaftlicher Resonanz, pessimistisch gesehen wird (Luhmann 1986).Footnote 1 Hier endet die systemtheoretische Auseinandersetzung mit ökologischen Herausforderungen jedoch. Wie mit solchen Resonanzproblemen umgegangen werden könnte, was also Gelingensbedingungen von Nachhaltigkeit wären, zeigt sie ebenso wenig auf wie sie Digitalisierung und Nachhaltigkeit mit ihren möglichen Wechselwirkungen gleichzeitig in den Blick nimmt.

Beides kann dagegen ausgehend von einer materialitätstheoretischen Erweiterung der Systemtheorie gelingen, welche zugleich ein umfassenderes Verständnis gesellschaftlicher Evolution insgesamt erlaubt. Eine solche Erweiterung der Systemtheorie ist leicht möglich. Denn obwohl Kommunikation und die Ausdifferenzierung von Kommunikationsstrukturen in der Theorieentwicklung dominieren, ist Sinn der zentrale Grundbegriff der Theorie – wie bereits aus dem Titel der paradigmatischen Publikation Luhmanns „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“ deutlich wird (Luhmann 1971), die bis zu den späten Schriften als Referenz mitgeführt wird (etwa Luhmann 1999, S. 44). Der Sinnbegriff aber ist als Einheit der Unterscheidung von Aktualität und Potenzialität allgemeiner gefasst und nicht bereits auf symbolisch-sprachhaften Sinnausdruck enggeführt. Von hier aus ist eine materialitätstheoretische Erweiterung der Systemtheorie möglich. Wenn leib-körperhaftes Erleben im Horizont anderer Erlebnispotenziale erfolgt – also beispielsweise ein Geruch vor dem Hintergrund anderer Gerüche, ein körperlicher Abstand vor dem Hintergrund anderer möglicher Abstände etc. –, lässt sich dies als leib-körperhafter Sinnausdruck beobachten und mit symbolisch-sprachhaftem Sinnausdruck in Bezug setzen.Footnote 2

Diese Ergänzung erlaubt eine Erweiterung der soziologisch-systemtheoretischen Analysemöglichkeiten in mehrerlei Hinsicht. Zunächst kann das auf die kognitive Reproduktion von Gedanken reduzierte Bewusstseinssystem zu einem symbolisch-sprachhaften und leib-körperhaften Sinnausdruck reproduzierenden Selbstsein-System erweitert werden. Weiter erlaubt die Einbeziehung von leib-körperhaftem Sinnausdruck, nach dem Verhältnis beider zueinander zu fragen. Deutlich wird dann, dass Sinnausdrücke eine besondere Stabilität gewinnen, wenn symbolisch-sprachhafter und leib-körperhafter Sinnausdruck einen Eigenwert, d. h. ein dynamisches Gleichgewicht bilden, das von Veränderungen auf beiden Seiten störbar ist. Wenn symbolisch-sprachhafter und leib-körperhafter Sinnausdruck korrespondieren, entstehen eher entsprechend abgesicherte Erwartungsstrukturen – etwa wenn ein diffuses Unwohlsein angesichts eines zu nahen körperlichen Abstands mit dem symbolisch-sprachhaften Sinnausdruck des „Drängelns“ korrespondiert (s. dazu Henkel 2016b, 2017a). Dies gilt auch auf der Ebene höher generalisierten Sinns, etwa für symbolisch-sprachhafte Sinnausdrücke der Wissenschaft. Ein Anspruch auf Wahrheit erfordert in der Regel eine Korrespondenz mit leib-körperhaftem Sinnausdruck, also dem Erleben von etwas, das auch anders sein könnte – sei dies nun die Farbe einer Pflanze oder die Verfärbung eines Messstäbchens.

Bereits für klassische Gegenstände der semantischen Analyse wie die Veränderung von Zeitbegriffen (Luhmann 1981a) kann diese Ergänzung hilfreich sein, um die Entwicklung und Stabilisierung von Semantiken zu verstehen. Vor allem aber ist es damit möglich, die Materialität der Gesellschaft bei der Untersuchung gesellschaftlicher Evolution einzubeziehen. Abstrakt kann als Materialität gelten, was als System nicht mittels der Einheit der Unterscheidung von Aktualität und Potenzialität zu operieren beobachtet wird und daher nicht durch sinnhaftes Darauf-Eingehen, also kommunikativ beeinflussbar ist (im Unterschied zu Sozialität bzw. zur „sozialen Person“ als dem, was als Selbstsein-System beobachtet wird und damit in einer Situation doppelter Kontingenz in seinem Prozessieren sinnhaft beeinflussbar ist). Wie aber in diesem Sinne die Grenze zwischen Sozialität und Materialität gezogen wird, was gesellschaftlich als Materialität symbolisch-sprachhaft sowie leib-körperhaft unterschieden wird und wie dementsprechend mit dieser Materialität umgegangen wird, wandelt sich im Zuge gesellschaftlicher Evolution.

Bezieht man diese Frage nach der Materialität der Gesellschaft mit ein, erweitert sich zugleich das Analysepotenzial zur Untersuchung des Wandels der gesellschaftlichen Primärstruktur. Fokussiert man allein auf Semantik und damit auf symbolisch-sprachhaften Sinnausdruck, ist der zentrale gesellschaftliche Strukturwandel von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft etwa Mitte des 18. Jahrhunderts zu verorten (Luhmann 1999, z. B. S. 733 f.). Es beginnt hier die Orientierung von Kommunikation an funktionaler Codierung anstelle einer primär sozial stratifizierten Ordnung von Kommunikation. Bezieht man dagegen die Materialität der Gesellschaft mit ein, so wird deutlich, dass erst Ende des 19. Jahrhunderts ein Epochenwechsel sich vollzieht.

Seit der Antike und noch bis Ende des 19. Jahrhunderts ist die Materialität der Gesellschaft gekennzeichnet durch die Korrespondenz des symbolisch-sprachhaften Sinnausdrucks der Vier-Elemente-Lehre mit dem leib-körperhaften Sinnausdruck direkter menschlicher sinnlicher Wahrnehmung. Beispielsweise wird der Gesundheitszustand eines Körpers über das Gleichgewicht der vier Elemente bzw. der mit diesen korrespondierenden Körpersäften bestimmt (Schmitz 1998, S. 115 ff.; Henkel 2011, S. 66 ff.). Auch die Eigenschaften des Bodens und die Anforderungen an den Umgang mit ihm ergeben sich von Cicero über die Hausväterliteratur bis ins 19. Jahrhundert aus einer Bestimmung der Terra entlang der Vier-Elemente-Lehre und der Untersuchung ihrer Farbe, ihres Geschmacks, Geruchs etc. (vgl. etwa Winiwarter 1999).

Diese Materialität der Gesellschaft wandelt sich jedoch erheblich später als die gesellschaftlichen (Leit‑)Semantiken, nämlich erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen und die Orientierung von Kommunikation an binärer Codierung haben nicht unmittelbar breite Auswirkungen auf die Materialität der Gesellschaft und entsprechend auf den Umgang der Gesellschaft mit ihrer Materialität. Obwohl eine Agrarchemie chemische Düngemittel entwickelt und Boden und Pflanzenwachstum neu definiert, bleibt es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bei einer Landwirtschaft entlang einem aus der Vier-Elemente-Lehre begründeten Verständnis von Boden, Bodenpflege und Pflanzenanbau (Henkel 2017b).

Erst Ende des 19. Jahrhunderts, und damit erheblich später als aus einem rein auf symbolisch-sprachhaften Sinnausdruck fokussierten Verständnis gesellschaftlicher Evolution heraus angenommen, entsteht eine für die funktional differenzierte Gesellschaft spezifische Materialität (die zugleich auf die funktionale Differenzierung zurückwirkt). Indem eine ausdifferenzierte Wissenschaft Materialität über standardisierte Eigenschaften bestimmt, indem politisch-rechtlich Eigenschaften von Materialität als Bedingung für deren Inverkehrbringen reguliert werden und indem entsprechend standardisiert-regulierte Materialität zu einer wirtschaftlichen Ware werden kann, bildet sich ein spezifischer Zugriff auf Materialität in der funktional differenzierten Gesellschaft heraus, die als autonome Materialität bezeichnet werden kann. Denn indem Eigenschaften von Materialität wissenschaftlich standardisiert, politisch-rechtlich reguliert und wirtschaftlich kommodifiziert sind, wird Materialität unabhängig sowohl von einer an Personen gebundenen sinnlichen Bestimmung von Eigenschaften als auch von einer an konkrete Personen oder Berufsrollen gebundenen Qualitätsgarantie (Henkel 2017a).

Diese drei Elemente müssen zusammenkommen. Eine wissenschaftliche Standardisierung von Eigenschaften ist nicht ausreichend, damit etwas als autonome Materialität vorliegt. Es bedarf der Verbindung mit Regulierung und Warenbildung, damit etwas als Arzneimittel, Lack, Fruchtsaftgetränk, Baustoff, Kunstdünger oder auch Software vorliegt. Die Materialität der Gesellschaft wird dabei insgesamt als autonome Materialität wiedererfunden. Auch ein Baum, ein Gewässer oder ein Boden muss wissenschaftlich standardisiert, politisch-rechtlich reguliert und ökonomisch kommodifiziert sein, damit gesellschaftlich darauf als Materialität zugegriffen werden kann. Selbst dann, wenn es darum geht, etwas vor einer Vereinnahmung zu schützen, muss dieses beispielsweise als Naturschutzgebiet bezeichnet und dazu als solches standardisiert, reguliert und gewissermaßen negativ als „Nicht-Ware“ kommodifiziert werden. Die leib-körperhaften Sinnausdrücke in den Eigenwerten autonomer Materialität sind nun über wissenschaftlich-standardisierende Verfahren vermittelt – die Einschätzung eines Bodens beispielsweise erfolgt nicht mehr über das Anfassen, Riechen und Schmecken, sondern u. a. über die Einordnung etwa in die standardisierten Farbskalen des Pedokomparators (zu dieser Verdichtung am Gegenstand Boden vgl. etwa Latour 1999). Das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Standardisierung, politisch-rechtlicher Regulierung und ökonomischer Warenbildung erzeugt eine autonome Materialität, der im Alltag ein Systemvertrauen (Luhmann 2000) entgegengebracht wird und faktisch werden muss. Individuelle Wahrnehmung ist damit außerhalb von wenigen professionellen Bereichen für Genuss, Ästhetik oder schlicht Konsum freigestellt, was nur in Ausnahmefällen vermittelt über die Warenbildung auf die Eigenwertbildung zurückwirkt.

Autonome Materialität setzt funktionale Differenzierung voraus – und trägt zugleich in doppelter Weise zu eben dieser Ausdifferenzierung bei: Erstens gibt sie Anlass zu funktionssystemischem Operieren. Wissenschaft untersucht Eigenschaften, bestimmt diese, grenzt sie ab und findet so in der Standardisierung von Materialität Möglichkeiten der funktionssystemisch codierten Kommunikation. Dies gilt auch für Politik und Recht, etwa über die Entwicklung einer Patentgesetzgebung, einer Gesetzgebung zum Schutz der Waren- und Markenbezeichnungen oder über auf Materialität bezogene Gesetze wie das Bundesbodenschutzgesetz. Die Regulierung von Materialität bietet mithin reichlich Anlass für rechtliche und politische Kommunikation. Auch die Ökonomie findet in der Entdeckung von neuen, potenziell zahlungsgenerierenden Waren Anlass für Kommunikation und Ausdifferenzierung immer spezifischerer Produktmärkte.

Autonome Materialität gibt aber nicht nur funktionssystemspezifisch Anlass zu Kommunikation, sie fungiert außerdem als strukturelle Kopplung zwischen Funktionssystemen. Insbesondere für den Bereich der Wissensregulierung wurde vielfach herausgearbeitet, dass und wie die Entstehung wissenschaftlichen Wissens und die politisch-rechtliche Regulierung wissenschaftlichen Wissens sich wechselseitig irritieren (Jasanoff 1995; Hiller et al. 1997; Bora 2002; Jasanoff 2004; Bora 2009). Wenn unerwünschte Entwicklungen auffallen – beispielsweise explodierende Dampfkessel, erhöhte Krebserkrankungsraten in bestimmten Produktionsstätten oder die Verwendung von Benutzerprofildaten – greift politische Regulierung auf wissenschaftliches Wissen für die Bestimmung etwa von Verantwortung im Schadensfall, Grenzwerten oder Einverständniserforderlichkeiten zurück, was wiederum wissenschaftliche und wirtschaftliche Kommunikation irritiert. Gerade weil sie Anlass zu Kommunikation in allen drei Funktionssystemen bietet, fungiert autonome Materialität als wechselseitiger Irritationskanal. Eine wissenschaftlich neu entdeckte Eigenschaft kann zahlungs- und regulierungsrelevant sein; die Bildung einer neuen Ware kann Regulierung erfordern; Regulierung kann wissenschaftliche Kommunikation anregen.

Hält man sich diese Doppelfunktion autonomer Materialität als Kommunikationsanlass und strukturelle Kopplung vor Augen, liegt die Vermutung nahe, dass sich funktionale Differenzierung erst mit der Durchsetzung autonomer Materialität endgültig etablieren konnte. Zugleich lässt sich nun die ungleiche Entwicklung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit zueinander in Bezug setzen.

4 Umbruch durch Digitalisierung und stockende Transformation zur Nachhaltigkeit als Konsequenz autonomer Materialität. Das Beispiel des Digital Farming

Die autonome Materialität der modernen Gesellschaft bietet Kommunikationsanlässe und ermöglicht als intersystemischer Irritationskanal erfolgreiche Abstimmungsprozesse. Dies hat gesellschaftlich betrachtet Vorteile, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff des Fortschritts zusammengefasst werden: Für jedes Problem und jeden Wunsch lässt sich gesellschaftliche Kommunikation mobilisieren und bündeln, wenn und soweit es gelingt, daraufhin eine autonome Materialität zu schaffen. Für das Problem der Ernährungssicherheit ist die autonome Materialität des Kunstdüngers eine Lösung, für das Problem der Mandelentzündung die autonome Materialität des Antibiotikum-Arzneimittels, für den Wunsch nach Fernreisen die autonome Materialität des Flugzeugs etc. Gesellschaftliche Integration verstanden als Verkopplung gesellschaftlicher Funktionssysteme, plus das Vermögen, Probleme und Wünsche direkt zu bearbeiten und gar zu befriedigen: Dies begründet das Erfolgsmodell der funktional differenzierten Gesellschaft.

Dieser Erfolg hat jedoch einen Preis. Das Gelingen der intersystemischen Abstimmung wird damit erkauft, dass alles, was nicht in die Form einer autonomen Materialität gebracht werden kann, weniger oder gar keine Resonanz erzeugt. Dies bringt eine gewisse Asymmetrie im Zusammenwirken der Funktionssysteme mit sich. Funktionssysteme, die auf Entwicklung von Personen ausgerichtet sind – wie etwa Erziehung oder Religion, aber auch Pflege oder Medizin – und die daher traditionell auf professionellen Arbeitsbündnissen (Oevermann 1996) beruhen, können Probleme oder Wünsche nicht ohne weiteres derart de-kontextualisieren, dass sich dafür an einer autonomen Materialität als Lösung arbeiten ließe. Zwar lassen sich auch hier de-kontextualisierende Standardisierungsprozesse beobachten, die entsprechend informatisiert werden. Jedoch stärkt dies anstelle der funktionssystemspezifischen Kommunikation eine Verwissenschaftlichung, Verrechtlichung und Ökonomisierung entsprechender Kontexte, was die hier professionell handelnden Lehrer, Ärzte, Apotheker, Pfarrer oder Pfleger in einen Double-Bind zwischen professionellem Ethos und standardisierten Leistungsanforderungen bringt, entsprechende Organisationen sukzessive in Richtung einer primären Marktorientierung führt und betroffene Funktionssysteme zur Reflexion ihrer Selbstbeschreibungen zwingt (vgl. exemplarisch Leidig 1997; Karle 2009; Schniering 2016; Sandermann 2018). Digitalisierung und Nachhaltigkeit verhalten sich zu autonomer Materialität in geradezu gegensätzlicher Weise, wie im Folgenden zunächst abstrakt und dann am empirischen Gegenstand des Digital Farming ausgeführt wird.

4.1 Digitalisierung befördert autonome Materialität

Digitalisierung setzt autonome Materialität voraus und befördert diese. Indem Materialität als eine standardisierte, regulierte und damit kommodifizierbare autonome Materialität vorliegt, ist es möglich und liegt es nahe, diese gemäß der Rationalität der Berechenbarkeit neu zu konstituieren und in diesem Sinne digital abzubilden (für den analogen Prozess der Quantifizierung vgl. Porter 1996). Durch die Standardisierung sind die Eigenschaften exakt bestimmt. Dies gilt auch und gerade für die Position einer autonomen Materialität in Zeit und Raum, die im Rahmen einer objektivierten Weltzeit bzw. eines objektiviert vermessenen Raums gefasst werden (Gugerli 1998; Lindemann 2014). Nur aufgrund dieser spezifischen Materialität der Gesellschaft ist es möglich, die materiale Bühne des Sozialen digital abzubilden. Dass dies gelingt, hat mit Blick auf die erhofften Problemlösungen bzw. Wunscherfüllungen erhebliche, zunächst positive Effekte: Die digitale Abbildung einer industriellen Fertigungsstätte, eines Logistikzentrums oder auch eines Gastronomiebetriebs erlaubt, Abläufe automatisiert zu kontrollieren und zu steuern, mögliche Szenarien zu simulieren und automatisch-robotisch-intelligente Systeme in die Prozesse einzubinden. Autonomes Fahren, digitales Wohnen oder der Einsatz von Robotern in der Pflege – all das sind realistische Möglichkeiten, wenn und soweit die Materialität der analogen Welt möglichst vollständig digital abgebildet ist (als Überblick vgl. Grunwald 2019).

Digitalisierung setzt an autonomer Materialität an, indem durch die Eindeutigkeit der standardisierten, regulierten und kommodifizierten Materialität deren digitale Abbildung möglich ist. Zugleich verstärkt Digitalisierung die Selbstbeobachtung und die Selbststeuerung der Gesellschaft, wiederum vermittelt über autonome Materialität. Um digital abbildbar zu sein, sind umfangreiche Daten für den jeweiligen Gegenstand bzw. das jeweilige Problem erforderlich. Dies ist vergleichsweise einfach realisierbar, wenn es darum geht, eine autonome Materialität – etwa einen menschlichen Körper, ein Tier oder ein Frachtgut – im digitalen Raum zu orten. Es gelingt dies schon lange und erfolgreich. Auch relativ überschaubare und ohnehin technisierte Umgebungen wie eine Fabrikationsstätte oder eine Logistikhalle lassen sich zum Zwecke der Steuerung ausreichend genau digital abbilden. Schwieriger wird es bei Straßen, Städten oder gar Feldern und Wäldern. Unter Stichworten wie denen des autonomen Fahrens, der Smart City oder des Digital Farming wird aber genau dies, eine für die Steuerung ausreichende digitale Abbildung, angestrebt.

Eine solche umfassende Selbstbeobachtung von Gesellschaft über eine digital vermittelte autonome Materialität ist außerordentlich folgenreich. Indem Materialität im Medium der Berechenbarkeit neu konstituiert wird, verändert sie, wie es bei jeder Umwandlung von einem Medium in ein anderes der Fall ist, ihren Charakter; Eigenschaften gehen verloren, werden verändert oder werden neu in die medial differente Abbildung aufgenommen (zur Veränderung von Gegenständen in Umwandlungsprozessen vgl. bspw. Latour 1999 mit Fokus auf wissenschaftliche Standardisierung, Bretzke 1980 mit Fokus auf Entscheidungsmodelle). Für die digitale Abbildung müssen Diffusität, Ambivalenz und Vernetztheit im Sinne von Eindeutigkeit aufgelöst werden. Die digitale Abbildung ist daher notwendig unvollständig. Trotzdem auf Grundlage dieser digitalen Abbildung in der analogen Welt zu steuern oder generell zu handeln, führt zwangsläufig zu selbsterfüllenden Prophezeiungen, indem die analoge Welt behandelt wird, als entspräche sie der digitalen Abbildung. Dies mag im ersten Schritt Steuerung und Kontrolle vereinfachen. Wenn wesentliche Elemente jedoch fehlen, verändert oder ergänzt wurden, so bringt dies mittelfristig Schwierigkeiten mit sich. Bei der Steuerung und Kontrolle sozialen Handelns etwa im Kontext von Organisationen, stark technisch geprägten öffentlichen Orten wie Flughäfen oder in autokratisch regierten Staaten mag dies durchaus erwünscht sein (auch wenn es möglicherweise zu unerwünschten stressbedingten Überschusshandlungen führt, vgl. etwa Henkel und Peters 2019). Unter anderen Umständen kann die digitale „Wiedererfindung“ der Außenwelt (zum Begriff der Wiedererfindung vgl. Bayart 1994) jedoch schwerwiegende unerwünschte Folgen haben. In der Mensch-Technik-Interaktion tendieren, wie Studien in der Sozialrobotik zeigen, Menschen dazu, derartige Fehler sozusagen taktvoll auszugleichen (Lindemann und Matsuzaki 2014). Dies kann aber nicht immer gelingen.

Zusammenfassend: Digitalisierung setzt an autonomer Materialität an, indem festgestellte Eigenschaften eine digitale Abbildung ermöglichen. Die aus der digitalen Abbildung gewonnenen Kontroll‑, Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten tragen zu einer immer weiterreichenden Ausweitung von autonomer Materialität in der analogen Welt zwecks digitaler Abbildung bei. Diese digitale „Wiedererfindung“ bleibt jedoch notwendig unvollständig sowie potenziell fehlerhaft, als die Standardisierung, Regulierung und Kommodifizierung von etwas als autonomer Materialität stets kontingenzbehaftet ist und die Rationalität der Berechenbarkeit eigene Anforderungen stellt. Die Abgrenzung könnte anders erfolgen, die Zusammenstellung der Eigenschaften könnte unvollständig sein, technisch Machbares drängt sich auf. Wenn gleichwohl die derart idealisierte bzw. verkürzte digitale Abbildung als Grundlage für das Handeln in der analogen Welt dient, kann dies Fehlanpassungen mit sich bringen, die möglicherweise erst spät auffallen und dann bereits zu weitreichenden Veränderungen dessen, was da digital wiedererfunden wurde, geführt haben. Bezogen auf konkrete Akteure können solche negativen Effekte externalisiert werden – gesamtgesellschaftlich werden sie damit umso problematischer.

4.2 Nachhaltigkeit thematisiert Rückwirkungen unberücksichtigter Komplexität

Nachhaltigkeit verhält sich zu autonomer Materialität genau umgekehrt: Zwar bezieht sie sich ebenfalls auf autonome Materialität, jedoch indem sie als diskursives Konzept auf die negativen Rückwirkungen eines Handelns auf deren Grundlage verweist. Bei einer Transformation zur Nachhaltigkeit geht es darum, solche Rückwirkungen zu berücksichtigen. Das „Wie“ dieser Berücksichtigung ist zwar offen – aber solange negative Rückwirkungen bestehen, bleibt es bei der Problemdiagnose (wenngleich möglicherweise unter sich wandelnden Begriffen, etwa denen des Klimawandels oder des Anthropozäns).

Der Begriff der Nachhaltigkeit entsteht im Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft und lässt sich als Gegenstück zum Begriff des Fortschritts betrachten. Solange ein Weltverständnis besteht, in dem alles kosmologisch miteinander verbunden ist, bedarf es eines Begriffs der Nachhaltigkeit nicht. Das Prinzip, Wechselwirkungen, Kontexte und tiefer liegende Abhängigkeiten zu berücksichtigen, ist im Weltverhältnis ohnehin schon eingeschrieben. Damit ist nicht gesagt, dass dies gelingt. So ist beispielsweise die Übernutzung der Böden in der Antike und im Mittelalter eine bekannte Tatsache (etwa Montgomery 2007). Trotzdem entsteht der Begriff der Nachhaltigkeit erst im Kontext einer autonomen Materialität der Gesellschaft und den in diesem Zusammenhang auftretenden Problemen. Herausgelöst aus sozialen und kosmologischen Beziehungen kann autonome Materialität individuell optimiert und genutzt werden. Mit dieser Optimierung und gezielten Nutzung entstehen jedoch die genannten Schwierigkeiten, die frühzeitig als Begleiterscheinung dieser spezifischen Umgangsweise mit Materialität identifiziert wurden. Der Begriff der Nachhaltigkeit wird benutzt, um solche unerwünschten Effekte zu thematisieren, mit dem expliziten Ziel, diese Effekte durch eine Veränderung der Nutzungs- bzw. Handlungsweisen zu vermeiden. Nachhaltigkeit, so könnte man sagen, problematisiert in rationaler Weise die Irrationalitäten von Rationalität, die mit der autonomen Materialität der Gesellschaft einhergehen. Es wird hier der analytische Mehrwert einer materialitätstheoretischen Erweiterung der Systemtheorie deutlich: Während eine rein semantisch interessierte Systemtheorie ökologische Kommunikation lediglich in ihrer Erfolglosigkeit beobachten kann (s. oben, Abschnitt 2), erlaubt die Einbeziehung der Materialität der Gesellschaft, die Funktion der Nachhaltigkeit zu bestimmen und Hemmnisse sowie Gelingensmöglichkeiten einer Transformation zur Nachhaltigkeit näher zu bestimmen.

Bereits die erste deutschsprachige Verwendung des Nachhaltigkeitsbegriffs erfolgt als Problematisierung einer bezogen auf eine autonome Materialität irrationalen Folge von Rationalität: Angesichts einer drohenden Übernutzung von Forstbeständen im Zuge frühindustrieller Fertigung wird eine „nachhaltige“, solche Übernutzung vermeidende Forstwirtschaft gefordert (Carlowitz et al. 2013 [1713]). Zu Beginn der 1960er-Jahre thematisiert Rachel Carson die nicht-intendierten Nebenfolgen der industrialisierten Landwirtschaft und trägt mit ihrem vielbeachteten Buch Silent spring zu einem entsprechenden Diskurs bei (Carson 1962). Der Bericht an den Club of Rome plädiert dafür, vor der Einführung von Maßnahmen jeweils deren „Nebenwirkungen sozialer und physikalischer Art“ (Meadows et al. 1972, S. 140) zu reflektieren. Und auch in der neueren Fokussierung des Nachhaltigkeitsdiskurses auf Klimawandel sowie im Konzept des Anthropozäns sind die nicht intendierten, aber unterdessen absehbaren und potenziell irreversibel zerstörerischen Rückwirkungen von Modernisierung auf Materialität zentraler Fokus.

Allerdings gibt Nachhaltigkeit als bloße Thematisierung unerwünschter Rückkopplungen nicht selbst bereits Anlass zu systemspezifischer Kommunikation oder zu struktureller Kopplung. Der Ruf nach Nachhaltigkeit als Hinweis auf Probleme und als Aufforderung zu deren Bearbeitung verhallt zwar nicht ungehört. Zu funktionssystemspezifischer Kommunikation führt er jedoch nur, wenn diese sich entlang ihrer eigenen Codierung selbst irritiert – wenn Zahlung ausfällt oder wenn politische Wahlen verloren zu werden drohen. Es sind aber typischerweise konkrete Probleme, die in dieser Weise Kommunikation auslösen, nicht ein allgemeines Desiderat systemischen Wandels – da ein solcher Wandel erwartbarerweise seinerseits funktionssystemspezifisch irritierende Kommunikation auslösen würde, etwa als wirtschaftliche Zahlung beeinträchtigende Regulierung oder als politische Wahlen gefährdende Akzeptanzprobleme. Nachhaltigkeit verweist anhand konkreter Probleme mit autonomer Materialität auf Irrationalitäten von Rationalität und führt somit beides mit, das konkrete Problem und das grundsätzliche Erfordernis der Berücksichtigung von Komplexität. In der gesellschaftlichen Kommunikation anschlussfähig sind jedoch vor allem die konkreten Probleme, wenn und insoweit sie eine funktionssystemische Selbstirritation auslösen.

Entsprechend sind es dann auch vor allem die konkreten Probleme, die ausgehend von einer funktionssystemischen Irritation gesellschaftliche Resonanz, also eine innergesellschaftliche wechselseitige Irritation der Funktionssysteme auslösen (Luhmann 1986; Henkel 2017c). Die stabile Bearbeitung dieser Probleme aber bedarf stabiler struktureller Kopplungen, womit sich der zentrale Mechanismus zur Problemlösung und Wunscherfüllung der funktional differenzierten Gesellschaft geradezu aufdrängt, nämlich autonome Materialität.

Damit wird sowohl erklärbar, warum Nachhaltigkeit als Begriff so vielfältig ist und ohne weiteres Digitalisierung für sich Nachhaltigkeit in Anspruch nehmen kann, als auch, warum eine Transformation zur Nachhaltigkeit ihre Ziele tendenziell verfehlt. Im Zuge von Modernisierung entstehen Rückkopplungseffekte aus der Orientierung an notwendig unvollständig spezifizierter autonomer Materialität. Der Nachhaltigkeitsbegriff weist auf solche Irrationalitäten von Rationalität hin, und es entstehen Ansätze, die daraus das Erfordernis eines generellen Neuansatzes oder Systemwandels ableiten – eben dies wird über den klassischen Ansatz der ökologischen Kommunikation hinaus in einer materialitätstheoretisch erweiterten systemtheoretischen Perspektive sichtbar. Der Begriff „Degrowth“ bringt die Irrationalität von Rationalität auf den Punkt, indem das Fortschrittspostulat des Wachstums zentriert und negiert wird. Für die Bearbeitung von Problemen liegt jedoch der neuerliche Rekurs auf autonome Materialität nahe – was wiederum erfordert, Nachhaltigkeit auf standardisierbare, regulierbare und kommodifizierbare Eigenschaften festzulegen. Eigenschaften wie ein geringerer Energieverbrauch oder Emissionsausstoß („CO2-reduziert“, „effizienter durch Smart Technologies“) erfüllen dieses Erfordernis (anders als Forderungen nach Konsumverzicht, Kreislaufwirtschaft oder Lieferkettenregulierung). Damit einher geht ein Verständnis von Nachhaltigkeit als ökologischer Modernisierung, „tripple bottom line“ oder Green New Deal, das davon ausgeht, mit einer solchen an autonomer Materialität ansetzenden Problembearbeitung dem Gesamtproblem insgesamt beikommen zu können. Insoweit dies nicht gelingt, kann ein auf Rückkopplungen verweisendes Nachhaltigkeitsverständnis genau dies problematisieren, beispielsweise als Rebound-Effekte, und auf resultierende Probleme verweisen, beispielsweise auf Klimawandel. Dies ändert aber nichts daran, dass auch die Bearbeitung eines derart komplexen Problems wie dem Klimawandel die Festlegung auf eine autonome Materialität nahelegt – dementsprechend die diskursive Festlegung auf die Reduktion von CO2. Indem ein auf Rückkopplung fokussierendes Nachhaltigkeitsverständnis nur in vergleichsweise begrenztem Maße stabile strukturelle Kopplungen zur Problembearbeitung hervorbringt, ein auf autonome Problemlösungs-Materialität fokussierendes Nachhaltigkeitsverständnis dagegen zwar stabil koppelt, damit aber wiederum Rückkopplungen auslöst und das Gesamtproblem nicht zu lösen vermag, bleiben diese beiden grundlegend verschiedenen Verständnisse von Nachhaltigkeit nebeneinander bestehen. Und kommt es zwar zu auf Einzelprobleme fokussierten Maßnahmen, aber zu keiner Transformation hin zur Nachhaltigkeit im angestrebten Sinne – ob diese nun als Erreichen globaler CO2-Neutralität, Einhaltung der Sustainability Goals oder eben generalisiert als Erreichen einer Konstellation verstanden wird, in der Bedürfnisse so befriedigt werden, dass sie sowohl global gerecht sind als auch gewährleisten, dass auch künftige Generationen ihre Bedürfnisse befriedigen können.

4.3 Digital Farming

Angesichts der im Vorstehenden skizzierten Konstellation Digitalisierung als Lösung von unter dem Stichwort Nachhaltigkeit verhandelten Problemen vorzuschlagen, ist naheliegend, wiederholt aber nur einmal mehr die Geschichte der Moderne: Digitalisierung setzt an autonomer Materialität an und verstärkt deren Kontroll‑, Steuerungs- und Effizienzpotenziale. Doch eine erfolgreiche strukturelle Kopplung zur Bearbeitung von Einzelproblemen garantiert keineswegs eine erfolgreiche Bearbeitung des Rückkopplungsproblems insgesamt – eine Verstärkung dieses Problems ist mindestens ebenso möglich. Dieser Zusammenhang und damit die Plausibilität der hier aus der Perspektive einer materialitätstheoretisch erweiterten Systemtheorie entwickelten These lässt sich am Digital Farming exemplarisch aufzeigen.

Die Digitalisierung der Landwirtschaft beginnt in den 1980er-Jahren mit dem sogenannten „precision farming“, der Präzisionslandwirtschaft. Dabei wird eine digitalisierte Karte mit Bodeneigenschaften mit dem bodenbearbeitenden Gerät verbunden, was erlaubt, die Verteilung von Düngemitteln oder Pestiziden an variable Bodenbedingungen anzupassen. Davon zu unterscheiden ist Smart Farming, bei dem über Sensoren Echtzeitdaten etwa über Wasser- oder Nährstoffbedarf an ein digitales Endgerät gesendet werden. Digital Farming bezeichnet eine Systemtechnik, die diese beiden Elemente miteinander sowie außerdem mit dem Internet der Dinge, Cloud Computing, Big Data bzw. KI und Robotik verbindet (vgl. zur Digitalisierung der Landwirtschaft etwa Auerheimer 2006; Gebbers und Adamchuk 2010; King 2017; Walter et al. 2017).

Eine solche Digitalisierung der Landwirtschaft mag auf den ersten Blick revolutionär neu erscheinen. Aus der oben entwickelten gesellschaftstheoretischen Perspektive zeigt sich jedoch, dass Digitalisierung einen bereits laufenden gesellschaftlichen Wandel lediglich fortsetzt – mit bekannten Möglichkeiten insbesondere des Effizienzgewinns und mit bekannten Risiken und Gefahren mit Blick auf Nachhaltigkeit.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts basiert Landwirtschaft auf einem Verständnis von Terra, das wesentlich durch den Gebrauch bestimmt ist. Bezugspunkt ist dabei der fruchtbare Oberboden. Zentral ist die Grundüberlegung, dass sich die Landwirtschaft auch ohne besondere Vorkenntnisse direkt erschließt, weil der Boden anzeigt, welche Pflanzen auf ihm wachsen, wann zu sähen und zu pflügen, ob und wie weit zu düngen und zu wässern ist (vgl. etwa Xenophon 2008, S. 97 ff.). Eigenschaften erschließen sich leib-körperhaft über die menschliche sinnliche Wahrnehmung, wobei Wahrgenommenes symbolisch-sprachhaft als Zeichen im Sinne der Vier-Elemente-Lehre interpretiert wird. Entsprechende Methoden der Bodenprüfung wurden bereits in der antiken Literatur beschrieben (etwa Vergil 2010, S. 52 f.) und werden teilweise noch heute in der ökologischen Landwirtschaft verwendet (Winiwarter 1999). Auch die Vorgehensweisen bei der Bodenbearbeitung ergeben sich aus der Verbindung von sinnlicher Wahrnehmung und Interpretation entlang dem kosmologischen Weltverständnis. Das Verhältnis von Feuer, Wasser, Erde und Luft gilt es, mittels Düngung, Bewässerung, Entwässerung oder Pflügen so im Gleichgewicht zu halten, dass der Boden das hervorbringen kann, wofür er geeignet ist (ebd.).

Dieses grundsätzliche Verständnis von Terra, die damit verbundenen Herangehensweisen und Techniken der Bodenbearbeitung bleiben bis ins ausgehende 19. Jahrhundert im Wesentlichen erhalten. Mit der funktional differenzierten Gesellschaft verändert es sich jedoch. Aus der vormals pluralen Terra entstehen drei autonome Materialitäten, nämlich Boden, Pflanzenernährung und Fläche, jeweils standardisierend bestimmt durch eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, eigenständig reguliert und handelbar: Die Pedologie hat als neue wissenschaftliche Disziplin erstmals den „Boden als solchen“ zum Gegenstand (Giesecke 1929), nicht einen immer schon auf landwirtschaftliche Nutzung hin gedachten Ackerboden. Relativ spät entwickelt sich eine direkt auf den Boden bezogene Regulierung, etwa in Deutschland das Bundes-Bodenschutzgesetz in den 1990er-Jahren. Pflanzenwachstum wird mit der Agrarchemie durch Fokus auf mineralische Pflanzenernährung separat vom Boden wissenschaftlich untersucht. An die Stelle einer „Bodengare“ tritt die autonome Materialität des pflanzenspezifischen Mineral-Kunstdüngers, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts reguliert und warenförmig vermarktet wird. Die wissenschaftliche Disziplin der Geografie standardisiert Fläche als autonome Materialität, reguliert über Kataster und Grundbuch. Fläche wird so unabhängig von Bodenbearbeitung oder auch nur persönlicher Anwesenheit als Ware handelbar (Henkel 2017b). Sinnliche Wahrnehmung spielt allenfalls indirekt noch eine Rolle, wenn ein schön stehendes Getreide mit dem der benachbarten Landwirte verglichen wird und Entscheidungen etwa über den Einsatz von Düngemitteln sich auch an solchen ästhetischen Vergleichskriterien orientieren. In der Eigenwertbildung korrespondieren als leib-körperhafte Sinnausdrücke vor allem die ihrerseits standardisierten Mess‑, Analyse- und Vergleichsreaktionen mit den symbolisch-sprachhaften Sinnausdrücken der Wissenschaft, auf welche die Sinnausdrücke der Regulierung und Warenbildung zurückgreifen und zurückwirken.

Diese Genese der autonomen Materialitäten Boden, Pflanzenernährung und Fläche setzt gesellschaftliche Differenzierung voraus, bedarf es doch der Auflösung einer Verflechtung von Boden und Gesellschaftsstruktur sowie zur Standardisierung, Regulierung und Warenbildung ausdifferenzierter Funktionssysteme. Umgekehrt trägt die Entwicklung der multiplen Materialität der Terra zu eben jenen gesellschaftlichen Veränderungen bei, erfordert doch Individualisierung eine Freiheit von der Scholle, und geben Boden, Pflanzenernährung und Fläche als autonome Materialitäten doch Anlass zu funktionssystemspezifischer Kommunikation.

Auf diese gesellschaftsbezogenen Implikationen sei hier nicht näher eingegangen. Mit Fokus auf Landwirtschaft wird deutlich, dass sich mit den autonomen Materialitäten Boden, mineralische Pflanzenernährung und standardisierte Fläche die landwirtschaftlichen Praktiken grundsätzlich verändern. An die Stelle einer persönlichen Kenntnis des Bodens, vermittelt über sinnliche Wahrnehmung, tritt die wissenschaftliche Bodenanalyse, die etwa den Mineralstoffgehalt oder auch andere Parameter wissenschaftlich analysiert (Uekötter 2010, S. 243 ff.). Parallel erfolgt eine Mechanisierung der Landwirtschaft, die größere Flächen effizienter zu bearbeiten ermöglicht und die Umstellung auf eine mit Kunstdünger operierende Landwirtschaft erst erlaubt (ebd., S. 277 ff.).

Mit diesem Wandel des landwirtschaftlichen Regimes wird nicht nur der traditionelle Wirtschaftsdünger durch den industriellen Kunstdünger und das Pferd durch den Traktor ersetzt. Es verändert sich auch grundsätzlich das Wissen, das erforderlich ist, um einen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen. Kenntnisse der Chemie sind nun ebenso vonnöten wie moderne Managementkenntnisse (Seidl 2014, S. 193 ff.). Hinzu kommt, dass der einzelne landwirtschaftliche Betrieb nun nicht mehr eine zumindest potenziell autarke Einheit darstellt, sondern angewiesen ist auf den Einkauf großchemisch hergestellten Kunstdüngers und landwirtschaftlicher Maschinen, auf Servicestellen zu deren Wartung und Reparatur sowie nicht zuletzt auf umfängliche Finanzdienstleistungen und -produkte, um die nötigen erheblichen Investitionen tätigen zu können.Footnote 3

Diese Umstellung bringt sowohl bekannte Vorteile als auch bekannte Nachteile mit sich. Vorteile sind eine erhebliche Steigerung von Ernteerträgen verbunden mit einer größeren Planungssicherheit und einer Verringerung körperlicher Arbeit (Uekötter 2010, S. 331 ff.; Seidl 2014, S. 166 ff.). Risiken und Gefahren liegen in einer Schädigung der Böden durch Bodenverdichtung, Bodenversauerung etc., eine Schädigung von Grundwasser und Luft durch Rückstände von Pestiziden oder Düngemitteln (Uekötter 2010, S. 391 ff., Seidl 2014, S. 305 ff.) sowie all die sozialen und ökologischen Schwierigkeiten, die mit landwirtschaftlicher Produktion, ihrer Fokussierung auf Monokulturen und den sie begleitenden Eigentumsstrukturen einhergehen (vgl. etwa Daniel und Mittal 2009; Hall 2013).

Digitalisierung schließt an diese bereits ausdifferenzierten autonomen Materialitäten direkt an. Als autonome Materialitäten sind Böden, Pflanzennährstoffe und Flächen bereits über konkrete Eigenschaften bestimmt, die sich digital abbilden lassen. Es eröffnet sich etwa die Möglichkeit, eine digitalisierte Karte der auf Bodenanalysen basierenden Bodeneigenschaften mit einem landwirtschaftlichen Fahrzeug zu verbinden oder Daten in Echtzeit über Sensoren zu ermitteln (Gebbers und Adamchuk 2010, S. 828). Auch wenn Bilder von Drohnen beeindrucken, die, über ein digitales Endgerät gesteuert, quadratmetergenau die erforderliche Menge von Kunstdünger verteilen, setzt dies doch lediglich einen Wandel fort, der mit der Entstehung einer multiplen autonomen Materialität von Terra als Boden, Pflanzenernährung und Fläche den entscheidenden Schritt bereits vollzogen hat.

Die Vorteile einer solchen Digitalisierung der Landwirtschaft liegen wiederum auf der Hand. Gerade bei großen, industriell bearbeiteten landwirtschaftlichen Flächen ist die bodenspezifisch präzise Ausbringung von Kunstdünger, Pestiziden oder Wasser nicht nur ökologisch, sondern vor allem wirtschaftlich ein entscheidender Vorteil. Die Anpassung der Ressourcenverausgabung an die Bodenbedingungen, die Echtzeitanpassung mittels Sensoren, die Vereinfachung von Entscheidungsfindungen, all dies ist vielfach genannt (vgl. etwa Auerheimer 2006; Gebbers und Adamchuk 2010; Schrijver 2016; Walter et al. 2017). Als weiterer Vorzug gilt das Mehr an Transparenz, erfordert Digital Farming doch, die entsprechende Fläche – oder im „precision lifestock management“: das Tier – in der über GPS objektivierten Raum-Zeit zu verorten. Dass bislang nicht dokumentierte oder registrierte Ländereien etwa in Afrika auf diese Weise erfasst und als Eigentum registriert werden können, wird als Vorzug ebenso betont (Kshetri 2017) wie die so ermöglichte global standardisierbare Kontrolle bereits industrialisierter landwirtschaftlicher Prozesse (Gebbers et al. 2010). Es ist daher wenig überraschend, dass in kommerzieller Werbung ebenso wie in wissenschaftlichen Berichten das Nachhaltigkeitspotenzial des Einsatzes digitaler Techniken in der Landwirtschaft herausgestellt wird. In einer Studie heißt es beispielsweise: „PA (precision agriculture) methods promise to increase the quantity and quality of agricultural output while using less input (water, energy, fertilizers, pesticides…). The aim is to save costs, reduce environmental impact and produce more and better food.“ (Schrijver 2016, S. 4)

Es sind die Versprechen des Fortschritts, vorgetragen mit dem entsprechenden Pathos, die sich in solchen Einschätzungen niederschlagen. Ein Fortschritt 2.0. Doch ebenso wie der „klassische“ Fortschritt spätestens in den 1980er-Jahren auf die damit einhergehenden Risiken hin reflektiert wird (prominent Beck 1986) und sich der Nachhaltigkeitsdiskurs entlang genau dieser Problematik entfaltet, kann man vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen nach etwaigen „Risiken 2.0“ eines digitalen Fortschritts fragen. Mindestens drei solche Risiken lassen sich identifizieren:

Erstens ist die digitale Abbildung der Wirklichkeit, wie oben ausgeführt, zugleich unvollständig, verändert und/oder ergänzt und damit eine Wiedererfindung der Außenwelt. Gerade wenn auf intersubjektiv überprüfbare theoriegeleitete Kausalitätsmodelle verzichtet wird und stattdessen rein datengetriebene Verfahren bevorzugt werden (und dies gar als „end of theory“ ideologisch überhöht wird, vgl. Anderson 2008), sind entsprechend umfangreiche Datenmengen und große Erfahrung in der Anwendung der Modelle erforderlich, um auf dieser Grundlage erfolgreich steuern zu können. Damit aber entstehen neue Pfadabhängigkeiten: Für häufig industriell angebaute Pflanzen – wie Reis, Mais und Weizen – liegen große Datenmengen und Anreize zu deren Bereitstellung vor, sodass diese entsprechend gut für digitalisierte Landwirtschaft geeignet sind; während für seltener oder weniger großflächig angebaute Pflanzen weniger Datenmengen und standardisierte Informationen vorliegen, was einen höheren Aufwand bei der Datenerfassung und geringeren Ertrag beim Einsatz von Digital Farming mit sich bringt (vgl. etwa Walter et al. 2017, S. 6149). Je weiter die autonome Materialität Pflanzenwachstum standardisiert ist, desto besser lässt sie sich im Wege des Digital Farming optimieren. Je weniger standardisierte Daten dagegen vorliegen und je komplexer die jeweiligen Interaktionen etwa mit Biodiversität oder Grundwasserqualität sind, desto weniger bewirkt Digitalisierung eine Effizienzsteigerung, bzw. sie droht sogar, unter Vernachlässigung solcher Interaktionen jedenfalls mittelfristig negative Gesamteffekte auf Böden und Pflanzenwachstum zu bewirken.

Ein zweites Risiko liegt darin, dass eine digitalisierte Landwirtschaft den im Zuge von Maschinisierung und chemischer Intensivierung entstandenen agrarindustriellen Komplex weiter vorantreibt. Eine Abhängigkeit der Landwirte von den Anbietern der entsprechenden Industriegüter – neben Kunstdünger und Maschinen nun auch die entsprechende Hard- und Software – und eine weitere Bevorzugung der Bewirtschaftung sehr großer und in einer Hand befindlicher Flächen sind eine Folge. Der Hinweis auf die hohen Investitionskosten zur Einführung von Digital Farming sowie auf die Erforderlichkeit eines genauen Abwägens zwischen landwirtschaftlichen Produktionsformen findet sich bereits in neuerer Literatur (Walter et al. 2017, S. 6149; Panell et al. 2019). Aus der hier vorgeschlagenen gesellschaftstheoretischen Perspektive wird deutlich, dass die Bedeutung von agrarindustriellen Organisationen in der Landwirtschaft direkt an durch solche Organisationen hergestellten autonomen Materialitäten ansetzt. Am Beispiel Pflanzenwachstum: Indem das Wachstum der Pflanzen auf mineralische Pflanzenernährung zurückgeführt wird und spezifisch pflanzenwachstumswirksame Kunstdünger warenförmig vorliegen, entsteht eine Abhängigkeit der Landwirtschaft vom Vorliegen industrieller Kunstdünger. Deren Einsatz wiederum legt eine weitere Technisierung nahe – im ersten Schritt Technisierung durch Maschinen, im zweiten durch Digital Farming –, da erst die Hersteller bzw. Anbieter von Technik den effizienten Einsatz des Kunstdüngers ermöglichen. Ein Verständnis von Terra als Magen der Pflanzen würde dagegen über den notwendigen Wechselbezug von Pflanzenwachstum und Boden eine solche „bodenlose“ Steigerung mineralischen Pflanzenwachstums undenkbar erscheinen lassen.

Drittens schließlich verstärkt Digitalisierung die Tendenz, Materialität als autonome Materialität zu fassen und zum Gegenstand funktionssystemischer Kommunikation und struktureller Kopplung zu machen. Eine Erfassung bislang nicht registrierter Flächen oder deren umfangreichere datengestützte Kontrolle führt nicht nur zu mehr Transparenz, sie erweitert auch die Verbreitung einer autonomen Materialität Fläche mit entsprechenden Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten. Damit stellt sich nicht nur die Frage, wem die Daten gehören und wer auf die Daten zugreifen kann (Walter et al. 2017, S. 6149), sondern es erfolgt zugleich eine weltgesellschaftliche Beförderung funktionaler Differenzierung, mit entsprechenden Auswirkungen auf Kultur und Eigentumsverhältnisse.

Für Risiken wie diese gilt dasselbe wie für die Chancen – sie sind letztlich die bekannten Herausforderungen und Möglichkeiten des Fortschritts in digitalem Gewand. Technikfolgenabschätzung, Einbeziehung alternativer Wissensarten und betroffener Akteure sowie die Bedeutung einer Regulierung, die Autonomie und klare Verantwortlichkeiten ermöglicht, sind aus dem alten Fortschritt gezogene Konsequenzen, die auch für eine digitale Transformation einschlägig bleiben.

5 Fazit: Nachhaltige Digitalisierung als Einbettung von autonomer Materialität

Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen war die Beobachtung, dass die angestrebte nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung ihre selbst gesetzten Ziele konsequent verfehlt, während gleichzeitig Digitalisierung gesellschaftlichen Wandel vielschichtig prägt. Diese Gleichzeitigkeit zu untersuchen wurde als Herausforderung für die soziologische Theorie betrachtet. Mit Hilfe einer materialitätstheoretisch erweiterten Systemtheorie wurde die These aufgestellt, dass die spezifische Materialität der modernen Gesellschaft Ausgangspunkt für beide Entwicklungen ist: Digitalisierung setzt an autonomer Materialität an, indem sie standardisierte Eigenschaften aufgreift, digital abbildet und aus der digitalen Abbildung heraus auf die Materialität der modernen Gesellschaft zurückwirkt. Der Nachhaltigkeitsdiskurs verweist jedoch auf Kontingenz, Komplexität und Rückkopplungsverhältnisse, die gerade nicht bereits Teil autonomer Materialität sind, und verlangt, sich auf diese Nicht-Steuerbarkeit und Unbestimmtheit einzulassen. Am Anwendungsbeispiel Digital Farming wurden diese Überlegungen näher ausgeführt.

Zum Abschluss lassen sich nun sowohl Schlussfolgerungen für die soziologische Theorie als auch Gelingensbedingungen einer Transformation zur Nachhaltigkeit formulieren.

Die vorgeschlagene materialitätstheoretische Erweiterung einer soziologischen Gesellschaftstheorie eröffnet die Möglichkeit, Digitalisierung und Nachhaltigkeit in ihrer Dynamik besser zu verstehen. Geht man davon aus, dass die moderne Gesellschaft sich ganz wesentlich durch autonome Materialität auszeichnet, so folgt, dass jede gesellschaftliche Veränderung von hier ihren Ausgang nehmen muss. Eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit kann wissenschaftlich oder im Rahmen politischer Proteste gefordert werden, ist aber anders als eine autonome Materialität schlecht geeignet, funktionssystemisch Kommunikation zu verkoppeln. Zugleich zeigt sich, dass sich nachhaltige Entwicklung nicht in Digitalisierung erschöpfen kann. Während die klassische Systemtheorie hinsichtlich einer weitergehenden, erfolgreichen gesellschaftlichen Selbstirritation durch ökologische Kommunikation eher skeptisch ist, so lenkt die hier vorgeschlagene materialitätstheoretisch erweiterte Variante den Blick auf drei für eine Nachhaltigkeitstransformation bedeutsame Aspekte.

Der erste Aspekt ist der Verweis auf die spezifische, nämlich autonome Materialität der Gesellschaft selbst. Ein gesellschaftlicher Wandel kann nicht umhin, von den bestehenden Bedingungen auszugehen. Zu diesen Ausgangsbedingungen gehört neben funktionaler Differenzierung unter anderem die durch Standardisierung, Regulierung und Warenbildung hervorgebrachte autonome Materialität der Gesellschaft. Der exemplarisch diskutierte Fall der Landwirtschaft hat gezeigt, wie autonome Materialitäten – hier: Boden, Fläche und Pflanzenernährung – entstehen und dann ihrerseits bestimmte Entwicklungen wie die Relevanz der Agrarindustrie für die Landwirtschaft und das Digital Farming ermöglichen. Eine Transformation zur Nachhaltigkeit erfordert, diese Ausgangsbedingungen ernst zu nehmen und dann gerade hier anzusetzen: Autonome Materialität bringt bevorzugt Kopplungen zwischen bestimmten Funktionssystemen mit sich, insbesondere zwischen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Eine Transformation zur Nachhaltigkeit erfordert, genau dies zu nutzen, um durch die bestehenden Kopplungen marginalisierte Rückwirkungsverhältnisse explizit einzubinden. So sind beispielsweise Rückwirkungen der Intensivlandwirtschaft wie Bodenerosion oder Biodiversitätsverlust bekannt, ebenso wie Maßnahmen des Bodenschutzes zum Umgang mit solchen negativen Effekten. Jedoch verbleiben solche Kenntnisse im Wissenschaftssystem, ohne nennenswerte intersystemische Resonanz zu erzeugen. Wenn es gelingt, diese durch politische Maßnahmen wie negative Preise und aktive Regulierung in die Form einer autonomen Materialität zu bringen, kann dies Nachhaltigkeit im Sinne einer komplexeren Verkopplung von Wechselverhältnissen stärken. Denkbar wäre etwa, dass neben CO2-Zertifikaten auch Bodenerosions- und Biodiversitätsverlust-Zertifikate gehandelt werden.

Der zweite Beitrag einer materialitätstheoretisch erweiterten Systemtheorie zu mehr Nachhaltigkeit besteht in dem Hinweis auf den notwendig kontingenten Charakter autonomer Materialität und damit gewissermaßen in einer „materialitäts-konstruktivistischen“ Perspektive. Zwar ist Materialität auch als autonome Materialität in einem ontischen Sinne real – an einem Tisch kann man sich stoßen, an einem Pflanzenschutzmittel kann man sich verätzen. Indem jedoch eine autonome Materialität durch wissenschaftliche Standardisierung, politisch-rechtliche Regulierung und ökonomische Warenbildung zustande kommt, ist sie in diesen Dimensionen aktiv hergestellt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse verändern die autonome Materialität ebenso wie eine veränderte Regulierung – wird beispielsweise eine gesundheitsschädliche Wirkung eines Pflanzenschutzmittels wissenschaftlich nachgewiesen, kann qua Regulierung ein Grenzwert eingeführt werden, der auf das warenförmige Produkt, seine Herstellung und Anwendung anzuwenden ist. Mit Blick auf eine Transformation zur Nachhaltigkeit folgt aus dem kontingenten Charakter autonomer Materialität, diese stärker aktiv zu gestalten – etwa durch Entwicklung neuartiger Regulierungsinstrumente, Beschränkungen möglicher Warenförmigkeit oder auch die Einbeziehung heterogener Wissensarten.

Diese beiden ersten Aspekte der Entwicklung autonomer Materialitäten zur komplexeren Verkopplung von Wechselverhältnissen und der aktiven Gestaltung autonomer Materialität angesichts ihres kontingent-konstruierten Charakters verweisen schließlich noch auf einen dritten Punkt. Eine Transformation zur Nachhaltigkeit muss auch heißen, bestehende Institutionen über technologische Umbrüche wie die der Digitalisierung hinweg zu schützen. Eine Herstellung und Gestaltung autonomer Materialität setzt eine unabhängige Wissenschaft, eine unabhängige Politik, ein unabhängiges Recht und auch eine unabhängige Wirtschaft voraus, also eine Unabhängigkeit der Funktionssysteme im Sinne einer Aufrechterhaltung funktionaler Differenzierung. Wenn es zu Verwirrung über die Anwendungsbedingungen funktionssystemischer Codierungen kommt, indem bei funktionssystemspezifisch codierter Kommunikation wie Gerichtsverfahren oder wissenschaftlichen Begutachtungsprozessen Erwartungsenttäuschungen als Erwartungsbestätigungen darzustellen erwartet wird (etwa: offensichtlich fingierte Geschichten als Beweise in Gerichtsverfahren, Nepotismus als Verhalten gemäß guter wissenschaftlicher Praxis etc.), gefährdet dies die Struktur oder jedenfalls die Leistungsfähigkeit einer funktional differenzierten Gesellschaft (Henkel 2020). Hilfreich ist dabei alles, was Strukturen, die eine Orientierung allein an der jeweiligen Codierung nahelegen, stärkt. Die Berufsehre, die in auf Dauer gestellten Beschäftigungsverhältnissen liegende persönliche Freiheit oder die Unabhängigkeit von für Funktionssysteme besonders wichtigen Institutionen (Gerichte, Krankenhäuser, Zentralbanken, Universitäten etc.) erleichtern es, Codierungen im Sinne des jeweiligen Systems zu verwenden. Denn sie verpflichten Personen und Organisationen primär auf diese Codierungen und geben zugleich die Freiheit, dieser Codierung den Vorzug zu geben. Nur unter solchen Bedingungen kann es gelingen, eine (digitalisierte) autonome Materialität so zu gestalten, dass die oben am Beispiel der Digitalisierung der Landwirtschaft deutlich gewordenen Probleme möglicher Pfadabhängigkeiten, Abhängigkeitsbeziehungen und Konzentrationsprozesse sowie der Ausweitung von Kontrolle thematisiert und institutionell rückgebunden werden.

Digitalisierung aufgrund der durch sie unter bestimmten Bedingungen möglichen Effizienzgewinne bereits als nachhaltig zu bewerben, verschleiert diese Herausforderungen und behindert eine reflektierte Einordnung von Digitalisierung in die komplexen Zusammenhänge funktionaler Differenzierung. Digitalisierung im Sinne soziologischer Aufklärung zu hinterfragen, um zu gestalterischem Handeln zu befähigen, bleibt Aufgabe der soziologischen Theorie.