FormalPara Bette, Karl-Heinrich, und Felix Kühnle:

Flitzer im Sport. Zur Sozialfigur des Störenfrieds. Bielefeld: transcript 2023. 202 Seiten. ISBN: 978-3-8376-6682‑3. Preis: € 29,50.

Mit Flitzern sind Personen gemeint, die bei öffentlichen Veranstaltungen nackt oder nur teilweise bekleidet durch das Geschehen laufen, dieses mit ihrem Verhalten stören, in ihrem Ablauf zumeist unterbrechen und so versuchen, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen. Sportveranstaltungen scheinen für solche Unterfangen besonders attraktive Gelegenheiten zu bieten, werden sie doch immer wieder von Flitzern für ihre Auftritte genutzt.

Diesem Phänomen, das bislang weder in der Sportwissenschaft noch in der Soziologie eine nennenswerte Beachtung gefunden hat, widmet sich das von Karl-Heinrich Bette und Felix Kühnle vorgelegte Buch „Flitzer im Sport. Zur Sozialfigur des Störenfrieds“. Wie der Untertitel bereits andeutet, ist ihr Vorhaben, eine genuin soziologische Analyse einer „… als kurios und merkwürdig wahrgenommenen Störung der sozialen Ordnung anzufertigen und diese bis zur Kenntlichkeit zu verfremden“ (S. 8). Dazu analysieren sie die Handlungen, Motive und Selbstbeschreibungen der Flitzer vor dem Hintergrund der sozialen Strukturen des Spitzensports und seiner Wettkampfereignisse mit ihren Pull-Effekten, die offenbar zu derartigen Grenzüberschreitungen führen. Ihren Überlegungen legen sie zwei Frage- und Erkenntnisrichtungen zugrunde: Was lernt man über den Spitzensport, wenn man sich mit Flitzern auseinandersetzt? Und: Was erfährt man über die Sozialfigur des Flitzers, wenn man den Spitzensport in seinen diversen Ausprägungen, Erscheinungsformen und sozietalen Austauschbeziehungen analysiert? (S. 24).

Der Hauptteil des Werkes gliedert sich in acht Kapitel. Im ersten Kapitel, mit dem Titel „Nacktheit und Schamlosigkeit“, konstatieren die Autoren, dass Spitzensportler und Spitzensportlerinnen zwar teilweise auch knapp bekleidet seien, doch gehorche die ästhetisch-freizügige Präsentation der durchtrainierten Männer- und Frauenkörper im Sport primär funktionsspezifischen Überlegungen (S. 35). Dagegen ließe sich die vor dem Sportpublikum gezeigte Nacktheit der Sportflitzer, welche oftmals nicht über einen gänzlich durchtrainierten Körper verfügten, vielmehr als Akt der demonstrativen Unzivilisiertheit interpretieren (S. 37).

Im zweiten Kapitel wird auf die „Grenzüberschreitung und Raumentweihung“ durch Flitzer eingegangen. So erhöben diese erstens Anspruch auf ein Territorium, das ihnen nicht zustehe. Sie störten zweitens nicht beiläufig, sondern massiv, denn aufgrund ihrer Störung müsse der Wettkampf zumindest kurzzeitig unterbrochen werden. Und drittens seien für viele Zuschauer die Stadien „heilige“ Orte. Diese würden durch die Nacktheit, Schamlosigkeit und Selbstentblößung der Flitzer symbolisch entweiht werden (S. 56 ff.).

Unter dem Titel „Plötzlichkeit und Überrumpelung“ analysieren Bette und Kühnle im dritten Kapitel, wie Flitzer die autonome Zeit des Sports schlagartig unterbrechen und das sportliche Geschehen zum Stillstand bringen. Was folgt ist zumeist die Hetzjagd zwischen Flitzer und Ordnern, die neben der Entblößung ein wesentlicher Bestandteil des Auftritts sei und die Aufmerksamkeit der Zuschauer garantiere (S. 72).

Im vierten Kapitel „Vom Erleben zum Handeln“ wird der Fokus auf die unerlaubte Rollenanmaßung der Flitzer gerichtet, wechselten sie doch von der eher passiven Publikumsrolle, die das Wettkampfgeschehen nur beobachten und kommentieren darf, hin zu Handelnden, die nunmehr selbst beobachtet werden wollten (S. 80). Flitzer begingen somit gewissermaßen einen Aufmerksamkeitsdiebstahl, nutzten parasitär das Vorhandenseins eines Publikums, das nicht das ihre sei.

Dass ein solches Verhalten auch der „Individualisierung und Distinktion“ dient, wird im fünften Kapitel erörtert. Die These lautet: Flitzer gehen dem zunehmend verbreiteten Anspruch nach, nicht unbedingt etwas leisten zu müssen, um soziale Berühmtheit zu erlangen. Flitzen erscheint als Strategie, mit der moderne Subjekte in einer durchaus kuriosen und exzentrischen Weise auf das Risiko der Bedeutungslosigkeit und des Nicht-beachtet-Werdens in der Gegenwartsgesellschaft reagieren (S. 91).

Im sechsten Kapitel werden die „Legitimationsrhetoriken“, mit denen Flitzer ihr Verhalten vor der Öffentlichkeit rechtfertigen, analysiert.

Mit dem siebten Kapitel „Huldigung und Sanktionierungen“ werden die szenetypischen Werthorizonte wie auch die gesellschaftlichen Formen der Missachtung und Bestrafungen geschildert.

In dem den Hauptteil abschließenden achten Kapitel „Hochstapler, ‚Photo Bomber‘, Witzbolde“ wird der Blick auf eine spezifische Personengruppe gerichtet, die anders als die Flitzer im Vollzug ihrer Handlungen nicht beobachtet und entdeckt werden möchte. Der besondere Thrill ergebe sich für sie aus dem Umstand, an Veranstaltungen teilhaben zu können, ohne deren Zutrittsregeln genügen zu müssen. Damit ihre Leistungen aber auch gewürdigt werden könnten, sollten sie nach dem Vollzug entdeckt werden oder sich selbst zu erkennen geben (S. 142).

Für eine Einordnung des von Karl-Heinrich Bette und Felix Kühnle vorgelegten Buchs „Flitzer im Sport. Zur Sozialfigur des Störenfrieds“ ist hervorzuheben, dass es den Autoren gelungen ist, einem bislang weißen Fleck der Forschungslandschaft nunmehr Konturen und Farbe zu geben. Dabei ist, vor allem aus Sicht der Soziologie, positiv zu vermerken, dass sie auf eine Psychologisierung des Phänomens verzichten und das Frieden störende Verhalten Einzelner nicht aus deren abnormer oder defizitärer Psyche zu erklären versuchen. Es gelingt ihnen anschaulich, gemäß des Leitsatzes „Soziales aus Sozialem zu erklären“, die Sozialfigur des Flitzers im Kontext der sie erzeugenden sozialen Strukturen zu analysieren. Und da man beim Lesen die Begeisterung der Autoren für das Thema an vielen Stellen zu spüren meint, die sich aus einer Mischung aus Bewunderung und Befremdung speist sowie durch die vielen zusammengetragenen Beispiele und Geschichten vermittelt wird, entwickelt sich daraus eine durchaus vergnügliche Lektüre.

Zu kritisieren ist hingegen die kaum erkennbare Methodologie der Analyse. Die Autoren haben selbst keine empirische Studie durchgeführt, als Material nutzen sie vielerlei Sekundärquellen, wie z. B. publizierte Interviews, Biografien, Medienberichte und Videos auf Onlineplattformen. Es findet sich jedoch weder Systematisierung dieser Quellen, noch werden diese hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen reflektiert. Auch legen die Autoren nicht die Selektivität ihrer Zugriffe auf das Material und dessen Interpretation dar. „Vielmehr sollen die überindividuell ausgerichteten Aussagen über die Sozialfigur des Flitzers durch anschauliche Belegbeispiele und Kontextinformationen eine nachvollziehbare Konkretisierung erfahren“ (S. 26). Die „referierten Anekdoten und Hinweise“ (S. 90) sind also nicht als eine Form empirischer Forschung zu verstehen, die als parallel zu den theoriegeleiteten Überlegungen angelegte Beobachtung fungieren, sondern sie dienen lediglich deren selbstreferenzieller Bestätigung.

Obwohl der Begriff der Sozialfigur für das Buch zentral ist, findet man darin weder begriffstheoretische noch methodologische Überlegungen, aus denen die Autoren ihr Analyseprogramm des Flitzers ableiten. „Zur sozialfigurativen Darstellungsweise gehört es, dass sie kenntlich macht, dass es sich ‚bloß‘ um eine Darstellung handelt – und nicht um die Wirklichkeit selbst. Dennoch bewegt sich die Beschreibung zwischen einem Realitätseffekt – ‚genau so könnte es sein‘ – und dem Wissen, dass diese spezifische Schilderung die charakteristischen Elemente der Wirklichkeit gebündelt und verdichtet darstellt. Sozialfiguren sind in diesem Sinne weder eindeutig ‚wissenschaftlich‘ noch ‚fiktiv‘, sondern changieren zwischen Realitätsbeschreibung und Fiktion“ (Sebastian J. Moser und Tobias Schlechtriemen 2018: Sozialfiguren – zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Diagnose. Zeitschrift für Soziologie 47(3): S. 175). In dieser ausbleibenden Beobachtung der eigenen Beobachtungweise ist letztlich der blinde Fleck der Flitzer-Analyse zu sehen. Trotz der umfangreichen Einleitung und Schlussbetrachtung, die zusammen über ein Viertel des Textkorpus ausmachen, fehlen die Benennung dieser Limitationen und Leerstellen ebenso wie Hinweise zur Orientierung zukünftiger Forschungen. So läuft man möglicherweise Gefahr, den Eindruck entstehen zu lassen, man adressiere mit dem Buch eher selbstgenügsam das Feuilleton als den wissenschaftlichen Diskurs. Und das wäre angesichts der vielen profunden Überlegungen, die in diesem lesenswerten Werk versammelt wurden, sehr bedauerlich.