1 Zur Soziologie der Gruppe

Die Bedeutung des Begriffs der Gruppe ist in der Soziologie auffälligen Konjunkturen unterworfen. In der Konsolidierungsphase der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin wurde eine Vielzahl von sozialen Phänomenen auf die Wirkung von Gruppenprozessen zurückgeführt.Footnote 1 So wurde die Leistungsfähigkeit von Organisationen mit erfolgreichen informalen Gruppenbildungsprozessen begründet (s. früh z. B. Mayo 1933; Roethlisberger und Dickson 1939), die Konformität in Interaktionen auf die Etablierung von gruppenspezifischen Normen zurückgeführt (s. z. B. Asch 1935) und selbst das Überleben ganzer Gesellschaften wurde durch die erfolgreiche Integration verschiedener Gruppen erklärt (s. z. B. Lewin 1943; später z. B. Richter 1972).Footnote 2

Ein Grund für den Erfolg der Gruppe als Schlüsselbegriff der Soziologie war dem Umstand geschuldet, dass dieser vergleichsweise breit und unscharf gefasst wurde (s. dazu Barnard 1938, S. 69; DeLamater 1974, S. 30 f.; Bernsdorf 1969, S. 384 f.; König 1983, S. 36 f.).Footnote 3 Die Gruppe wurde verstanden als der „allgemeinste Ausdruck für Mehrheiten von Menschen, die sich in ihrem Miteinander beeinflussen und beeinflussen können“ (Proesler und Beer 1955, S. 11).Footnote 4 Das Konzept der Gruppe wurde letztlich aufgrund dessen unpräziser Bestimmung als allgemeiner Klassifikationsbegriff für soziale Beziehungen verstanden, unter dem alle Zusammenschlüsse von Menschen gefasst werden konnten (s. für entsprechende Definitionen z. B. Fischer 1951, S. 1). So sind so unterschiedliche Phänomene wie Sippen, Klassen, Stämme, Kasten, Völker, Vereine, Aktiengesellschaften, Gewerkschaften oder Verbände unter dem Begriff der Gruppe zusammengefasst worden (s. nur z. B. Small 1905; Tönnies 1963; oder Weippert 1950).Footnote 5

Obwohl sich breite Bestimmungen des Phänomens in der Literatur gehalten haben (für den Social-Identity-Ansatz s. z. B. Tajfel 1981), wurde das Verständnis von Gruppe in der Forschung mit zunehmender Zeit immer weiter konkretisiert. Zuerst wurden unter dem Begriff der Großgruppe soziale Gebilde mit vielen Mitgliedern, etwa Staaten und Kirchen, von Kleingruppen analytisch abgetrennt (s. z. B. schon ansatzweise Wiese 1929, S. 21 ff.). Im Anschluss daran wurden Gruppen dann auch mit dem Verweis auf ihre Strukturiertheit und Dauerhaftigkeit von sich spontan ausbildenden Phänomenen wie Massen oder Mobs unterschieden (s. z. B. Wiese 1931, S. 77 ff.). Mit der weitergehenden Präzisierung des Begriffs wurden auch Familien, die lange Zeit als ein spezifischer Typus von Gruppen verstanden wurden, systematisch abgegrenzt (s. z. B. König 2015, S. 189). Letztlich wurde die Gruppe in ihrer engsten Fassung nur noch als ein System verstanden, dessen Mitglieder eine persönliche Beziehung zueinander haben.Footnote 6 Primär‑, Klein‑, Intim- oder Face-to-Face-Gruppen waren Bezeichnungen, mit dem dieser enge Gruppenbegriff gegen den weiten abgegrenzt wurde (s. dazu Moskos 1968, S. 200).Footnote 7

Unter dem auf persönlichen Beziehungen basierenden Verständnis können eher „flüchtige“ und „locker verbundene“ Gruppen gefasst werden, wie beispielsweise eine regelmäßig auf Tour gehende Reisegesellschaft, ein Kreis von Freunden, die Cliquen pubertierender Jugendlicher, herumlungernde Straßengangs oder sich regelmäßig im Wirtshaus treffende Mietshausbewohner (Luhmann 1964, S. 34).Footnote 8 Aber es fallen auch „stabilere Formen“ darunter – Beispiele hierfür wären „autonome“ linke politische Gruppen mit ihren weit ins Private reichenden Ansprüchen an ihre Mitglieder, kleine terroristische Zusammenschlüsse wie die „Baader-Meinhof-Gruppe“ oder religiöse Gruppierungen, die sich jenseits der Initiative von Kirchenorganen entwickelt haben und in denen auch persönliche Themen an- und besprechbar sind (Kühl 2015, S. 72). Aber unter diesem Begriff lassen sich auch durch Gruppendynamik oder Gruppentherapie geschaffene soziale Gebilde fassen, durch die man durch gesteuerte Kommunikationsprozesse hofft, die persönliche Entwicklung einzelner Gruppenmitglieder vorantreiben zu können (Mills 1968, S. 45 ff.; Nau 1983, S. 127 f.).

Mit der zunehmend engeren Bestimmung ging die Bedeutung der Gruppe als Kategorie sowohl in der empirischen Forschung als auch in der soziologischen Theoriebildung immer weiter zurück (s. dazu z. B. Mullins 1973, S. 122; Hogg und Tindale 2001, S. ix). Je weniger der Gruppenbegriff dafür genutzt wurde, um Stämme, Schichten, Organisationen oder Staaten soziologisch zu erfassen, desto geringer wurde das soziologische Interesse an der Erforschung sowie der Einordnung von Gruppen in eine umfassende Gesellschaftstheorie. In einer Soziologie, in der die Gesellschaft entweder über stratifikatorische Differenzierung in Klassen, Schichten oder Kasten oder über die funktionale Differenzierung in unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik, Religion und Wissenschaft verstanden wurde, schien nur noch wenig Platz für eine Analyse von Kleingruppen zu sein (s. dazu früh Tenbruck 1964, S. 436).Footnote 9

Die Forschungen zur Gruppe reduzierten sich immer mehr auf sozialpsychologische Untersuchungen über experimentell hergestellte Face-to-Face-Interaktionen (s. für Startpunkte dieses Ansatzes u. a. Lewin 1939; und Deutsch 1949).Footnote 10 In der Diskussion der Soziologie kommt die Gruppe heutzutage bestenfalls noch als eine randständige Kategorie vor.Footnote 11 En vogue sind jetzt eher Konzepte wie Netzwerk, Organisation und Institution, die ihre Karriere im wissenschaftlichen Diskurs – vergleichbar zur weiten Bestimmung des frühen Gruppenbegriffs – zu nicht unerheblichen Teilen einer weiten, häufig diffusen Bestimmung verdanken.Footnote 12

Obwohl die Systemtheorie angesichts ihrer Konzentration auf die Bestimmung der Spezifika unterschiedlicher Systeme gegen die expansive Verwendung soziologischer Kategorien immun ist, sind die Konjunkturzyklen der Diskussion über den Gruppenbegriff nicht vollkommen an ihr vorbeigegangen.Footnote 13 Im Zuge des Booms der Gruppensoziologie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat es verschiedene Versuche von Systemtheoretikern gegeben, die Besonderheiten der Gruppe als soziales System herauszuarbeiten. Nach den ersten theoretisch eher bescheiden angelegten Versuchen von Willke über die Konstitutionsbedingungen von Gruppen (Willke 1976; s.a. 1978) war es besonders Neidhardt zu verdanken, dass ein ausgearbeiteter systemtheoretischer Vorschlag für einen engen Gruppenbegriff vorgelegt wurde (Neidhardt 1979; s.a. 1983b). Tyrell hat, darauf aufbauend, weitergehende Überlegungen angestellt, in denen auch Dyaden unter das Konzept der Gruppe gefasst worden sind (Tyrell 1983a). Fuchs hat Überlegungen angestellt, wie sich Gruppen als eigenständige soziale Systeme aus Netzwerken heraus entwickeln können (Fuchs 2001, S. 191 ff.). Von Fuhse liegt zudem ein systemtheoretisch informierter Versuch vor, die Identität von Gruppen nicht über Gefühle, wie Sympathie, Vertrauen oder Zugehörigkeit, zu bestimmen, sondern diese über eine spezifische Kommunikationsform zu veranschaulichen (Fuhse 2001).

Die an die Tradition der formalen Soziologie anschließenden Versuche zu einer Bestimmung von Gruppe als soziales System wurden dann aber im Mainstream der Systemtheorie nicht gezielt weiterverfolgt. Vielmehr wurden zunehmend Zweifel laut, ob es überhaupt Sinn mache, Gruppe als soziales System zu betrachten (s. dazu Tyrell 2006, S. 305). Ausschlaggebend für das auffällige Desinteresse der Systemtheoretiker am Phänomen der Gruppe ist, dass Luhmann in seinen Publikationen besagtem Phänomen nie den Status eines sozialen Systems zugewiesen hat. Ihm schien es in seinem Spätwerk sinnvoller, den seiner Meinung nach „theoretisch nicht sehr entwicklungsfähigen Gruppenbegriff durch die Theorie der Interaktion unter Anwesenden zu ersetzen“ (Luhmann 2000, S. 25).Footnote 14

Bei einer ganzen Reihe von Systemtheoretikern wurde der Gruppenbegriff mit Verweis auf Überlegungen von Luhmann deswegen komplett aufgegeben. Pelikan fasst soziale Prozesse, die in der Soziologie lange Zeit unter dem Begriff der Gruppe gefasst wurden, nur noch als ein „Hybrid von Organisation und Interaktion“ (Pelikan 2004, S. 133). Kieserling vertritt die Position, dass der „Gruppenbegriff nicht gleichrangig neben Interaktion und Gesellschaft geführt werden kann“ und Phänomene, die vorher unter den Gruppenbegriff gefasst wurden, entweder nur noch als eine Reihe von Interaktionen begriffen oder gleich als Organisation verstanden werden können (Kieserling 1999, S. 229).

Beim Studium des neuerdings auch öffentlich zugänglichen Zettelkastens Luhmanns wird jedoch deutlich, dass die Theorieentscheidung, Gruppe nicht als eigenständiges soziales System zu begreifen, für ihn nicht einfach gewesen ist.Footnote 15 Zwar stellt Luhmann in einem Zettel in Reaktion auf die Vorschläge von Neidhardt und Tyrell lapidar fest, dass „Gruppe nicht als ein besonderer Typus sozialer Systeme anzuerkennen“ sei, sondern lediglich als ein „Modus von Interaktion und Interaktionshäufung“ verstanden werden müsse (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC5). Aber davor findet sich im Zettelkasten die Ausarbeitung einer Systemtheorie der Gruppe, die auf der Überlegung basiert, dass die Gruppe als „ein Typ von Systembildung zu behandeln sei, der nicht auf Interaktion, Organisation und Gesellschaft zurückgeführt werden kann“ (Luhmann 2008, S. 21/3d27fc).Footnote 16

Ziel dieses Artikels ist es daher, auf der Basis der Überlegungen Luhmanns aufzuzeigen, wie eine systemtheoretische Bestimmung der Gruppe als soziales System aussehen könnte.Footnote 17 Dabei werden die jetzt durch den Zettelkasten zu rekonstruierenden frühen Überlegungen Luhmanns mit der bisherigen systemtheoretischen Diskussion über die Gruppe zusammengeführt und um eigene Vorschläge erweitert.Footnote 18 Die Überlegungen Luhmanns zur Gruppe als soziales System sollen, auch wenn diese hier erstmals ausführlicher dargestellt werden, nur als Ausgangspunkt genutzt werden, um darauf aufbauend einige der bisher in der Forschung kontrovers diskutierten Punkte zu systematisieren und Perspektiven für eine weitere Ausarbeitung der Theorie samt empirischen Forschungsmöglichkeiten aufzuzeigen.Footnote 19

Konkret soll der bisherige Forschungsstand zur soziologischen Theorie der Gruppen anhand von sechs zentralen Punkten erweitert werden. Mit Rückgriff auf die Überlegungen von Luhmann wird persönliche Kommunikation als spezifische Kommunikationsform von Gruppen bestimmt. Persönliche Kommunikation bedeutet, dass in Gruppen erst einmal erwartet werden kann, dass neben der Rolle innerhalb der Gruppe auch andere Rollen – z. B. die in Familien, in Liebesbeziehungen, in Freundschaften, im Sportverein oder in der Arbeit – thematisierbar sind (Abschn. 2). Darauf aufbauend können in Abgrenzung zu Organisationen, Familien oder auch Protestbewegungen spezifische Mechanismen identifiziert werden, mit denen Gruppen klären, wer Mitglied in ihnen ist und wer nicht. Denn obwohl Gruppen im Gegensatz zu Organisationen nicht über Möglichkeiten einer eindeutigen Mitgliedschaftszuweisung verfügen, besitzen sie doch eigene Formen der Grenzziehung, mit denen – wenn auch häufig in einer prekären Form – geklärt werden kann, welche Beiträge von Personen zur Kommunikation in der Gruppe gezählt werden können und welche davon ausgeschlossen sind (Abschn. 3). Dies macht es notwendig, systematisch zwischen Gruppen und Interaktionen als soziale Systeme zu unterscheiden. Erst diese Unterscheidung ermöglicht eine Spezifizierung hinsichtlich der zu klärenden Fragen, wie Gruppen mit der Anwesenheit von Nichtmitgliedern in Interaktionen umgehen und wie die Abwesenheit von Gruppenmitgliedern in Interaktionen gehandhabt wird (Abschn. 4). Auf der Grundlage der insbesondere in den ersten beiden Abschnitten eingeführten personalen Orientierung als Rekrutierungsmechanismus von Gruppen lässt sich die Ausbildung und Durchsetzung der vorrangig auf Interaktionen ausgerichteten Normen in Gruppen genauer spezifizieren (Abschn. 5). Die an der persönlichen Orientierung ausgerichteten normativen Erwartungen können erklären, weswegen in Gruppen Rollendifferenzierungen nur begrenzt möglich sind. Sowohl die an unterschiedlichen Aufgaben ausgerichtete horizontale Differenzierung als auch die vertikale Ausdifferenzierung von Führern und Geführten ist in Gruppen auffällig fragil (Abschn. 6). Der Erfolg einer Bestimmung von Gruppen als eigenen Systemtypus wird nicht nur von einer konsistenten Einpassung in das systemtheoretische Theoriegerüst und einer überzeugenden empirischen Plausibilisierung abhängen, sondern auch davon, ob es gelingen kann, eine interessante Forschungsperspektive zu generieren. Diese könnte – so einige hier zum Schluss vorgetragene Vorschläge – besonders im Fokus auf die Ausdifferenzierung von Gruppen als soziales System in der modernen Gesellschaft, in der Bestimmung der Funktion von Gruppen für die Gesellschaft sowie in den Verknüpfungen mit anderen sozialen Systemen liegen (Abschn. 7).

2 Personale Orientierung der Kommunikation in Gruppen

In der frühen Gruppensoziologie basierte die Bestimmung des Systemcharakters von Gruppen stark auf der Ausbildung eines „Wir-Gefühls“ oder „Gemeinschaftsgefühls“ (Cooley 1909, S. 23 f.), eines „Wir-Bewusstseins“ (Geiger 1928, S. 19), eines „Gruppenbewusstseins“ (Vierkandt 1928, S. 349), einer „starken emotionalen Beziehung“ (Dunphy 1972, S. 5) oder eines „sich ähnlich oder gleich Fühlen“ (Proesler und Beer 1955, S. 34).Footnote 20 Dieses „Wir-Gefühl“, „Gruppenbewusstsein“ oder „Gemeinschaftsgefühl“ bilde sich, so das Argument, als Ergebnis der intimen Face-to-Face-Kontakte in Gruppen. Die „Sympathie“ und „Identifikation“ der Gruppenmitglieder für- und miteinander spiele, so schon früh Cooley, für die Genese des „Wir-Gefühls“ oder eines „Wir-Bewusstseins“ eine wichtige Rolle und führe zu einem teilweisen Aufgehen des Individuums in einem „gemeinsamen Ganzen“ (Cooley 1909, S. 23 f.).Footnote 21

Eine Systemtheorie der Gruppe kann zur Bestimmung des Systemtypus nicht auf so vage Kategorien wie „Gemeinschaftsgefühl“ oder „Wir-Bewusstsein“ zurückgreifen. Solche Beschreibungen erscheinen für Gruppen zwar spontan plausibel, leiden aber gleichzeitig unter dem Makel, nicht ausreichend spezifisch zu sein. So kann sich auch in Familien, Organisationen oder Staaten ein „Gemeinschaftsgefühl“ oder ein „Wir-Bewusstsein“ ausbilden. Für eine Bestimmung von Gruppen als sozialem System kommt es vielmehr darauf an, einen spezifischen Sinnzusammenhang von Kommunikation zu identifizieren, der es ermöglichen sollte, Gruppen von anderen Typen sozialer Systeme zu unterscheiden (so auch schon die Forderung von Neidhardt 1979, S. 641; Schmidt 2007, S. 521 f.).

2.1 Zur spezifischen Kommunikationsform von Gruppen

In Gruppen ist man nicht nur Schüler, Sportler oder Schläger, sondern im Prinzip ist fast alles, was eine Person betrifft, für Kommunikationen zugänglich (s.a. Neidhardt 1979, S. 641 ff., 1983b, S. 2 ff.; Tyrell 1983a, S. 80). Luhmann schlägt deshalb als Grundmerkmal der Kommunikation in Gruppen die „personale Orientierung“ vor (Luhmann 2008, S. 21/3d27fc).Footnote 22

Bei dieser Bestimmung der Kommunikationsform von Gruppen knüpft Luhmann an eine ältere Tradition in der Gruppensoziologie an, in der darauf verwiesen wurde, dass Personen in Gruppen nicht nur in regelmäßigem Kontakt zueinander stehen, sondern dass sie persönlich miteinander kommunizieren. Das bedeutet, dass das Treffen zu einem Team-Meeting, die Zusammenkunft in einem Seminar oder die Besprechungen auf einer Strategiekonferenz nicht zutreffend mit dem Begriff der Gruppe beschrieben werden können, weil dort eine personale Orientierung die durch Formalität geprägten Interaktionserwartungen verletzen würde.

Auf den ersten Blick ist der Personenbezug in Gruppeninteraktionen häufig nicht ohne Weiteres zu erkennen. So wird über aktuelle Entwicklungen in der Politik diskutiert, Informationen werden ausgetauscht, es wird darüber gesprochen, in welchem Geschäft es im Moment besonders attraktive Sonderangebote gibt und welche Vereine gerade in einer Sportdisziplin dominieren. Von Wichtigkeit ist jedoch, dass bei der Vermittlung dieser Sachinformationen in Gruppen erwartet werden kann, dass die Mitglieder dabei stets auch ihre persönliche Haltung zum Ausdruck bringen. Sie müssen erklären, wie sie zur aktuellen politischen Entwicklung stehen, ob sie planen, das Sonderangebot wahrzunehmen und ob sie sich über die Niederlagen oder Siege eines Vereins freuen oder ärgern.

Dabei wird der Personenbezug in Gruppen allerdings nicht allein durch die Einnahme einer Position zu einem Thema deutlich. Die Darstellung einer persönlichen Einstellung findet in der modernen Gesellschaft permanent statt. Diese ist aber in den allermeisten Fällen an eine Rolle gebunden. Ein Parteimitglied erklärt, welche Position es in einer politischen Frage einnimmt, eine Juristin, wie sie eine umstrittene Gesetzesregelung einschätzt und ein Fußballfan, wie er die Leistung beim letzten Spieltag bewertet. Gruppen sind hingegen dadurch gekennzeichnet, dass die Darstellung als gesamte Person zu unterschiedlichen Themen gefragt ist. Es reicht nicht aus, bei einem bestimmten Anliegen persönlich auskunftswillig zu sein und zu allen anderen Angelegenheiten eine persönlich zurechenbare Meinung zu verweigern.Footnote 23 Insofern können – so meine Zuspitzung – Freundeskreise als Idealtypus von Gruppen verstanden werden.Footnote 24

Die hier beschriebene „personale Orientierung“ kann das starke Interesse von gruppensoziologischen Forschern am „inneren System“ – also den Innenbezügen von Gruppenmitgliedern – erklären. Während in Organisationen fast zwangsläufig der Fokus auf die Beziehung zu Zulieferern, Konkurrenten, Kunden oder Klienten gelegt wird und interne Prozesse in der Regel immer auch im Hinblick auf die Umweltbeziehung des Systems betrachtet werden, richtet sich die Konzentration in Gruppen vorrangig auf die Frage, wie deren Angehörige miteinander interagieren. Die Systemlogik der Gruppe wird durch die „persönlichen Mitgliederbeziehungen“ dominiert, während die Umweltbeziehungen maßgeblich durch den „Primat der Binnenorientierung“ geprägt sind (s. dazu maßgeblich Homans 1950, S. 90 ff.; und im Anschluss daran Neidhardt 1979).Footnote 25

„Personale Orientierung“ der Kommunikation bedeutet jedoch nicht, dass alle Themen ansprechbar sind. An dieser Stelle wird deutlich, worin sich die Kommunikation in Gruppen von der Intimkommunikation in Familien unterscheidet: In der Intimkommunikation besteht der legitime Anspruch, alle anderen Rollen thematisieren zu können (Luhmann 1990, S. 208), während in der persönlichen Kommunikation nur der Anspruch erhoben werden kann, einige andere Rollen anzusprechen (Kühl 2015, S. 74).Footnote 26 Fragen nach vielleicht skurril wirkenden politischen Auffassungen, religiösen Überzeugungen oder besonderen sexuellen Praktiken können in einer Paarbeziehung nicht ohne Weiteres zurückgewiesen werden, während in Gruppen zwar nicht prinzipiell alle Fragen nach anderen Rollen unbeantwortet bleiben können, aber sehr wohl Fragen zu einzelnen anderen Rollen – oder zumindest zu Teilaspekten dieser – zurückgewiesen werden können.

2.2 Personenbezogene Kommunikation als Systembildungsmechanismus

Offensichtlich kommt personenbezogene Kommunikation nicht nur in Gruppen vor. Schon bei einer oberflächlichen Betrachtung fällt auf, dass sich im Kontext von Organisationen ebenfalls Momente persönlicher Kommunikation ausbilden können. Auch in diesen sozialen Gebilden herrschen Höflichkeitsnormen, die dosiertes Fragen nach dem letzten Urlaub, dem Wohlbefinden des Lebenspartners oder der Erfahrung bei der Kindererziehung erlauben. Ein zentraler Unterschied liegt aber in dem Umstand, dass persönliche Kommunikation in Organisationen nicht erwartet werden kann. Eine Chefin mag auf einer Dienstreise Auskünfte über andere Rollen ihrer Mitarbeiter erhalten, legitime Ansprüche kann sie aber nur auf die Informationen erheben, die für die Organisationsrolle unmittelbar relevant sind.

Anders als in Organisationen oder Bewegungen bildet sich die personenbezogene Kommunikation in Gruppen – darauf weist Luhmann in Erweiterung der Überlegungen von Neidhardt hin – nicht zufällig aus, sondern sie kann „erwartet“ und sogar „verlangt“ werden (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC2).Footnote 27 Das Mitglied einer Gruppe, das systematisch Auskünfte über andere Rollen verweigert, gerät in Rechtfertigungsschwierigkeiten, weil es gegen die Erwartung zur (wenigstens teilweisen) Preisgabe von personenbezogenen Informationen verstößt.Footnote 28

Dabei gilt: Nur weil personenbezogene Kommunikation erwartet werden kann, kann sich die Gruppe als System über diese Kommunikationsform überhaupt reproduzieren. Die personale Orientierung hat zur Folge, dass in Gruppen eine gute „Personalkenntnis erforderlich“ ist, damit man „abschätzen kann, was der andere verstehen kann“ und was nicht (Luhmann 2008, S. 21/3d27fc2). Gleichzeitig – so muss man ergänzen – trägt auch die Erwartung, dass in Gruppen persönlich kommuniziert wird, dazu bei, dass überhaupt die erforderliche Personalkenntnis aufgebaut werden kann.Footnote 29

Wie aber wirkt sich die personale Orientierung der Kommunikation auf die Rekrutierungsmechanismen für Mitglieder in Gruppen aus?

3 Die Bestimmung der Mitgliedschaft in Gruppen

Eine zentrale Herausforderung einer Systemtheorie der Gruppe besteht darin, die Grenzen dieses sozialen Systems zu bestimmen. Allerdings kann eine solche Bestimmung nicht darüber erfolgen, ob konkrete Menschen zur Gruppe gezählt werden oder nicht. Der Mensch ist – da unterscheidet sich eine Systemtheorie der Gruppe nicht von der der Familie, der Organisation oder der Bewegung – immer Umwelt eines sozialen Systems (Luhmann 1969, S. 9).

Aber auch wenn der Mensch zur Umwelt eines sozialen Systems gezählt wird, sind Gruppen darauf angewiesen, dass die Kommunikationen personal zugerechnet werden – anders wären sie nicht als Kommunikation der Gruppe erkennbar. Ein Gespräch zwischen Unbekannten auf einer Party mag auf den ersten Blick angesichts der Breite der infrage kommenden Themen der Interaktion in Gruppen ähneln (zu geselligen Interkationen s. Kieserling 1999, S. 412 ff.). Der zentrale Unterschied ist jedoch, dass die Geselligkeitsanforderungen auf Partys weitgehend unabhängig von konkreten Interaktionspartnern gelten, während Gruppen ein sehr genaues Gespür dafür haben, wessen Beiträge als Teil der Gruppeninteraktion zu zählen sind und wessen nicht.

3.1 Personale Kompatibilität als Selektionskriterium für die Aufnahme in Gruppen

Gruppen bilden sich dadurch, dass sich „Personen zusammentun, um andere auswählen zu können“ (Luhmann 2008, S. 52/10a5). Das Rekrutierungsprinzip ist dabei, so Luhmanns Erweiterung der Vorschläge von Neidhardt, das der „personalen Kompatibilität“ (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC3). Wenn in Gruppen persönliche Kommunikation nicht nur zulässig ist, sondern auch erwartet werden kann, dann müssen Gruppen sicherstellen, dass die Mitglieder „zueinander passen“. Die Ausrichtung auf die personale Passung wird gerade in Differenz zum Systembildungsprinzip von Organisationen deutlich: Weil die Gruppe auf die „Gefühlswelt“ der Mitglieder ausgerichtet ist, wird in ihr viel stärker als in Organisationen darauf geachtet, dass die Mitgliedschaft „persönlichkeitskonform“ ist (Luhmann 2008, S. 532/5d2).Footnote 30

In Gruppen versuchen Personen, ihre Vorstellungen von Selbstdarstellung durchzusetzen. Auf der anderen Seite verlassen sie jedoch – und dadurch unterscheiden sie sich grundlegend von Familien – die Gruppen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse nach persönlicher Selbstdarstellung woanders besser befriedigt werden können. Gruppen überbrücken auf diese Weise „das Problem der Kontingenz des individuellen Verhaltens“ – also die Unsicherheit darüber, wie sich andere verhalten – und „ermöglichen dadurch relativ enttäuschungsfeste Verhaltenserwartungen“ für die Selbstdarstellung als Person (Luhmann 2008, S. 52/10c).

Durch den Fokus auf „personale Kompatibilität“ wird sichergestellt, dass die Diskrepanzen bezüglich Form, Inhalt und Umfang der Selbstdarstellung nicht zu weit auseinanderliegen. Es wird deswegen geprüft, ob „Gruppenmitglieder bis zu einem gewissen Grad bereit sind, die Selbstdarstellung der anderen Gruppenmitglieder aufzunehmen“ (Luhmann 2008, S. 52/10a7). Würden Angehörige auf die Selbstdarstellungsbedürfnisse anderer mit konsequenter Ignoranz reagieren, dann würden sie keine Rolle in der Gruppe finden und diese schnell wieder verlassen.

Die Notwendigkeit der Persönlichkeitskonformität macht Gruppen anfällig für Wechsel in ihrer Mitgliedschaft. Zwar zerfällt eine Gruppe nicht automatisch, wenn Personen ausscheiden. Aber die Fähigkeit zur Kompensation von Personenverlusten durch die Aufnahme neuer Mitglieder ist stark begrenzt. Deswegen ist das Ausscheiden von Personen aufgrund von Entfremdung, Wegzug oder Tod für den Systembestand der Gruppe deutlich bedrohlicher als dies beispielsweise für Organisationen der Fall ist.Footnote 31

Auffällig ist, dass in Gruppen in der Regel keine Entscheidungen über die Aufnahme von neuen Mitgliedern stattfinden. In Gruppen wird man Mitglied, indem man regelmäßig an Interaktionen teilnimmt, sich dabei mit persönlichen Beiträgen einbringt und sich gleichzeitig als Empfänger persönlicher Beiträge anderer bewährt. Häufig ist es deswegen gar nicht möglich, einen Zeitpunkt zu benennen, an dem eine Person zu einer Gruppe dazu oder nicht mehr gehört hat. Ein Mitglied „schleicht“ sich in eine Gruppe ein und auch wieder aus.

3.2 Selbstkategorisierung als Gruppe

Ähnlich wie Organisationen, Bewegungen und Familien nehmen sich Gruppen als soziale Einheiten wahr.Footnote 32 Sie nutzen Kleidung, Rituale oder Begrüßungssignale als Identifikationsmerkmale. Sie besetzen Räumlichkeiten – Stammtische, eine Straßenecke oder den Bahnhofsvorplatz – oder entwickeln eigene Sprachformeln, um damit die Mitgliedschaft in einer Gruppe zum Ausdruck zu bringen (Whyte 1943, S. 255). Sie geben sich Namen, um ihre Grenzen zum „Rest der Welt“ zu markieren (Luhmann 1965, S. 176). Dabei können die Markierungsformen unterschiedlich stark ausgeprägt sein.Footnote 33

Es gibt Gruppen – man denke an Freundeskreise in der Gothic-, der Punk- oder der Neonaziszene –, die viel Wert auf Markierungen in Form von Kleidungsnormen, Sprachstilen oder Räumen legen (s. dazu Neidhardt 1983b, S. 20). Auch wenn Gruppen dabei Symbole verwenden, die teilweise global in einer Bewegung verwendet werden, ändert dies nichts daran, dass sich diese in einem lokalen Kontext hervorragend als Markierungen eignen. Hier kann man an einzelnen Personen beobachten, wie sie sich durch die Veränderung in ihrer Kleidung, Sprache oder Raumpräferenzen als einer Gruppe zugehörig zeigen und dadurch die Markierungsnormen der spezifischen Gruppe verstärken.

Andere Gruppen – man denke an Freunde, die jede Woche Skat spielen, sich regelmäßig zum gemeinsamen Abendessen treffen oder jeden Donnerstag nach der Arbeit zum Jogging gehen – sind mit solchen Markierungen eher zurückhaltend. Hier führt allein schon die Kombination der Mitgliedschaft in einer Gruppe mit Mitgliedschaften in anderen Gruppen, Organisationen oder in Familien dazu, dass mögliche Symboliken kaum zum Einsatz kommen können. Aber auch sparsam genutzte Markierungsmöglichkeiten, wie zeitliche oder räumliche Regelmäßigkeiten, helfen bei der Selbstidentifikation als Gruppe.

Mit diesen Markierungsformen reagieren Gruppen auf ein spezifisches Problem: Gruppen fehlt, das wird von Luhmann in Erweiterung der systemtheoretischen Gruppenforschung hervorgehoben, die Möglichkeit einer „eindeutigen Mitgliedschaftszuweisung“ (Luhmann 2008, S. 21/3d27fc3). In der Clique auf dem Schulhof gibt es immer wieder Personen, bei denen nicht klar ist, ob sie dazugehören oder nicht. Um einen Freundeskreis vagabundieren immer wieder Personen, bei denen erst ausgehandelt wird, ob sie als Teil dieses Freundeskreises gezählt werden können. Gruppen haben, anders als Organisationen, kein Mitgliederverzeichnis, aus denen man eindeutig ersehen kann, wer dazugehört und wer nicht.

3.3 Unschärfe in der Bestimmung von Zugehörigkeit zur Gruppe

Die fehlende Möglichkeit zur eindeutigen Mitgliedschaftszuweisung hat in der Gruppenforschung dazu geführt, von einem unterschiedlichen Grade von „groupness“ (Sherif und Sherif 1968) oder „groupiness“ (Moreland 1987) zu sprechen. Die Rede ist von „near groups“ (Yablonski 1959) oder „quasi groups“ (Mayer 1966), die zwar vereinzelt starke Ähnlichkeiten zu Gruppen aufweisen, letztlich aber doch deutliche Unterschiede zum Idealtypus des Phänomens offenbaren. Statt ein System eindeutig als Gruppe oder als Nichtgruppe zu markieren, wird durch den Verweis auf einen unterschiedlich hohen Grad von „Gruppenhaftigkeit“ bestimmt, dass ein System mehr oder weniger den Charakter einer Gruppe annehmen kann.Footnote 34

Die Einführung solcher Abstufungen bei der Bestimmung sozialer Systeme wirft fast zwangsläufig die Frage auf, ob es überhaupt Sinn macht, von einem spezifischen sozialen System zu sprechen. So haben die unklaren Grenzen von Netzwerken Zweifel daran aufkommen lassen, ob man in diesen Fällen tatsächlich noch von sozialen Systemen mit klaren Umweltgrenzen sprechen kann (s. dazu Holzer und Fuhse 2010, S. 316 f.) Insofern ist es auch nicht überraschend, dass die Schwierigkeiten bei der Zuweisung von Mitgliedschaften eine Kritik an der Bestimmung von Gruppen als soziale Systeme zur Folge hatte (s. dazu Neidhardt 1983b, S. 15).

Diese Kritik am Verständnis von Gruppen als sozialem System beruht jedoch auf einem Verständnis, demzufolge die Umweltgrenzen von einem sozialen System immer eindeutig zu bestimmen sein müssen. Dieses systemtheoretische „Boxen-Denken“ mag für Systeme wie Organisationen plausibel sein, weil sie über ihre eindeutigen Mitgliedsverzeichnisse und ihre formalisierten Mitgliedschaftserwartungen zuverlässige Zurechnungsmechanismen zur Verfügung haben. Für andere soziale Systeme – man denke nur an Oberschichten in stratifizierten oder Protestbewegungen in funktional differenzierten Gesellschaften – ist dies häufig nicht so einfach. Systeme sind an ihren Grenzen viel unordentlicher als es eine karikaturelle systemtheoretische Betrachtung zunächst erscheinen lässt.

Man kann es demgegenüber geradezu als ein Charakteristikum vieler sozialer Systeme ansehen, dass die System-Umwelt-Grenzen fortwährend neu bestimmt werden. So lässt sich anhand historischer Überlieferungen analysieren, wie die Oberschichten stratifizierter Gesellschaften in ihren Interaktionen immer wieder neu austariert haben, wer dazu gezählt wurde und wer nicht (s. Luhmann 1980). Empirisch kann man beobachten, wie Bewegungen permanent abzuklären versuchen, wessen Protestaktionen man sich zurechnen möchte (s. Luhmann 1994). Die System-Umwelt-Grenze wird nicht, wie dies in Organisationen die Regel ist, durch eine Entscheidung fixiert, sondern permanent neu ausgehandelt.

Für die Konzeptualisierung von Gruppen bedeutet dies letztlich, dass deren Grenzziehungsmechanismen genauer in den Blick genommen werden müssen. Statt von einer (für Organisationen typischen) eindeutigen Zurechnung von Mitgliedschaften auszugehen, sollte man vielmehr die Fluktuation in der Zurechnung von Mitgliedschaft ins Blickfeld nehmen. Gerade weil es keine eindeutige Mitgliedschaftszuweisung gibt, stellt sich in Gruppen laufend die Frage, „welche Personen man zu einem personalisierten Interaktionskontext zusammenbringen kann“ (Luhmann 2008, S. 21/3d27fc3).Footnote 35

4 Gruppen und ihre Interaktionen

Die Interaktion ihrer Mitglieder ist ein konstitutives Merkmal von Gruppen (s. z. B. früh schon Eubank 1932, S. 161; Lundberg 1939, S. 341; später z. B. bei Fine 2012b, S. 25). Anders als beispielsweise Organisationen sind Gruppen auf eine regelmäßige Interaktion angewiesen. Finden diese nicht statt, droht die Gruppe zu zerfallen. Ein Effekt dieser Interaktionsbasierung von Gruppen war, dass in der Forschung Betrachtungen von Interaktionen und Gruppen stark miteinander verwoben wurden (s. nur für ein frühes und auffälliges Beispiel schon Bales 1950b, S. 33).Footnote 36

Die Interaktionsbasierung von Gruppen hat zu problematischen Verkürzungen in der Debatte geführt. Gerade in der sozialpsychologischen Forschung werden viele Phänomene der Face-to-Face-Kommunikation vorschnell unter dem Begriff der Gruppe diskutiert. Dabei wird bei einer kurzen experimentell simulierten Interaktion so getan, als ob die Forschungsergebnisse Aufschlüsse über die Funktionsweise von Gruppen geben, obwohl sich daraus bestenfalls Aussagen über von außen initiierte Face-to-Face-Interaktionen unter Fremden treffen lassen. Darüber hinaus war die Angewiesenheit auf regelmäßige Interaktionen aber auch einer der maßgeblichen Gründe für Systemtheoretiker, das Konzept der Gruppe als sozialem System zu verwerfen. Viele der auf die Gruppe zugerechneten Phänomene ließen sich, so das Argument, nämlich auch als eine Reihung einzelner Interaktionen darstellen.

Dabei wird jedoch ignoriert, dass Luhmann aufgezeigt hat, welche Erkenntnismöglichkeiten bestehen, wenn systematisch zwischen Interaktionen und Gruppen unterschieden wird.Footnote 37 Die Fusion des Systemtypus der Gruppe mit dem Systemtypus Interaktion verbaut, so mein Argument, Erkenntnismöglichkeiten über die Bedeutung von Interaktionen in Gruppen. Erst wenn man den Begriff der Gruppe konsequent von dem Begriff der Interaktion löst, kann man Phänomene, wie die Abwesenheit von einzelnen Gruppenmitgliedern in der Interaktion oder die Anwesenheit von Nichtgruppenmitgliedern in der Interaktion, von Gruppen überhaupt erfassen.

4.1 Die Handhabung von Anwesenheiten

Die Prominenz von Interaktion in Gruppen bedeutet nicht, dass alle Personen, die in einer Interaktionssituation anwesend sind, automatisch auch zu Mitgliedern der Gruppe werden. Ein Mitglied kann einen persönlichen Freund zu einem Gruppentreffen mitnehmen, ohne dass dieser durch die Teilnahme an der Interaktion schon zu einem Gruppenmitglied wird. „Die pure Anwesenheit von anderen Personen in Interaktionssituationen der Gruppe ist“, so Luhmann, „durchaus tolerierbar“ (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC3).

Die Tolerierung der Anwesenheit von Externen in Interaktionen der Gruppe ist, so Luhmanns Erweiterung der Gruppensoziologie, ein zentrales Merkmal, das „Gruppe gegen Interaktion“ differenziert (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC3).Footnote 38 Würde die Teilnahme einer Person an einer Interaktionssituation der Gruppe automatisch dazu führen, dass diese Person Mitglied der Gruppe werden würde, hätte dies zur Folge, dass die Gruppe extrem rigide kontrollieren müsste, wer an einer Interaktion teilnimmt. Andernfalls würde sie aufgrund von Zufällen in der Zusammensetzung der Interaktionen permanent wachsen oder schrumpfen.

Weil die Teilnahme an einer Interaktion nun aber nicht automatisch zur Gruppenmitgliedschaft führt, wird in Interaktionen, so die mögliche Fortführung des Gedankens, sehr genau beobachtet, ob ein Beitrag von einem Mitglied oder von einem Nichtmitglied formuliert wird. Abhängig davon können Aussagen zur Haltung gegenüber bestimmten Themen, zu unmittelbar anstehenden Aktivitäten oder zu Charaktereigenschaften von Personen nämlich ganz unterschiedliche Effekte nach sich ziehen.

4.2 Die Tolerierung von Abwesenheiten

Umgekehrt verlangt eine Mitgliedschaft nicht die Anwesenheit aller Gruppenmitglieder bei jeder Interaktion. Man kann als Mitglied also von Zeit zu Zeit fehlen, ohne dadurch sofort Gefahr zu laufen, den Status als Gruppenmitglied zu verlieren. Die Tolerierung der Abwesenheit in Interaktionen der Gruppe stellt, so könnte man die Überlegungen Luhmanns erweitern, ein zweites zentrales Merkmal dar, welches die Gruppe gegen Interaktion abgrenzt. Würde die Mitgliedschaft in einer Gruppe die Verpflichtung mit sich bringen, an jeder Interaktion teilzunehmen, würde dies äußerst restriktiv wirken und die Bereitschaft zur Mitgliedschaft reduzieren.

Es mag sicherlich Gruppen geben, in denen die Teilnahme an jeder Interaktion erwartet wird – man denke beispielsweise an einige sektenartige Gruppierungen oder auch an manche Straßengangs.Footnote 39 Dies sind aber empirisch selten vorkommende Ausnahmen. Stattdessen ermöglichen die Gruppen ihren Angehörigen im Regelfall, die bestehende Mitgliedschaft in der Gruppe mit tendenziell konkurrierenden Erwartungen, etwa von Familien, Organisationen oder auch von anderen Gruppierungen, zu vereinbaren.

Weil die Mitgliedschaft an sich nicht dazu verpflichtet, an jeder Gruppeninteraktion teilzunehmen, wird, so die Erweiterung der Luhmannschen Überlegungen durch Tyrell (1983a, S. 82 f.), die Abwesenheit von Gruppenmitgliedern beobachtet. Man bemerkt, dass ein Gruppenmitglied nicht dabei ist. Das Fernbleiben kann angesprochen werden oder von allen anwesenden Gruppenmitgliedern stillschweigend zur Kenntnis genommen werden.

5 Normen in Gruppen

Soziale Systeme, da unterscheiden sich Gruppen nicht von anderen mitgliedschaftsbasierten Systemen, wie Organisationen, Bewegungen oder Familien, stabilisieren ihre Grenzen zur Umwelt dadurch, dass sie spezifische Normen nicht nur ausbilden, sondern auch die Anerkennung dieser erwarten.

Die Ausbildung von Normen ist auch deswegen wichtig, weil auf die Differenz von Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft basierende Systeme darüber festlegen können, welche normativen Erwartungen an Mitglieder gestellt werden und welche nicht. Wenn Personen die sich in Gruppen ausgebildeten Erwartungsordnungen nicht anerkennen, dann wird man nicht als Mitglied eines sozialen Systems behandelt (Luhmann 2008, S. 532/5d1d).

Welche normativen Erwartungen wirken in Gruppen, wie bilden sie sich aus und wie werden sie stabilisiert?Footnote 40

5.1 Kombination von normativen Erwartungen und Auswahl von Mitgliedern

Aufgrund der Reproduktion von Gruppen über personenbezogene Kommunikation ist die dominierende Norm, sich selbst als Person darzustellen und gleichzeitig für die Selbstdarstellung anderer als Rezipient zur Verfügung zu stehen. Die Möglichkeiten zur Selbstdarstellung sind jedoch auch in Gruppen nicht unbegrenzt. Es würde eine Gruppe überfordern, so schon der Gedanke von Neidhardt, wenn sie alle „Erfahrungen, Argumente und Leidenschaften ihrer Mitglieder“ gleichermaßen zuließe. Es käme zu einem „Wahrnehmungsüberschuss“, der allen Beteiligten zu viel abverlangen würde (Neidhardt 1979, S. 646). Vereinfacht gesagt: Wenn alle alles von sich zeigen würden, wären die Kapazitäten der Gruppe schnell mit der Verarbeitung der Vielzahl von personenbezogenen Informationen überlastet. Aber das ändert nichts daran, dass man in Gruppen andere Möglichkeiten zur Selbstdarstellung einräumen muss.

In Gruppen verschränkt sich der Mechanismus der normativen Erwartung von persönlicher Selbstdarstellung, so die Erweiterung des Gedankens durch Luhmann, mit dem Selektionsverfahren der Gruppenmitglieder nach dem Prinzip der personalen Kompatibilität. Menschen schließen sich „mit bestimmten anderen – und mit anderen nicht – zusammen“. Sie suchen „die Gesellschaft jener, die es erlauben Symbole zu gebrauchen, die einer beabsichtigten Selbstdarstellung gemäß sind“ (Luhmann 2008, S. 52/10a7).Footnote 41 Die Gruppen ermöglichen dann wiederum die „Annäherung von Personen, indem sie die Differenzen individualisierter Erwartungssystemen abbauen“. Es kommt zu einer „Annäherung im Sinne einer wechselseitigen Erlebnisrelevanz“. Dadurch können Gruppen die Ansprüche an die Passung ihrer Mitglieder weiterentwickeln und so die Wahrscheinlichkeit für gelingende personenbezogene Kommunikation erhöhen (Luhmann 2008, S. 52/10b).

Auch wenn man berücksichtigt, dass die Verschränkungen der Ausbildung von normativen Erwartungen auf der einen und die Selektion von Mitgliedern auf der anderen Seite bisher theoretisch kaum bestimmt sind, deuten sich bereits an dieser Stelle vielfältige empirische Anschlussmöglichkeiten an. Beim Zigarettenrauchen in jugendlichen Cliquen spielt nicht nur die Selektion von neuen Mitgliedern eine Rolle – „rauchende Cliquen“ nehmen bevorzugt bereits rauchende Jugendliche auf –, sondern ebenso wichtig ist die Gewöhnung an die Norm des Rauchens an sich (s. dazu Ennett und Bauman 1994).Footnote 42 Bei terroristischen Gruppen finden sich Personen zusammen, die stark auf Probleme reagieren, aber erst in den Gruppen wird diese Problemwahrnehmung in einer geteilten Norm gewalttätiger Aktionen übersetzt (s. dazu McCauley und Segal 1987). Die Verschränkungen von der Ausbildung von spezifischen Gruppennormen und häufig impliziten Selektionskriterien für Mitglieder verstärken sich also gegenseitig und führen nicht selten zu einer deutlicheren Abgrenzung gegenüber der Umwelt.Footnote 43

5.2 Ausbildung, Veränderung und Durchsetzung von gruppenspezifischen Normen

Normen bilden sich in Gruppen eher schleichend aus (s. hierzu Tyrell 1983a, S. 80). Hier ist ein deutlicher Unterschied zu Organisationen zu erkennen, die zwar auch das mit dem Begriff der Informalität bezeichnete Einschleichen von normativen Erwartungen kennen, die darüber hinaus aber zum Treffen formaler Entscheidungen in der Lage sind, an die Organisationsmitglieder mit der impliziten oder expliziten Androhung des Ausschlusses gebunden werden.

Anders als Organisationen fällt es Gruppen also schwer, die Mitgliedschaft zu einer klar definierten „Sonderrolle“ auszubauen, an welche die Erfüllung einer Reihe von entschiedenen Erwartungen geknüpft werden kann (Tyrell 2006, S. 303). Es ist deswegen wesentlich komplizierter, einem Mitglied einer Freundesgruppe, einer Straßengang oder eines Gebetskreises mit dem Verweis auf einen drohenden Ausschluss aus der Gruppe bestimmte Verhaltenserwartungen abzuverlangen als dem Mitarbeiter in einem Unternehmen, einem Krankenhaus oder einer Verwaltung.

In Gruppen bilden und verstärken sich Normen in alltäglichen Kommunikationen.Footnote 44 Dabei kann es zu, wenn auch langsamen Veränderungen normativer Erwartungen kommen. Ein Freundeskreis von Müttern, der sich darüber gebildet hat, dass man sich nach der Schwangerschaftsgymnastik noch auf einen Kaffee getroffen hat, wird anfangs durch Themen der Aufzucht von Kleinkindern bestimmt, kann mit der Zeit allerdings die normativen Erwartungen in Bezug auf legitime Gesprächsthemen verlagern. Die Gruppen sind also sehr wohl in der Lage, normative Erwartungen zu modifizieren, abrupte Veränderungen werden sie in der Regel aber nicht ertragen.

Weil sich Gruppennormen schleichend verändern, wird Gruppenmitgliedern häufig gar nicht klar, wie stark sie dadurch beeinflusst werden (vgl. dazu schon Golembiewski 1959, S. 152).Footnote 45 Sprachnormen in Freundeskreisen bilden sich so langsam aus, dass den Freunden kaum auffällt, wie stark ihr Sprechverhalten durch die Erwartungen in einer Gruppe geprägt wurde. Einstellungen zum anderen Geschlecht in Jugendcliquen werden nicht einmal explizit verkündet, sondern spielen sich mit der Zeit ein und werden dann auch von neuen Mitgliedern übernommen, ohne dass dieser Prozess der Übernahme explizit thematisiert wird.Footnote 46

In der Entstehungsphase sind Gruppen geprägt durch das Austarieren dessen, was erwartet werden kann und was darüber hinausgeht. Welche Themen werden akzeptiert? Wie viel persönliche Öffnung wird erwartet, was überfordert die Gruppe? Dabei kann in der Anfangsphase die Normenbildung, jedenfalls angesichts der späteren Langsamkeit bei der Veränderung, überraschend schnell ablaufen, weil alle an einem wenn auch nur fiktiven Konsens interessiert sind (s. dazu Luhmann 2008, S. 532/5d2a2D1). In der Phase einer stabilisierten Normenbildung ist zu erwarten, dass sich in Gruppen Rituale in Form von immer wiederkehrenden Spezialthemen, der Erkundigung über das Wohlergehen von Bekannten oder immer wieder genutzten Witze etablieren (s. dazu aber mit breitem Gruppenbegriff Frey und Sunwolf 2005, S. 208 f.). In späten Phasen von Gruppen spielt – ähnlich wie in späten Ehen – häufig die eigene Systemgeschichte eine Rolle. Es wird an den Beginn der Beziehungen erinnert, an gemeinsame Erlebnisse oder an Konflikte mit anderen und somit letztlich die Aufrechterhaltung der internen Normen befördert.Footnote 47

Das Besondere von Gruppen, gerade auch in Abgrenzung zu Organisationen, ist, dass „volle Normkonformität in der Regel nicht erzwingbar“ ist (Luhmann 2008, S. 52/10c3a). Normen können in Gruppen im Gegensatz zu Organisationen nicht mit Verweis auf formale Regeln durchgesetzt werden, weil sowohl die Optionen zur Formalisierung von Mitgliedschaftserwartungen als auch die Möglichkeiten zum Ausschluss von Mitgliedern in Gruppen gering sind. Insofern werden offensichtliche Normenverletzungen von Gruppenmitgliedern häufig in Form von indirekter, also bestreitbarer Kommunikation sanktioniert. Fehlerverhalten wird durch Hochziehen der Augenbrauen, einen unauffälligen Husten oder auch durch bewusste Ignorierung des Gruppenmitglieds negativ markiert.Footnote 48

Diese begrenzten Möglichkeiten sind jedoch nicht besonders problematisch, weil die rigide Normendurchsetzung, darauf weist Luhmann explizit hin, für die Existenz von Gruppen gar nicht erforderlich ist. Vielmehr sei für Gruppen „ein flexibles Maß an Toleranz durchaus üblich“ (Luhmann 2008, S. 52/10c3a). Eine solche Sensibilität ist auch deswegen nötig, weil sich ein Konsens über Sachfragen vergleichsweise einfach herstellen lässt, während dies bei der Motivierung persönlicher Beurteilungen nicht ohne weiteres möglich ist (Luhmann 2008, S. 532/5d2a2D1).

5.3 Die Rolle von thematischen Fokussierungen in Gruppen

Zur Stabilisierung der Übereinstimmung in einer Gruppe ist ein „Mindestmaß an Konsens“ über die Normen der Gruppe notwendig. Für die Gemeinsamkeiten eignen sich dabei nicht Themen, in denen „Konsens mit jedermann selbstverständlich ist“. Über unbestreitbare Tatsachen, wie etwa dass die Sonne gerade scheint, die Bäume anfangen zu grünen oder die Bahn immer zu spät kommt, lassen sich zwar vorzüglich Alltagsinteraktionen mit Fremden gestalten, aber nur schwer Gruppen integrieren (Luhmann 2008, S. 52/10c2a).

Gruppen brauchen demgegenüber Themen, mit denen sie die internen Interaktionen am Laufen halten können. Luhmann spricht, und hier erweitert er die Überlegungen in der Gruppensoziologie erheblich, von der Notwendigkeit eines „Gruppenthemas“ – der Erforderlichkeit einer „Erlebnisthematik einer Gruppe“. Diese dient dazu „die Sinngegenstände und Erfahrungen zu bezeichnen, auf die sich das Gruppenleben – und -erleben bezieht“ (Luhmann 2008, S. 532/5d2af). Dabei ist klar, „dass sich nicht jedes Gruppenthema in gleicher Weise zur Erwartungsstabilisierung eignet“ (Luhmann 2008, S. 532/5d2af). Während ein Freundeskreis von Soziologiestudierenden die Diskussion über die autopoietische Wende sehr wohl als sinnvollen Beitrag zur geselligen Interaktion betrachtet kann, wird dieses Thema in einer Clique von Hooligans nicht unbedingt anschlussfähig sein.

Empirisch spricht viel dafür, dass sich Gruppen mit ihrer personalen Orientierung häufig als „Parasiten“ an Systeme angliedern, die selbst die Themen für die Fortsetzung von Kommunikationen zur Verfügung stellen (zur Theoriefigur des Parasiten s. Serres 1981). Dabei kann man an Freundeskreise denken, die sich aufgrund des Wiedersehens in einem Unternehmen bilden, welches diesen als eine nie endende Quelle von Klagen und Klatsch dienen kann (s. dazu schon Luhmann 1964, S. 324 ff.).Footnote 49 Man kann aber auch an Vereine denken, in denen die freiwillige Zusammenkunft zum Freizeitvertreib nicht nur die Verdichtung von persönlicher Kommunikation nahelegt, sondern auch wichtige Themen wie das Verlieren oder Gewinnen eines Spieles, die Fehler bei einer Rettungsübung oder die Erfolge bei der Aufzucht eines Superrammlers thematisierbar macht (s. dazu Horch 1985, S. 264).

In vielen Gruppen bilden sich also zentrale Themen aus, auf die man jederzeit wieder zurückkommen kann. Auffällig ist jedoch, dass diese Angelegenheiten keine Exklusivität besitzen. Ähnlich wie in Familien ist auch in Gruppen das nicht spezifisch auf die Gruppe bezogene Verhalten ein legitimes Thema von Kommunikationen. Ein Gruppenmitglied kann die Anfrage nach einer neuen Liebesbeziehung nicht einfach mit der Aussage „Das geht euch gar nichts an“ abweisen. Er oder sie hat ebenso eine, wenn auch begrenzte Auskunftspflicht für seine oder ihre beruflichen Entscheidungen, selbst wenn diese nicht unmittelbar für das Gruppengeschehen relevant sind. Während in Organisationen derjenige einer Begründungspflicht unterliegt, der Auskünfte über das Verhalten in Rollen haben will, die sich fernab des organisationalen Kontextes befinden, steht bei Gruppen, so könnte man einen Gedanken Parsons’ über Familien paraphrasieren, derjenige unter Rechtfertigungsdruck, der gerade keine Auskunft über andere Rollen als die in der Gruppe geben will (vgl. dazu Luhmann 1990, S. 193).

Die Ausbildung enger Kontakte setzt nicht unbedingt gemeinsame sozialstrukturelle Merkmale der Gruppenmitglieder voraus, kann diese aber erleichtern. Die gleiche Ausbildung, die Identifikation mit der gleichen Klasse, die Zugehörigkeit zur gleichen Generation, die Zurechnung zum gleichen Geschlecht, das Bekenntnis zur selben sexuellen Orientierung, eine ähnliche politische Ausrichtung oder ein identisches Hobby – zahlreiche Aspekte, die zwar nicht notwendige Voraussetzungen für die Ausbildung von Gruppen mit eigenen Normen sind, die aber deren Entstehung und Stabilisierung in vielen Fälle erheblich erleichtern können. Häufig verschränken sich in Gruppen die Klassenzugehörigkeit, die geschlechtliche Identität, die sexuelle Ausrichtung, die Zurechnung zu einer Generation und die politische Orientierung der Mitglieder so stark miteinander, dass eine übergreifende stabile Normenordnung von Gruppen entsteht (s. dazu Willis 1977).

6 Interne Differenzierung von Gruppen

In der frühen Gruppenforschung gab es ein starkes Interesse an der Rollendifferenzierung in Kleingruppen. So wurde am Beispiel von künstlich generierten Gruppen herausgearbeitet, dass die Rolle einiger Mitglieder im Einbringen von Ideen und der Anleitung zur Lösung von Problemen besteht, während andere eher als Vermittler zwischen den Mitgliedern agieren und für eine gute Stimmung sorgen (so einschlägig Bales und Slater 1955). Bei der Stimulierung gruppendynamischer Prozesse von außen wurde herausgestellt, dass sich in Gruppen unterschiedliche Rollen, wie die des „Strebers nach Anerkennung“, des „Verfahrensspezialisten“ oder des „Grenzstellenwächters“, ausbilden können (Olmsted und Hare 1978, S. 115).Footnote 50

Diese in der Regel in experimentell-simulierten Gruppen entdeckten Typenbildungen haben jedoch lange Zeit verdeckt, wie gering die Rollendifferenzierung in Gruppen eigentlich ist. Die Ansprüche in Gruppen, die ganze Person zu adressieren, verhindert zwar nicht prinzipiell eine Rollendifferenzierung, reduziert jedoch deren Möglichkeit erheblich (s. dazu Stirn 1952, S. 33; Tyrell 1983a, S. 80). Dies zeigt sich sowohl in der begrenzten horizontalen Differenzierung als auch bei der immer nur fragilen vertikalen Ausdifferenzierung von Führern und Geführten in Gruppen.Footnote 51

6.1 Horizontale Rollendifferenzierung

Durch die Darstellung von Enthusiasmus oder Distanz lassen sich Rollen zwar gegebenenfalls mit einer persönlichen Note versehen, doch alles in allem reduziert die Ausbildung von Rollen – dies wissen wir aus Forschungen über Organisationen – die Möglichkeit, sich als ganze Person dazustellen. Bei allen individuellen Versuchen zur Selbstdarstellung als Person wird eine Polizistin in erster Linie als Polizistin wahrgenommen, ein Straßenfeger zuallererst als Straßenfeger.

Die Orientierung an Personen ist ein zentraler Grund, weswegen in Gruppen auf die Ausbildung von Rollen verzichtet wird. Der Anspruch an persönliche Kommunikation würde überlagert werden, wenn das Verhalten zu stark durch ausdifferenzierte Rollen festgelegt werden würde. In einem solchen Fall wären die Selbstdarstellungsmöglichkeiten so stark eingeschränkt, dass die Person hinter der Rolle kaum noch erkennbar wäre.

In Gruppen lässt sich stattdessen ein fast schon gegenteiliger Effekt beobachten: Wenn sich so etwas wie rollenähnliche Erwartungsbündel ausbilden, dann dienen diese dazu, die persönliche Darstellung zu unterstützen. Man denke dabei an herumlungernde Gangs an Straßenecken, z. B. an die Figuren des „brains“, des „jesters“, der „sissy“, des „show-offs“ oder des „goats“ (Thrasher 1927, S. 326). Oder man nehme bei Gruppen von Hooligans die Figuren des Gewaltaktionen anstoßenden „aggro leaders“, des durch besonders verrücktes Verhalten auffallenden „nutters“ oder die sich durch hohen Alkoholkonsum präsentierenden „heavy drinkers“ (Marsh et al. 1978, S. 57 ff.). Ähnliches lässt sich auch bei Jugendcliquen beobachten, die einzelne Mitglieder mit Bezeichnungen wie „jocks“, „nerds“, „burnouts“, „stoners“, „brains“ oder „preppies“ betiteln (Sussman et al. 2007, S. 1602 ff.). Dass es sich bei diesen Figuren allerdings in erster Linie gerade nicht um Rollen handelt, ist allein schon daran erkenntlich, dass Personen mit diesen Verhaltenserwartungen in der Regel nicht auf genau definierte und bereits existierende Rollen aufbauen, sondern sich diese langsam als Form der persönlichen Selbstdarstellung ausbilden.Footnote 52

Einen Sonderfall bei der Ausdifferenzierung von Rollen stellen solche Gruppen dar, die ihre hohen Ansprüche an persönliche Kommunikation zwischen den Mitgliedern im Rahmen einer spezifischen, vorher festgelegten thematischen Ausrichtung der Gruppe entwickeln. Eine Jazzband wird fast zwangsläufig Rollen von Sängern, Bassisten, Gitarristen und Saxophonisten ausbilden, eine Clique von Fußballern die Rollen von Torwarten, Verteidigern, Mittelfeldspielern und Stürmern. Aber auffällig ist, dass diese aufgabenspezifischen Spezialisierungen nur sehr begrenzt zu einer Rollendifferenzierung in der persönlichen Kommunikation zwischen den Mitgliedern führen. Es mag Gruppenmitglieder geben, die ihre aufgabenbezogenen Rollen als Ausdrucksformen in persönliche Kommunikation überführen – man denke an den introvertierten Bassisten oder die eigenbrötlerische Torwartin. Dabei handelt es sich jedoch um Stereotypen, nicht um Rollen.

6.2 Vertikale Rollendifferenzierung

Die Frage der vertikalen Differenzierung hat in der Gruppenforschung eine wichtige Rolle gespielt. Besonders die Forschungen der Gruppe um Lewin zu unterschiedlichen Führungsstilen von Kindergruppen – autoritär, gleichgültig, indifferent und demokratisch – haben hier einen wichtigen Einfluss gehabt (Lippitt und White 1958; s. dazu Shils 1951, S. 54 f.).Footnote 53

Dabei wurde jedoch übersehen, dass Gruppen sehr häufig durch Egalitätsnormen gekennzeichnet sind (Neidhardt 1983b, S. 19). Diese zeigen sich in einer vergleichsweise hohen Symmetrie in der Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander, und zwar nicht nur zwischen zwei, sondern zwischen allen Gruppenmitgliedern. Wenn Carrie gleich mit Samantha ist, so die Beobachtung von Martin und Lee (2010, S. 120 f.), dann ist in einer Gruppe bei allen persönlichen Unterschieden auch Miranda mit Charlotte gleich und darüberhinausgehend natürlich auch Carrie mit Miranda und Samantha mit Charlotte.Footnote 54

Die Egalitätsnormen lassen es wahrscheinlich werden, dass sich eher wechselnde Führungen in Gruppen ausbilden. Gruppen sind ein typisches Beispiel dafür, dass in einem sozialen System jedes Mitglied „in der Lage ist, den Ton anzugeben, durch Einfluss auf andere Mitglieder problematische Normen zur Anerkennung zu bringen, auszudrücken, was erwartet wird“. In solchen Szenarien gelingt die Führung, wenn einem Mitglied in „ungewöhnlichen Situationen ein Vorschlag“ einfällt, der akzeptiert wird. Dabei ist gut möglich, dass sich Führung ohne „bewussten Führungsanspruch“ durchsetzt und daraus auch kein Anrecht abgeleitet werden kann, für „andere Fälle und andere Situationen“ zu dominieren (Luhmann 1964, S. 208).

Aber auch in Gruppen lässt sich beobachten, dass Führung Gegenstand einer wenigstens teilweise „abgehobenen Rolle von besonderer Prominenz gemacht wird“ (Luhmann 1964, S. 208). Einfallstor für die Ausbildung von, wenn auch häufig fragilen Ausdifferenzierungen sind die in Gruppen unvermeidlichen Statusdifferenzen. In Freundeskreisen gibt es Personen, die sich mehr oder minder stark um das regelmäßige Zusammenkommen kümmern. In musizierenden Versammlungen bilden sich Personen aus, die aufgrund ihres Talents oder ihres Engagements besonders geachtet werden. Solche Statusdifferenzen führen in vielen Fällen dazu, dass Führung sich immer mehr bei einzelnen Personen konzentriert.

Dabei lässt sich eine immer stärkere Institutionalisierung dieser Führungsrolle beobachten. Der Vorrang eines Partners gewinnt eine sich selbst verstärkende Sicherheit. Es wird für alle Beteiligten immer schwieriger, im Einzelfall gegen einen Situationsstil zu „handeln, auf den sie sich schon eingelassen hatten“ (Luhmann 1970, S. 55). Verstärkt wird die Ausbildung von Führungsrollen dadurch, dass Folgende wahrnehmen, dass auch andere folgen. „Die einen nehmen dann Einfluss an, weil die anderen ihn annahmen; und die anderen nehmen ihn an, weil die einen ihn annehmen.“ Das ermöglicht für einzelne Gruppenmitglieder neue Chancen. „Ist Einfluss über mehrere Personen möglich und erwartbar, kann der Führer wählen, wen er beeinflusst; er gewinnt Alternativen hinzu, die wiederum zum Orientierungsfaktor für andere werden.“ Das hat Konsequenzen für die vertikale Differenzierung in Gruppen: „Der Führer wird unabhängig von konkreten Gehorsamkeitsbedingungen, die ein Einzelner ihm stellen könnte. Der Einzelne verliert Möglichkeiten, die er selbst hat, und muß gegebenenfalls die Gruppe gegen den Führer aufbringen. Und ebenso muß der Führer sich um die Erhaltung eines, wenn auch illusionären Gruppenklimas bemühen, nämlich um die Erhaltung der Unterstellung, dass die jeweils anderen ihn als Führer akzeptieren würden und der Abweichende sich isolieren würde.“ Der Vorrang eines Gruppenmitglieds nimmt eine „sich selbst verstärkende Sicherheit an“ (Luhmann 1975c, S. 76).

6.3 Differenzierungsdruck auf Gruppen

Der Differenzierungsgrad kann in Gruppen stark variieren. Gerade die Erhöhung des Außendrucks, darauf weist nicht zuletzt Neidhardt (1979, S. 644) hin, führt in vielen Fällen zu einer stärkeren Differenzierung. Handelt es sich lediglich um eine abschätzige oder abwertende Wahrnehmung der Gruppe durch die Umwelt, führt das in der Regel nur zu einer Stärkung der internen Solidarität. Cliquen von Punks sind nur ein Beispiel dafür, wie eine intensive Gruppensolidarität durch die Provokation einer Umweltreaktion produziert und aufrechterhalten wird. Gerät die Gruppe jedoch darüber hinaus unter unmittelbaren Handlungsdruck, führt dies häufig zu einer stärkeren Ausdifferenzierung von Rollen.

Dieser Prozess ist anhand verschiedener Gruppentypen herausgearbeitet worden. Schon aus der frühen Forschung über Gangs wissen wir, dass Konflikte mit anderen Gangs oder mit der Polizei dazu führen, dass sich nicht nur Rollen von Spezialisten ausbilden, sondern auch eine konstantere hierarchische Führung entsteht (so schon Thrasher 1927, S. 328). Für politische Aktionsgruppen kann man davon ausgehen, dass die Entscheidung in den Untergrund zu gehen aufgrund des Verfolgungsdrucks zur Ausbildung von Führungsrollen führen kann (s. jedoch in Richtung auf Konsensdruck argumentierend Neidhardt 1982, S. 346).

Die Umwelt scheint einen großen Einfluss darauf zu haben, inwiefern aus einer Gruppe mit einem vorrangigen persönlichen Bezug zueinander eine Organisation mit sich immer stärker ausdifferenzierenden Rollen werden kann. Dabei scheint die an persönlicher Kommunikation angelehnte Binnenorientierung der Gruppe zunehmend durch eine an Umwelterwartungen ausgerichtete Außenorientierung ersetzt zu werden.

7 Perspektive einer Soziologie der Gruppe

Luhmann hat früh Kritik am Mainstream der Gruppenforschung geäußert. Zwar hätte diese, so Luhmann, „ohne Zweifel wichtige Forschungserfolge“ erreicht, die die „gesamte empirische Soziologie“ beeinflusst haben, es hätte jedoch „keine ausreichende theoretische Integration der Konzepte“ gegeben. Aspekte wie Führung, Normierung, Gefühl und Leistung seien isoliert beforscht und nur ein „loser Zusammenhang“ zwischen den Aspekten hergestellt worden. In der Forschung sei immer davon ausgegangen worden, dass Gruppen „letztlich doch immer aus Menschen bestehen“. Damit verschloss man sich die Möglichkeit, dass der „konkrete Mensch“ als „Umwelt des sozialen Systems“ verstanden werden konnte. Das hätte, so Luhmann, dazu geführt, dass sich kein systematischerer Blick für die Beziehung des Systems Gruppe zur Umwelt ausgebildet hätte (Luhmann 1969, S. 9 f.).

Dabei deutete Luhmann selbst an, wie sich mit einem Verständnis von Gruppen als soziales System die theoretischen Kurzschlüsse der Gruppensoziologie vermeiden lassen würden. Der grundlegende Fehler der Gruppensoziologie war, dass Gruppen primär über die Anzahl ihrer Mitglieder bestimmt wurden. Alle sozialen Gebilde, die zwischen zwei und ungefähr 20 Mitglieder aufwiesen – Spontaninteraktionen, Familien, Kleinstorganisationen, Arbeitsteams oder Freundeskreise –, wurden unterschiedslos als Gruppen verstanden, ohne eine Perspektive für die Spezifik der jeweiligen sozialen Systeme einzunehmen (so z.B. bei Neidhardt 1983a).

Die von Luhmann selbst entwickelte konsequente Loslösung des Gruppenbegriffs von einer quantitativen Bestimmung ermöglicht es, in einem ersten Zugriff drei wichtige Spezifikationen vorzunehmen. Die erste richtet sich gegen die vorschnelle Fusionierung von Teams, Cliquen und Gruppen in der Literatur, für die es jenseits der ähnlichen Größe keine Gründe gibt (Luhmann 2008, S. 532/5d6aB; so auch König 1983, S. 56).Footnote 55 Bei Teams handelt es sich um formale Subeinheiten von Organisationen, bei Cliquen um informale Subeinheiten innerhalb von Organisationen und bei Gruppen um eigenständige auf personenbezogene Kommunikation basierende Systeme, die sich unter anderem im Schatten von Organisationen ausbilden können (s. dazu Kühl 2008). Die zweite Spezifikation richtet sich gegen die Vorstellung, Familien als einen Sonderfall von Gruppen zu verstehen. Zwar ähneln Familien Gruppen in den Ansprüchen an eine persönliche Kommunikation, verfügen aber gerade in der Eltern-Kind-Beziehung über grundlegend andere Mechanismen zur Rekrutierung ihrer Mitglieder. Das führt zu sehr unterschiedlichen Systemlogiken von Kleinfamilien im Vergleich zu Freundesgruppen.Footnote 56 Die dritte Spezifikation umfasst die Frage, ob es Sinn macht, auf personenbezogene Kommunikation basierende Dyaden und Gruppen als zwei unterschiedliche Systemtypen zu unterscheiden, oder ob Dyaden nicht doch als Sonderfall von Gruppen zu verstehen sind. In einer ersten Lesart kann man davon ausgehen, dass der Übergang von einer Dyade zu einer Triade zwar einen Strukturwandel des Systemtypus bedeutet, es allein dadurch aber noch nicht notwendig wird, von einem grundlegend anderen Systemtypus auszugehen.Footnote 57

Es fällt auf, dass die Forschung über Gruppen gerade im Vergleich zu der über Organisationen, Familien, Professionen oder Netzwerke vergleichsweise schwach ausgeprägt ist.Footnote 58 Der Erfolg eines systemtheoretisch informierten Begriffs der Gruppe wird sich nicht vorrangig daran entscheiden, ob es gelingt, diesen in das bereits existierende Theoriegerüst einzufügen. Gesellschaften tun Soziologen leider nicht den Gefallen, ihre Strukturen an deren Interesse an Theorieästhetik auszurichten. Die zentrale Frage wird vielmehr sein, ob es gelingt, soziale Phänomene mit einem systemtheoretisch informierten Verständnis von Gruppe besser fassen zu können. Dabei scheinen besonders drei – auch bei Luhmann bereits angedeutete – Forschungsperspektiven zentral zu sein.

Eine erste Forschungsperspektive ist die historische Rekonstruktion der Ausdifferenzierung von Gruppen als ein eigenständiges soziales System. Schon Luhmann selbst konstatiert, dass Gruppe als eine „besondere Art von Systembildung“ erst vergleichsweise spät erfolgte (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC2). Empirisch spricht einiges dafür, dass sich beim Übergang von einer stratifizierten auf eine funktional differenzierte Gesellschaft sich auf personenbezogene Kommunikation stützende Gruppen mehr oder minder parallel zu Organisationen, aber auch zu Protestbewegungen und Kleinfamilien ausgebildet haben. Zwar lassen sich schon in segmentär und stratifiziert differenzierten Gesellschaften Beziehungen zwischen zwei und mehreren Personen beobachten, die an das moderne Phänomen der Freundschaft erinnern – man denke nur an Blutsbruderschaften und Schwurfreundschaften, die sich in einigen frühen Kulturen finden lassen (s. dazu einschlägig Schmidt 2000). Diese Beziehungen waren jedoch, darauf weist Tenbruck (1964, S. 448) hin, häufig sakral abgesicherte Erwartungen, deren Verletzung zum Ausschluss aus dem Gemeinwesen führen konnte. Mit der modernen Vorstellung einer frei gewählten Beziehung zwischen zwei Personen hat dies wenig tun. Die Kernphase der Ausdifferenzierung von Gruppen als eigenes soziales System scheint in der „Sattelzeit“ – also in der von Koselleck (1987, S. 269 ff.) identifizierten Epochenschwelle von ungefähr 1750–1850 – zu liegen. Bei der Betrachtung dieses Ausdifferenzierungsprozesses käme es vorrangig darauf an, herauszuarbeiten, wie sich ein „Verständnis für rein persönliche Beziehungen“ in Abgrenzung zu den besonders in Form von Organisationen entstehenden „unpersönlichen Beziehungen“ ausgebildet hat (Luhmann 2008, S. 21/3d27fC2).

Eine zweite, daran anschließende Forschungsperspektive besteht darin, die Funktion von Gruppen in der modernen Gesellschaft näher zu bestimmen. Schon von Luhmann ist herausgearbeitet worden, dass die Ausbildung von zunehmend einzelnen Personen abstrahierenden Funktionssystemen, wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft und Massenmedien, die Ausbildung von einem eigenen Funktionssystem notwendig gemacht hat, in dem Personen ihre Bedürfnisse nach persönlicher Ansprache befriedigen können.Footnote 59 Sicherlich spielt dabei die weitgehende Befreiung der Familien von politischen, religiösen und wirtschaftlichen Funktionen sowie deren Konzentration auf die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder nach gegenseitiger Zuneigung, mitfühlendem Verständnis und gemeinschaftlicher Identität eine wichtige Rolle (Burgess und Locke 1945, S. vii), aber für die Befriedigung des Bedürfnisses nach „kommunikativer Behandlung von Individualität“ (Luhmann 1982, S. 15) stehen – und so die hier vorgeschlagene Ergänzung – mit Freundschaften oder Liebesbeziehungen funktionale Äquivalente zur Verfügung.Footnote 60 Hier könnte es interessant sein, zu untersuchen, wie sich die Befriedigung der Bedürfnisse nach persönlicher Ansprache ersetzen oder austauschen lässt und welche Effekte dann entstehen – insbesondere in Fällen, wenn beim weitgehenden Fehlen solcher personenbezogenen Systeme zur Bedürfnisbefriedigung versucht wird, sich selbige z. B. in Organisationen erfüllen zu lassen.Footnote 61

Eine dritte Forschungsperspektive besteht in der Rekonstruktion der Verschachtelung und den Transformationen von Gruppen mit und zu anderen Systemtypen. Luhmann hat früh die Idee eingeführt, dass sich verschiedene Ebenen der Systembildung unterscheiden lassen. Interaktionen finden sich im Rahmen von Organisationen, Organisationen bewegen sich in modernen Gesellschaften (einschlägig Luhmann 1975b; ausführlich 2015). Die Herausforderung besteht darin, in dieses Modell nicht nur Familien und Bewegungen, sondern auch Gruppen einzuführen. Hier deutet sich schon an, dass es wenig Sinn macht, Gruppen als System zwischen Interaktion und Organisation (so die Tendenz z. B. bei Dunphy 1972, S. 34; Willke 1978, S. 343; oder Tyrell 1983a, S. 78), sondern vielmehr Gruppen als eine Ausprägung zwischen Interaktion und Gesellschaft, gleichzeitig aber neben Organisationen, Bewegungen und Familien zu verstehen. Sicherlich können Gruppen an Organisationen, Bewegungen oder Familien parasitieren, indem sie diese als Anlässe zum Zusammenkommen nutzen, aber es gibt auch Organisationen, Familien oder Bewegungen, die aus Gruppen heraus entstanden sind.Footnote 62 Der Blick auf Verschachtelung und Übergänge zwischen Systemtypen kann dazu dienen, den Fokus nicht nur auf Idealtypen der Gruppe – man denke hier besonders an Freundeskreise – zu lenken, sondern darüber hinaus die Aufmerksamkeit auch auf Phänomene zu richten, in denen zwischen verschiedenen Systemlogiken changiert wird. Dazu sind nicht nur die Überlegungen von Luhmann zum Verhältnis von Gruppen und Organisationen relevant (s. dazu die Zettel in Anschluss an Luhmann 2008, S. 54/11), sondern es lassen sich auch interessante Überlegungen zum Verhältnis von Gruppen und Bewegungen oder Gruppen und Familien anstellen (s. dazu Kühl 2015, S. 75 ff.).

Aus einer Position eines systemtheoretischen Dogmatismus könnte man einer Renaissance eines sowohl theoretischen als auch empirischen Interesses am Phänomen der Gruppe kritisch gegenüberstehen. Luhmann, so ein mögliches Argument, hätte gute Gründe gehabt, die Versuche für eine Systemtheorie der Gruppe einzustellen und damit ein klares Signal zu geben, dass Ansätze in diese Richtung vergeblich sind. Sinnvoller scheint es jedoch zu sein, die überraschend weit gediehenen Perspektiven Luhmanns zu einer Systemtheorie der Gruppe zu nutzen, um auf dieser Grundlage zu prüfen, ob und wie diese theoretischen Überlegungen einerseits erweitert werden können und wie fruchtbar andererseits sich anschließende empirische Ausarbeitungen sein können.Footnote 63