Einführung

Die Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen wurde vor der COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie auf 10–20 % geschätzt [18, 32]. Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey bezifferte die Prävalenz psychischer Störungen mit 17 % [19, 20]. Als häufigste Screening-Diagnosen wurden depressive Störungen vor Angststörungen und Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) gefunden [19]. Psychische Störungen in der Kindheit und Jugend persistieren häufig bis in das Erwachsenenalter [18, 26]. Als wesentliche Ursachen dafür werden u. a. eine niedrigere Inanspruchnahme von Behandlungsmöglichkeiten und eine lange Behandlungsverzögerung angeführt [26]. Es wird geschätzt, dass nur ein geringer Teil der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten in Kontakt mit Fachversorgern wie Psychiater:innen, Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen steht [19].

Angesichts dieser klinischen Unterversorgung kommt den Fachkräften in sozialpädagogischen Bereichen die wichtige Aufgabe zu, psychische Auffälligkeiten bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsene zu erkennen und mit adäquaten Hilfestellungen zu reagieren. Entsprechend bieten Kommunen Fortbildungsangebote im Themenfeld „Psychische Gesundheit“ an. Diese werden durch Sozialpsychiatrische Dienste, Zentrum für Schulpsychologie oder Beratungsstellen für Eltern, Kinder und Jugendliche sowie Kooperationspartner aus dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfesystem mit den Kliniken für Kinder und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie umgesetzt. Werden generische Maßnahmen konzipiert, sind sie für viele Fachkräfte jedoch „zu weit weg von der täglichen Arbeit“ und werden den Herausforderungen im eigenen Bereich nicht gerecht (persönliche Kommunikation). Es gibt kaum empirische Studien und evaluierte Konzepte, auf die Fachkräfte in der pädagogischen Arbeit zurückgreifen können [13]. Vor diesem Hintergrund wird in einer nordrhein-westfälischen Kommune (Gesundheitsamt, Amt für Soziales) ein Schulungskonzept für Fachkräfte in den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe entwickelt. Als Vorarbeit für diese Schulungen erfolgte eine wissenschaftliche Bedarfsabfrage der Fachkräfte. Das Ziel war die Ermittlung des Schulungsbedarfs zum Thema „psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen“.

Methode

Für die vorliegende Studie wurden Fokusgruppen mit sozialpädagogischen Fachkräften aus verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe der Stadt Düsseldorf durchgeführt.

Zunächst wurde in einem interdisziplinären Team (Medizinsoziologie, Public Health, Jugendhilfeplanung, Psychologie) der Leitfaden anhand der SPSS(Sammeln, Prüfen, Sortieren und Subsummieren; [15])-Methode und unter Berücksichtig und der Ausdrucksregeln nach Kruse [23] entwickelt. Dabei wurden Herausforderungen, Probleme und Veränderungen bzgl. der Arbeit mit den Klienten thematisiert, Wünsche und Bedarfe der Unterstützung in der alltäglichen Arbeit sowie die Kenntnis der Angebotsstruktur. Der Leitfaden ist in Anlage 1 (s. Supplement) beigefügt.

Dann wurden fachlich homogene Fokusgruppen aus den zentralen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe von je 4–8 Personen auf Mitarbeiter:innen- und Leitungsebene geplant. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgte durch die Netzwerke der städtischen Ämter (Gesundheitsamt, Amt für Soziales und Jugend). Die Einladung der identifizierten Fachkräfte erfolgte durch ein E‑Mail-Anschreiben und Telefonate mit Informationen zum Forschungsvorhaben. Die Teilnahme an den Fokusgruppen unter Ausschluss der Öffentlichkeit fand im Rahmen der beruflichen Tätigkeit statt und es wurden keine Incentives gewährt. Die Fokusgruppen der Fachbereiche Jugendberufswerkstätten inklusive Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche und Stationäre Hilfen zur Erziehung wurden mangels Teilnehmenden zusammen durchgeführt. Insgesamt ergab sich die folgende Gruppenzusammensetzung (Tab. 1). Zum besseren Verständnis sei dort die jeweilige Funktion der Bereiche kurz erläutert.

Tab. 1 Zusammensetzung der Fokusgruppen

Fünf der 7 Fokusgruppen wurden in Präsenz durchgeführt, während die 2 übrigen Fokusgruppen angesichts der zum Erhebungszeitpunkt gültigen pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen per Videokonferenz stattfanden. Die Fokusgruppen begannen jeweils mit einer Aufklärung über das Vorhaben und dem Einholen der Einwilligungserklärung zur Teilnahme am Interview und der Studie. Nach einer Begrüßungsrunde startete die Diskussion, die anhand des Leitfadens moderiert wurde. Die Sitzungen dauerten zwischen 59 und 95 min (Mittelwert 80 min).

Alle Diskussionen wurden aufgezeichnet, anschließend professionell transkribiert und anonymisiert. Zur Untersuchung der verschiedenen Bereiche erfolgte für jede Fokusgruppe eine separate Inhaltsanalyse. Die jeweiligen Transkripte wurden in Anlehnung an die inhaltlich-strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz [24] ausgewertet. Es wurde ein deduktiv-induktives Vorgehen gewählt, bei dem der Leitfaden als Grundlage der deduktiven Oberkategorien diente und induktive Unterkategorien aus dem Datenmaterial entwickelt wurden. Die Kodierung erfolgt mit Hilfe der Datenanalysesoftware MAXQDA (Version 20, VERBI GmbH, Berlin).

Das Forschungsvorhaben wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Düsseldorf positiv votiert (Studie Nr. 2021-1375).

Ergebnisse

Für die vorliegende Arbeit wurden ausschließlich die Ergebnisse zu den Wünschen und Bedarfen der Unterstützung in der alltäglichen Arbeit ausgewählt, die nachfolgend nach Fachkräftegruppen getrennt dargestellt sind. Zur Illustration der verschiedenen Punkte werden Ankerbeispiele hinzugefügt.

Kindertageseinrichtungen

Die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen nennen vielfältige Schulungsbedarfe: Sie berichten über den Wunsch nach Fortbildungen zur psychischen Entwicklung von Kindern, um zwischen psychischen Erkrankungen und altersangemessenen Entwicklungsaufgaben zu differenzieren. Außerdem möchten sie psychische Erkrankungen bei Eltern erkennen. Sie plädieren auch für Schulungen, um auf verschiedene Behinderungen und Symptomatiken der Kinder (beispielsweise Autismus-Spektrum-Störungen und die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung) angemessen reagieren zu können.

„Ja was z. B. Autismus bei uns betrifft, als wir das erste Kind reinbekommen haben, das war vorher für uns gar nicht ersichtlich im Aufnahmeverfahren, weil die Eltern das gar nicht transparent gemacht haben mir gegenüber und als dann das Kind das erste Mal rein kam zum Besuchernachmittag, da war erstmal (…), irgendwie ist das Kind anders als ‚normale‘ in Anführungszeichen und dann überhaupt erstmal das notwendige theoretische Wissen zu haben, worum geht es da? Dann kommt das nächste, das praktische Wissen; wie gehe ich mit so einem Kind um?“

Sie benennen auch einen Schulungsbedarf zu Gesprächsstrategien mit Eltern und zum Umgang mit geringfügiger Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft.

„Da wünsche ich mir einfach mehr so eine Möglichkeit, den Eltern auch entgegenzutreten und zu sagen, diese Erwartung haben wir an Sie und bitte machen Sie das, weil das mit der Vertrauensarbeit uns manchmal einfach dafür die Zeit fehlt. Wenn Eltern schneller da wären, das Vertrauen vielleicht auch schneller da ist, aber es vergehen manchmal anderthalb Jahre, bis die Eltern zum ersten Gespräch kommen.“

Sie verweisen zudem auf notwendige Fortbildungen zu vorhandenen und zielgruppenspezifischen Angeboten und Hilfen. Weiterhin möchten sie zu einem sicheren und gesunden Umgang mit der erhöhten Mediennutzung der Kinder befähigt werden.

Schulsozialarbeit und Fachstelle Schulverweigerung

Schulsozialarbeitende und Fachkräfte der Fachstelle Schulverweigerung plädieren ebenfalls für eine Vermittlung von psychologischem Fachwissen zur Unterscheidung von psychischen Erkrankungen und altersgemäßer Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

„Und in diesem Ganzen zu erkennen, ab wann starte ich jetzt tatsächlich dieses Gespräch, hier ist ein Kind wirklich in seiner psychischen Gesundheit gefährdet?“

Sie wünschen sich auch Fortbildungen zum Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Außerdem nennen sie den Bedarf an Fortbildungen zu Techniken der Gesprächsführung und zu einem sicheren Umgang mit der zunehmenden Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen.

„Und da suche ich schon mal so eine Fortbildung, was eher so wäre Gesprächstechniken, wie kann ich besser an die Jugendlichen rankommen und auch so Hintergründe herausfinden.“

Schließlich empfehlen sie, dass auch die Gruppe der Lehrkräfte zu psychischen Erkrankungen geschult wird.

Jugendberufswerkstätten inklusive Beratungsstelle für arbeitslose Jugendliche und stationäre Hilfen zur Erziehung

Die Fachkräfte der Jugendberufswerkstätten benennen einen Schulungsbedarf zur Differenzierung pubertärer Verhaltensweisen und behandlungswürdiger Verhaltensauffälligkeiten. Außerdem schlagen sie Schulungen zu einem angemessenen Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen vor. Auch sollte das Schulungskonzept Kenntnisse über geeignete Hilfestellungen von Klient:innen, auch wenn diese bisher keine Diagnose erhalten haben, enthalten.

Darüber hinaus möchten sie über Hilfsangebote und entsprechende Ansprechpartner:innen informiert sein.

„Welche psychischen Hilfsangebote gibt es denn? Was wir gerade gesagt haben, es gibt ja viel, aber wir wissen es halt auch alle nicht, oder nur vereinzelt und jeder arbeitet dann nur mit dem zusammen, den er kennt.“

Die Fachkräfte der stationären Hilfen zur Erziehung wünschen sich Fachwissen über die Störungsbilder der Klienten, um diese von gewöhnlichen Entwicklungsaufgaben unterschieden zu können.

„Ja und da weiß ich manchmal nicht, was sind normale Jugendentwicklungsgeschichten, wo verfestigt sich das dann so, dass das/also das finde ich ist so eine Gratwanderung. Wo fängt das an, dass das sich so verfestigt, dass es zu einer sozialen Phobie oder irgendwelchen gravierenden Problematiken dann halt wird? Das finde ich schwierig, das mal rauszufinden.“

Sie benennen einen Schulungsbedarf zur Identifizierung psychisch kranker Eltern. Ebenso möchten sie zu einem angemessenen Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen befähigt werden, zu einer akuten Krisenintervention und -nachsorge, zu einer nachhaltigen Beziehungsarbeit (auch mit traumatisierten Kindern) und zur sicheren Anwendung allgemeiner Gesprächstechniken.

Sie wünschen sich darüber hinaus Weiterbildungen zu Deeskalationsmethoden und Kenntnisse über die strukturellen Möglichkeiten und Grenzen der psychosozialen Versorgung im Rahmen der Jugendhilfe.

Häuser für Kinder, Jugendliche und Familien

Diese Fachkräfte haben ebenfalls einen Schulungsbedarf zur Früherkennung psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen.

„Was ich auf jeden Fall bräuchte, wäre einfach eine Fortbildung, eine Schulung, die so in die Richtung Frühwarnsystem, Erkennungssystem geht, was psychische Gesundheit angeht, oder halt Gefährdung.“

Ebenso möchten sie zu einem angemessenen Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen und hinsichtlich einer akuten Krisenintervention (beispielsweise bei Suizidalität und aggressiven Ankündigungen) befähigt werden. Auch schlagen sie einen Ausbau der Fortbildungen zu riskantem Sexualverhalten vor. Darüber sollte die Schulung Kenntnisse zu den vorhandenen Angeboten und Hilfen zur Mediennutzung und Medienkompetenz vermitteln.

„Und wenn … also ich habe es jetzt noch nicht selber erlebt, dass wirklich sehr harte pornografische Inhalte da gezeigt wurden, aber das ist ja total verstörend. Also da fühle ich mich momentan auch nicht besonders gut geschult, vorbereitet als Fachkraft, da auch irgendwie mit den Kindern in Kontakt zu sein, zu gucken, wie können wir das auffangen?“

Eltern- und Jugendberatungsstellen

Die Fachkräfte unterstützen den Ausbau von Schulungen zur psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Außerdem benennen sie einen Schulungsbedarf zur Identifizierung von Eltern mit psychischen Erkrankungen. Sie wünschen sich einen sicheren Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen. Dabei wünschen sie sich auch Techniken zur Förderung der Krankheits- und Behandlungseinsicht von Kindern, Jugendlichen und Eltern. Sie benennen einen Bedarf an systemischen und kunsttherapeutischen Qualifikationen. Sie möchten dabei unterstützt werden, schwer zugängliche Zielgruppen zu erreichen. Des Weiteren wünschen sie sich, mit der erhöhten Mediennutzung der Kinder umgehen zu können.

„In Bezug auf Kinder und Jugendliche hätte ich sehr stark auch Medienkonsum, Umgang mit Medien als Thema gesagt. Also weil das merke ich deutlich, das hat ja nicht nur negative Anteile, das hat ja auch viele positive Anteile, was man mit Medien alles so anstellen kann und also dass die einen an vielen Stellen ja auch weiterbringen und auch so mit dazu gehören heute, aber dass es eben auch grenzwertig in Suchtverhalten, in falschen Umgang mit Medien umschlagen kann.“

Schließlich sollte das Schulungskonzept ebenfalls Kenntnisse über die ressourcenbedingten und strukturellen Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit vermitteln.

Ambulante Hilfen zur Erziehung

Auch diese Fachkräfte geben einen Schulungsbedarf zur psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen an.

„Das finde ich auch sinnvoll, dass man das so flächendeckend immer wieder so als Grundlagenschulung anbieten würde für alle Mitarbeitenden. So eine Fortbildung zu den verschiedenen Formen von psychischen Störungen.“

Des Weiteren wünschen sich die Mitarbeiter:innen, zu einer Erkennung psychisch kranker Eltern befähigt zu werden. Ebenso verweisen sie auf einen Fortbildungsbedarf zum Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen (beispielsweise insbesondere bei Verschlossenheit der Klient:innen) sowie zur Handlungssicherheit in unerwarteten Krisensituationen. Zusätzlich erachten sie das Erlernen neuer Stabilisierungstechniken als sinnvoll. Schließlich wünschen sie sich Kenntnisse über die strukturellen Chancen und Grenzen, die die psychosoziale Versorgung im Rahmen der Jugendhilfe umfasst.

Bezirkssozialdienst, Jugendhilfe im Strafverfahren und Eingliederungshilfen § 35a SGB VIII

Diese Fachkräftegruppe wünscht sich ebenfalls eine Vertiefung der Kenntnisse zur psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Auch sie möchten dazu befähigt werden, Eltern mit psychischen Erkrankungen identifizieren zu können. Weitere von ihnen genannte Schulungsbedarfe umfassen den Umgang mit Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen und Interventionen bei akuten Krisen. Außerdem möchten sie dazu befähigt werden, eine Krankheits- und Behandlungseinsicht bei den Jugendlichen und Eltern herzustellen. Sie nennen einen Schulungsbedarf zum Umgang mit der erhöhten Mediennutzung und der frühen Auseinandersetzung mit pornografischen Inhalten.

„Was im Moment schwierig ist und was mir auch zunehmend Sorge bereitet ist, dass immer mehr Jugendliche, 12, 13, 14, damit auffallen, dass sie pornografische Inhalte per WhatsApp, per Computer versenden und das sind dann teilweise sogar Dateien mit kinderpornografischen Inhalten und das finde ich ein sehr, sehr, sehr brisantes Thema, auf das auf jeden Fall schnell auch reagiert werden muss und auch an der Stelle fehlt da/ja, fehlen da auch Fortbildungsangebote und bzw. ich glaube, da fehlt ganz einfach auch die Antwort.“

Sie möchten zu einem sicheren Umgang mit Transgeschlechtlichkeit und zu einer altersgerechten Angebotserstellung befähigt werden.

„Wir sind da in dem Thema eigentlich total alleine gelassen. (…) würde ich mir sehr wünschen, dass das eine differenzierte Fortbildung wäre, die eben nicht nur Transgender, yes, und alles soll bitte quer sein und alles super, sondern dass das wirklich eine differenzierte Betrachtungsweise ist, damit man auch die Zwischentöne in der Lage ist, vielleicht mal anzunehmen oder sich damit zu beschäftigen.“

Außerdem möchten sie (tiefergehende) Kenntnisse über eine nachhaltige Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes erlangen.

Die Ergebnisse der Fokusgruppen sind in Tab. 2 (s. Supplement) noch einmal stichwortartig zusammengefasst.

Diskussion

Ziel der Studie war es herauszuarbeiten, welchen Schulungsbedarf pädagogisches Fachpersonal zur psychischen Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat.

In der Zusammenschau der Ergebnisse zeigt sich Folgendes: Die befragten Fachkräfte aus den unterschiedlichen Bereichen nennen mehrheitlich ähnliche Aspekte. Alle sieben Gruppen kommunizieren einen Bedarf an Fachwissen zur psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, um etwaige psychische Erkrankungen von altersgerechten Verhaltensweisen und Entwicklungsaufgaben zu unterscheiden. Zweitens geben alle 7 Gruppen an, dass ein Schulungskonzept den handlungssicheren Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und Traumata umfassen sollte. Fünf der 7 Gruppen meinen, dass das Schulungskonzept dazu befähigen sollte, Hinweise auf eine psychische Erkrankung der Eltern wahrzunehmen. Außerdem sprechen 5 Fachkräftegruppen einen Schulungsbedarf zu Medienkompetenz und Mediennutzung an. Vier Gruppen wünschen sich bessere Kenntnisse zu lokalen Angeboten oder zur psychosozialen Versorgungsstruktur der Jugendhilfe. Immer wieder werden auch methodische Kompetenzen im Umgang mit Krisensituationen (akute Krisenintervention, Deeskalation, Stabilisierung von Klienten) als auch allgemeine Methoden zur Gesprächstechniken genannt.

Darüber hinaus sind gruppenspezifische Besonderheiten festzustellen: Die Gruppe der Mitarbeiter: innen aus Häusern für Kinder, Jugendliche und Familien benennt das Thema Sexualität und Sexualaufklärung; die Gruppe Bezirkssozialdienst, Jugendhilfe im Strafverfahren und Eingliederungshilfen § 35a SGB VIII benennt die Themen früher Konsum von pornographischen Inhalten bei Kindern und Jugendlichen, Umgang mit Transgeschlechtlichkeit, Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes und altersgerechte Angebotserstellung.

Im verbleibenden Teil der Arbeit werden vier Themen aus den genannten herausgegriffen, die häufig genannt wurden oder eine besondere Relevanz haben.

Psychische Entwicklung und Gesundheit

Hier ist zunächst der von allen geäußerte Wunsch nach Fortbildung zur psychischen Entwicklung und Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu nennen. Dieses Ergebnis ist kontraintuitiv, denn das Thema psychische Gesundheit findet sich bereits im Lehrplan von Erzieher:innen, Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen. Gemäß dem länderübergreifenden Rahmenlehrplan der Kultusministerkonferenz sollen Erzieher:innen Grundlagen des menschlichen Erlebens und Verhaltens sowie Entwicklungsbesonderheiten bei Kindern und Jugendlichen (z. B. geistige Beeinträchtigung) erlernen [21]. Zudem sollen sie Kinder und Jugendliche präventiv unterstützen, belastende Situation zu bewältigen (Resilienzförderung). Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen sollen Wissen über psychosoziale Probleme im Zusammenhang mit menschlicher Interaktion (Kooperation, Kommunikation) und Gesellschaft erwerben und Methoden zur psychosozialen Arbeit mit den Klienten und ihrer Umwelt kennen [9].

Gleichwohl muss der Wunsch nach Fortbildung zur psychischen Gesundheit registriert werden. Der Befund spiegelt eine große Unsicherheit bzgl. der Einordnung von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Eltern und dem Umgang damit. Zu beachten ist allerdings: Studien zeigen, dass die chronische Erfahrung der Unkontrollierbarkeit von Arbeitsaufgaben, gepaart mit einem hohen Arbeitspensum, ein bedeutsamer Risikofaktor [37] für berufsbedingte psychische Erkrankungen ist. Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass die beschriebenen Unsicherheiten sich auch auf das psychische Wohlbefinden und die Arbeitszufriedenheit der Betroffenen auswirken. Und tatsächlich zeigen Daten von Erwerbstätigenbefragungen, dass Erzieher:innen häufiger unter psychischer Erschöpfung (z. B. Schlafstörungen, Mattigkeit, Nervosität) und emotionaler Erschöpfung (z. B. Gefühl von Sinnlosigkeit oder mangelnder Anerkennung) leiden als Angehörige anderer Berufsgruppen [29]. Einen krankheitsbedingten Ausfall von Pädagog:innen kann sich die Gesellschaft angesichts des Fachkräftemangels in der Kinder- und Jugendhilfe allerdings nicht leisten. Bundesweit wird geschätzt, dass ca. 100.000 Fachkräfte in Kitas und Grundschulen fehlen [4], die fehlenden Fachkräfte für weitere pädagogische Bereiche kommen noch hinzu. Personelle Engpässe resultieren nicht nur in einer größeren Belastung der im Dienst verbleibenden Fachkräfte, sondern bergen auch die Gefahr einer Deprofessionalisierung durch die Unterminierung fachlicher Standards [14, 31]. Somit kommt der Aus‑, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften der Jugendhilfe bzgl. der psychischen Gesundheit ihrer Klient:innen auch im Hinblick auf ihre eigene Profession eine große Bedeutung zu.

Kinder psychisch kranker Eltern

Insgesamt zeigt sich auch eine Verunsicherung vieler Befragter bei der Identifizierung und im Umgang mit psychischen Störungen im Familiensystem. In Deutschland leben ca. 25 % der Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil zusammen [6]. Aufgrund der genetischen Vorbelastung und/oder Umweltfaktoren zeigen diese Kinder ein erhöhtes Risiko für psychischen Stress und psychische Störungen [30]. Wesseldijk et al. [38] zeigten anhand niederländischer Daten, dass ca. 36 % der Mütter und 33 % der Väter von psychisch kranken Kindern ebenfalls unter einer psychischen Störung litten. Effektive Unterstützungsprogramme für Familien mit psychisch erkranktem Elternteil (z. B. CHIMPS) sind vorhanden, jedoch nicht übergreifend in Deutschland implementiert [10, 22]. Es wird empfohlen, dass u. a. Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendpsychiater:innen und -psychotherapeut:innen die einzelnen Familienmitglieder mit potenzieller psychischer Störung zur Diagnostik und zur Teilnahme an solchen Programmen motivieren [27]. Ein niederschwelligerer Zugang zum Hilfesystem unter Reduktion von Stigmatisierungseffekten kann z. B. über Schulen erreicht werden [7]. Ähnlich können Sozialpädagog:innen und/oder Sozialarbeiter:innen (z. B. aus Kindergärten) tätig werden, mit dem allgemeinen Ziel der Beziehungsaufnahme und umfassenden Beratung unter anderen zum psychischen Stress im Rahmen der Elternschaft. Die Beratung kann allgemeine Interventionen enthalten wie emotionaler Support, Stressmanagementtechniken, Achtsamkeitstraining etc. Diese Elemente müssen nicht unbedingt durch Psychotherapeut:innen durchgeführt werden [8]. Sollten sich im Rahmen dieses Prozesses Hinweise auf eine psychische Belastung oder Störung eines Elternteils ergeben, kann eine kooperative Vor-Ort-Unterstützung durch Psychiater:innen/Psychotherapeut:innen eine Diagnosestellung ermöglichen und die Überleitung der Eltern in das Hilfesystem erleichtern. Des Weiteren können Psychoedukation und Entstigmatisierung Entlastung bringen. Dieses Angebot und eine Überleitung in das psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfesystem sollten nur auf expliziten Wunsch des Elternteils erfolgen, da der primäre Versorgungsauftrag der Einrichtung an die Kinder gerichtet ist. Zudem besteht die Notwendigkeit einer Schulung der Sozialpädagog:innen in Bezug auf motivierende Gesprächsführung und das Wissen über Eintrittsbarrieren in das Hilfesystem [25], um den Transferprozess erfolgreich abschließen zu können.

Mediennutzung

Seit 2016 wird konstatiert, dass Missbrauchstendenzen im Umgang mit digitalen Medien unter Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen sind und Kinder, Jugendliche und Familien in der Entwicklung der Medienkompetenz unterstützt werden müssen [2]. Es ist evident, dass die Digitalisierung in den letzten Jahren rasant fortgeschritten ist. Im Jahr 2020 besaß in Deutschland die Hälfte der 6‑ bis 13-Jährigen ein eigenes Smartphone. Darüber hinaus nutzen Kinder Medien der Eltern und haben dadurch einen weiteren Zugang zum Internet. In 2020 berichteten ca. ein Drittel der 6‑ bis 7‑Jährigen und 97 % der 12- bis 13-Jährigen, zumindest selten „zu surfen“. Damit haben Kinder grundsätzlich auch Zugang zu problematischen Inhalten wie gewalthaltigen Darstellungen, sexualisierten Inhalten und unangenehmen Bekanntschaften. Gleichzeitig werden die technischen Möglichkeiten zur altersgerechten Einschränkung der Medienzeit von Eltern kaum genutzt [12]. Es zeigt sich darüber hinaus, dass ca. die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen im Internet mit Hassbotschaften, Extremismus, Verschwörungstheorien und Beleidigungen konfrontiert werden [11]. Angesichts der Informationen, mit denen Jugendliche im Netz konfrontiert werden, kommt der Medienkompetenz eine große Bedeutung zu. Diese findet sich zwar in den aktuellen sozialpädagogischen Lehrplänen (z. B. [3]), die häufige Thematisierung in den Fokusgruppen lässt jedoch darauf schließen, dass hier noch Verbesserungspotenzial besteht.

Sexualität, pornographische Inhalte, Transgeschlechtlichkeit

Die Fachkräfte erleben eine Verfrühung der Sexualität und den vergleichsweise frühen Kontakt zu und Konsum von Pornografie, z. B. über das Internet, als Novum. Die Studienlage dazu ist gemischt: Bei den 14- bis 16-Jährigen ist der Anteil derer, die bereits heterosexuellen Geschlechtsverkehr hatten, im Zeitverlauf konstant geblieben oder gesunken, bei den 17-Jährigen jedoch gestiegen [35]. Der Anstieg des Konsums pornografischer Inhalte wird bundesweit nicht bestätigt: So zeigen die Vergleichswerte aus 2009 und 2016, dass jeweils > 50 % der 13-Jährigen und > 70 % der 15-Jährigen bereits mindestens einmal pornografische Inhalte rezipiert hat [33]. Es ist jedoch zu vermuten, dass insbesondere durch das Internet und die Allgegenwärtigkeit von Informationen eine altersgerechte Sexualaufklärung durch Fachkräfte erschwert wird. Bei der Sexualaufklärung zeichnen sich Schwerpunkte ab: Ein Drittel der Jugendlichen hat Aufklärungsbedarf bzgl. sexueller Praktiken, Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten [36]. Umso wichtiger ist es für pädagogische Fachkräfte, dass sie über altersentsprechende sexualpädagogische Kenntnisse verfügen oder diesbezüglich geschult werden.

Im Zusammenhang mit der Sexualität wurde von den Fachkräften auch die Transgeschlechtlichkeit angesprochen: Ältere Studien schätzten, dass 4 % der Heranwachsenden ein abweichendes Geschlechtserleben haben [1], neuere Studien kommen auf 10 % [17]. Diese Gruppe hat besondere Bedürfnisse bzgl. der psychischen Gesundheit und entsprechender Behandlungen. Für die sozialpädagogischen Fachkräfte ergibt sich damit ein neues Thema. Bislang wird Transgeschlechtlichkeit in medizinisch-therapeutischen, gesundheitsbezogenen und pädagogischen Studiengängen und Berufsausbildungen jedoch nur selten dargestellt. Falls Transgeschlechtlichkeit dennoch abgebildet wird, erfolgt dies oftmals fachlich unkorrekt oder pathologisierend [5]. Sowohl auf Bundes- und Landesebene werden im Rahmen von Aktionsplänen für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt daher verschiedene Anstrengungen unternommen, die Curricula von Studiengängen und Berufsausbildungen dahingehend anzupassen [28].

Transparenz der lokalen Versorgungsstrukturen

Die Befragten wünschen sich eine kontinuierliche Kommunikation der lokalen Hilfeangebotslandschaft durch die Umsetzung eines entsprechenden Schulungsmoduls und die fortwährende Aktualisierung der Angebotslandschaft innerhalb einer für Fachkräfte zugänglichen Datenbank. Die niedrigschwellige Darstellung aktueller lokaler Hilfsangebote unterstützt die Fachkräfte in ihrer täglichen Arbeit und erhöht die Chance, Angebote im Sinne und zum Wohle der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen abzurufen. Weiterhin dienen Gremien im Kontext der psychischen Gesundheit (z. B. psychosoziale Arbeitsgemeinschaft, PSAG) einer stadtweiten Vernetzung und der Identifizierung von Lücken.

Limitationen

Mit dem qualitativen Studiendesign wurde den Besonderheiten in verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe und der ökologischen Validität der Ergebnisse Rechnung getragen. Eine ressourcenbedingte Limitation stellt die Tatsache dar, dass pro definierter Gruppe nur ein Fokusgruppeninterview durchgeführt werden konnte. Eine weitere Limitation ist die trotz mehrmaliger Rekrutierungsversuche am unteren Rand der Empfehlungen (z. B. 4–8 nach [16]) liegende Teilnehmerzahl in den Fokusgruppen. Diese ist möglicherweise durch die pandemiebedingte Arbeitslast der Teilnehmer:innen begründet oder auch durch Auflagen und Ängste, sich in Präsenz auszutauschen. Andererseits zeigt sich in den Gruppendiskussionen eine Sättigung der oben genannten Themen, die außerdem weitgehend im Konsens der Teilnehmenden besprochen wurden. Wir gehen davon aus, dass die wichtigsten Themen verbalisiert wurden. Somit konnte valide herausgearbeitet werden, welche Herausforderungen und Bedarfe jeweils vorherrschen und Zielthemen für spezifische Schulungskonzepte in der Kommune darstellen.

Fazit für die Praxis

  • Das Thema der psychischen Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist relevant wie nie zuvor. Im Zuge der COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie hat sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten schätzungsweise verdoppelt [34]. Ein frühzeitiger und sicherer Umgang der sozialpädagogischen Fachkräfte mit dem Thema ist daher essentiell.

  • Fachkräfte benötigen grundsätzlich (Nach)schulung im Bereich etablierter Themen wie psychische Entwicklung und psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Dazu kommen neue gesellschaftsrelevante Themen wie psychisch kranke Eltern, Medien, Sexualität. In den verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe sollte ein entsprechender Themenmix Gegenstand eines Schulungskonzepts zur Prävention psychischer Störungen sein.