Am Robert Koch-Institut (RKI) wird seit 2015 eine Diabetes-Surveillance für Deutschland aufgebaut. Es wurde ein mit Expertengremien konsentiertes Rahmenkonzept mit 4 Handlungsfeldern und gesundheitspolitisch relevanten Indikatoren entwickelt. Zur Abbildung der Indikatoren in der Bevölkerung wurden verschiedene Datenquellen herangezogen. Aktuell liegt der Fokus u. a. auf der Fortsetzung bestehender Zeitreihen, dem Einbezug der Lebensphase Kindheit und Jugend sowie der Integration von Informationen differenziert nach Typ-1- und Typ-2-Diabetes und regionaler sozioökonomischer Lage.

Hintergrund

Ziel der Diabetes-Surveillance

Vor dem Hintergrund einer in Deutschland bislang fragmentierten Bereitstellung von Informationen zum Diabetesgeschehen wird das Projekt Nationale Diabetes-Surveillance am Robert Koch-Institut seit 2015 bisher in 3 Phasen vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Ziel des Projekts sind der Aufbau und die Weiterentwicklung einer indikatorenbasierten, regelmäßigen und nutzerorientierten Berichterstattung zu Risikofaktoren, Krankheitshäufigkeit und -folgen sowie der Versorgungssituation des Diabetes für die Gesundheitspolitik, die Forschung und das Gesundheitswesen („public health“). Es erfolgt eine kontinuierliche Einbeziehung externer Expertise, u. a. im Rahmen eines wissenschaftlichen Beirats, nationaler und internationaler Workshops und methodischer Kooperationsprojekte [10].

Rahmenkonzept und Indikatoren

Für den Aufbau einer Diabetes-Surveillance wurde ein Rahmenkonzept mit den in Abb. 1 dargestellten 4 Handlungsfeldern und 40 gesundheitspolitisch relevanten Indikatoren bzw. Indikatorengruppen ausgearbeitet. Die Handlungsfelder orientieren sich an dem 2003 verabschiedeten nationalen Gesundheitsziel zum Diabetes mellitus Typ 2 [3]. Die Auswahl der Indikatoren erfolgte auf Grundlage von Literaturrecherchen und eines strukturierten Konsensprozesses unter Beteiligung interdisziplinärer Gremien. Alter, Geschlecht, individueller Bildungsstatus bzw. regionale sozioökonomische Deprivation und Region wurden als Stratifizierungsmerkmale festgelegt, die je nach Datenlage eine differenzierte Betrachtung der Indikatoren im Zeitverlauf ermöglichen.

Abb. 1
figure 1

Datenquellen, Handlungsfelder mit Indikatoren und Ergebnisdissemination der Nationalen Diabetes-Surveillance, DALY „disability-adjusted life years“, DMP Disease-Management-Programm, HLY „healthy life years“, YLD „years lived with disability“, YLL „years of life lost“. (Mit freundl. Genehmigung © Robert Koch-Institut, alle Rechte vorbehalten)

Datengrundlage

Wichtige Datenquellen zur Abbildung der Indikatoren sind die bundesweiten RKI-Befragungssurveys mit Daten zu verhaltensbedingten Risikofaktoren, psychischen und subjektiven Aspekten der Gesundheit sowie die in größerem Abstand durchgeführten RKI-Untersuchungssurveys mit Mess- und Labordaten. Weitere wichtige Datenquellen sind routinemäßig dokumentierte Abrechnungs- und Versorgungsdaten und amtliche Statistiken, darunter Daten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gemäß Datentransparenzverordnung (DaTraV), Daten der Deutschen Rentenversicherung, Dokumentationsdaten der Disease-Management-Programme (DMP), die fallpauschalenbezogene Krankenhausstatistik (DRG-Statistik [DRG: „diagnosis related groups“]), die Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts und Daten der stationären Qualitätssicherung zur Geburtshilfe. Zudem werden im Rahmen von methodischen Kooperationsprojekten bundesweite Daten der Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV) und regionaler Diabetesregister herangezogen (Abb. 1). Die Datengrundlagen werden kontinuierlich ausgebaut, und bereits erschlossene Datenquellen werden fortlaufend genutzt, um aktuelle Informationen bereitzustellen.

Dissemination

Die indikatorenbasierten Ergebnisse werden in verschiedenen Formaten aufbereitet und zur Verfügung gestellt (Abb. 1). Die interaktive Ergebnisvisualisierung mit einer einordnenden Beschreibung der Indikatoren und die Möglichkeit des Downloads der Daten auf der Webseite der Nationalen Diabetes-Surveillance sind zentrale Elemente [16]. Über die Webseite werden weiterhin Infografiken, Berichte, wissenschaftliche Publikationen sowie eine Rubrik Diabetes & COVID-19 („coronavirus disease 2019“) bereitgestellt. Zur Weiterentwicklung der Berichterstattung werden derzeit bestehende Formate evaluiert und weitere Informationsbedarfe von Nutzenden erhoben.

Ergebnisse

Seit der Übersicht zur Nationalen Diabetes-Surveillance aus dem Jahr 2019 [28] konnten neue Datengrundlagen erschlossen und bereits bestehende Daten zu den meisten Indikatoren aktualisiert werden. Die Darstellung der Indikatoren wurde je nach Relevanz und Datenverfügbarkeit um den Altersbereich der Kindheit und Jugend erweitert. Zudem konnten einige Indikatoren differenziert nach Diabetestyp sowie durch Verknüpfung mit Informationen zum „German index of socioeconomic deprivation“ (GISD, [14]) stratifiziert nach regionaler sozioökonomischer Deprivation dargestellt werden. Der aktuelle Stand der Ergebnisse zu den Indikatoren der Handlungsfelder 2–4 wird im Folgenden überblicksartig beschrieben.

Handlungsfeld 2: Diabetesfrüherkennung und -behandlung verbessern

Prävalenz des Diabetes und Alter bei Diagnosestellung

Die Prävalenzen des bekannten und unerkannten Diabetes wurden zeitgleich zuletzt mit Daten des RKI-Untersuchungssurveys Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1, 2008–2011 [27]) für die 18- bis 79-jährige Bevölkerung abgebildet. Im Zeitvergleich mit Daten des Bundesgesundheitssurveys 1998 (BGS98 [31]) war eine nahezu gleichgebliebene Gesamtprävalenz von 9,2 % zu beobachten, wobei die Prävalenz von bekanntem Diabetes auf 7,2 % anstieg und von unerkanntem Diabetes auf 2,0 % sank [9]. Dies entspricht etwa 7 Mio. Personen mit einem bekannten oder unerkannten Diabetes in Deutschland im Jahr 2010.

Auf DaTraV-Datenbasis wurde für das Jahr 2013 für 11,9 % der Versicherten ab 18 Jahren ein dokumentierter Diabetes ermittelt (Frauen: 11,2 %; Männer: 12,6 %). In einem Kooperationsprojekt der Nationalen Diabetes-Surveillance mit der PMV forschungsgruppe wurden unter allen dokumentierten Diabetesfällen einer Zufallsstichprobe von bei der BARMER Versicherten im Jahr 2018 über 90 % dem Typ-2-Diabetes und 5,5 % dem Typ-1-Diabetes entsprechend eines entwickelten Algorithmus zur Typenunterscheidung zugeordnet [22].

Bei Erwachsenen ab 18 Jahren liegt das Durchschnittsalter bei Diabetesdiagnose bei 52,9 Jahren

Das durchschnittliche Alter bei einer Diabetesdiagnose lag auf Basis des aktuellen RKI-Befragungssurveys Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA) 2021/2022-Diabetes [7] bei Erwachsenen ab 18 Jahren bei 52,9 Jahren (Frauen: 55,1 Jahre; Männer: 51,0 Jahre).

Für Kinder und Jugendliche (0–17 Jahre) wurde auf Grundlage bundesweiter DPV-Daten und regionaler Diabetesregister [25, 32] für Typ-1-Diabetes von 2014–2020 ein Rückgang auf 229 prävalente Fälle (Mädchen: 222; Jungen: 235) pro 100.000 Personen beobachtet, was etwa 31.500 Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes entspricht. Für Typ-2-Diabetes blieb die Prävalenz von 2014–2019 bei 11- bis 17-Jährigen nahezu unverändert und lag 2019 bei 13,5 prävalenten Fällen (Mädchen: 16,9; Jungen: 10,8) pro 100.000 Personen, was etwa 840 11- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes entspricht.

Versorgungsqualität des Typ-2-Diabetes

Diese Indikatorengruppe besteht aus 10 Indikatoren zu Versorgungsprozessen, Selbstmanagement und Therapiezielen. Auf Datengrundlage von GEDA 2021/2022-Diabetes wurden zuletzt 5 Indikatoren aktualisiert. Bezogen auf die zurückliegenden 12 Monate wurde bei 95,7 % der Personen mit Typ-2-Diabetes ab 45 Jahren der HbA1c-Wert (HbA1c: glykiertes Hämoglobin) bestimmt, bei 68,9 % wurde eine ärztliche Fußuntersuchung und bei 64,8 % eine ärztliche Augenuntersuchung durchgeführt. Eine jemalige Diabetesschulung berichteten 64,3 %, und Blutzuckerselbstkontrollen gaben 62,4 % der Personen an. Auf Basis von Daten des zuletzt durchgeführten RKI-Untersuchungssurveys DEGS1 ließ sich bereits erkennen, dass die meisten Empfehlungen zur Versorgungsqualität von der Mehrheit erreicht werden [28]. Dies ist teilweise auf Verbesserungen im zeitlichen Verlauf zurückzuführen und steht möglicherweise mit der Einführung des DMP für Typ-2-Diabetes im Jahr 2003 zusammen [5]. Dennoch verbleibt ein erhebliches Verbesserungspotenzial.

Qualitätszielerreichung in den Disease-Management-Programmen für Typ-1- und Typ-2-Diabetes

Der DMP-Atlas Nordrhein-Westfalen (NRW) liefert aufbereitete Darstellungen für die Quoten der Zielerreichung der DMP-Indikatoren zur Versorgungsqualität bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes bezogen auf DMP-Teilnehmende in NRW [33]. Für Typ-2-Diabetes wurden im Jahr 2021 von den 14 Qualitätsindikatoren mit vorgegebener Zielerreichungsquote 10 Quoten erreicht, 1 Quote leicht (Überprüfen der Nierenfunktion) und 3 Quoten deutlich (Untersuchung der Netzhaut, Verordnung von Thrombozytenaggregationshemmern [TAH], adäquate Versorgung eines Ulkus) unterschritten. Bezogen auf Typ-1-Diabetes wurden hingegen von den 10 Qualitätsindikatoren mit Zielerreichungsquote 7 Quoten nicht erreicht (HbA1c-Ziel jeweils bei Personen unter bzw. ab 30 Jahren, Blutdruckziel, TAH-Verordnung sowie Überprüfen von Nierenfunktion, Albumin im Urin und Injektionsstellen).

Behandlungsprofile und Medikation

Für Typ-2-Diabetes zeigten GEDA 2021/2022-Diabetes-Daten, dass 9,7 % der Personen ab 45 Jahren ausschließlich durch eine Lebensstilintervention und 87,5 % medikamentös behandelt wurden. Bezüglich der medikamentösen Behandlung lässt sich anhand der automatisierten Medikamentenerfassung im Untersuchungssurvey DEGS1 für 2010 beobachten, dass unter 45- bis 79-Jährigen mit einem Typ-2-Diabetes etwa 1/3 mit einer Metforminmonotherapie und etwa 1/4 mit einer Insulintherapie behandelt wurden, wobei die Metforminmonotherapie und die Kombinationstherapie von Insulin und oralen Antidiabetika seit 1998 zunahmen.

Für Typ-1-Diabetes ist auf DPV-Datenbasis bei Kindern und Jugendlichen eine deutliche Zunahme des Einsatzes der Insulinpumpentherapie und der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) bei beiden Geschlechtern zu beobachten (Abb. 2). Während der Anstieg bei der Insulinpumpentherapie von insgesamt 25,1 % im Jahr 2007 auf 57,4 % im Jahr 2019 sukzessive erfolgte, schwankte die CGM-Anwendung von 2007–2015 zwischen 3,2 % und 6,4 % und stieg ab 2016, d. h. seit der Aufnahme von CGM-Geräten in den GKV-Leistungskatalog, auf insgesamt 69,3 % im Jahr 2019 an.

Abb. 2
figure 2

Einsatz von Insulinpumpentherapie (a) und kontinuierlichem Glukosemonitoring (b) bei Kindern und Jugendlichen (0–17 Jahre) mit einem Typ-1-Diabetes im Zeitverlauf (Datenbasis: DPV-Datenbank [32]), DPV Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation

Screening auf Gestationsdiabetes

Die externe stationäre Qualitätssicherung zur Geburtshilfe am Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen ermöglicht die Ermittlung des Anteils der Frauen mit Klinikgeburt ohne vorbestehenden Diabetes in einem gegebenen Jahr, bei denen die Durchführung des Vortests bzw. des diagnostischen Tests zum Gestationsdiabetes im Mutterpass dokumentiert ist [20]. Auf dieser Datengrundlage stieg die Screeningquote von 83,4 % im Jahr 2016 auf 93,3 % im Jahr 2020 an.

Gesundheits-Check-up

Er besteht aus einer Reihe medizinischer Untersuchungen, um mögliche Erkrankungen und deren Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen. Seit April 2019 wird ein Gesundheits-Check-up für Personen ab 35 Jahren alle 3 Jahre sowie für 18- bis 34-Jährige einmalig angeboten. Im Jahr 2019 nahmen gemäß Dokumentationsdaten des Zentralinstituts der Kassenärztlichen Versorgung (Zi) 18,6 % der versicherten Frauen und 16,0 % der versicherten Männer ab 18 Jahren an einem Check-up teil [11].

Gesundheitsbezogene Lebensqualität

Zur subjektiven Einschätzung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurden anhand von 36 Fragen zum Gesundheitszustand („short form-36“ [6]) Summenskalen (Werte 0–100) für die körperliche und psychische Dimension auf Datenbasis des DEGS1-Untersuchungssurveys berechnet. Für 18- bis 79-jährige Personen mit Diabetes ist für das Jahr 2010 ein niedrigerer Wert für die körperliche Dimension als für Personen ohne Diabetes (44,8 vs. 51,9) zu verzeichnen; in Bezug auf die psychische Dimension fand sich kein signifikanter Unterschied (48,6 vs. 49,3).

Selbsteingeschätzte Versorgungsqualität

Die subjektiv wahrgenommene Versorgungsqualität in Bezug auf die Diabeteserkrankung wurde auf Basis von GEDA 2021/2022-Diabetes anhand des Instruments „Patient Assessment of Chronic Illness Care – DAWN short form“ (PACIC-DSF, Skala 1–5 [17]) erfasst. Personen ab 45 Jahren mit bekanntem Diabetes gaben, bezogen auf die letzten 12 Monate, eine mittelmäßige Versorgungsqualität an (mittlerer Summenscore: 2,4), wobei Männer ihre Versorgungsqualität tendenziell besser einschätzten als Frauen (Abb. 3a). Der mittlere Summenscore war im Vergleich zum Jahr 2017 [2] nahezu gleich.

Abb. 3
figure 3

Selbsteingeschätzte Versorgungsqualität bei Personen mit Diabetes (≥ 45 Jahre; Datenbasis: RKI-Studie Krankheitswissen und Informationsbedarfe – Diabetes mellitus 2017 [19] und GEDA 2021/2022-Diabetes [7]; a) und selbstberichtete depressive Symptomatik bei Personen mit vs. ohne Diabetes (≥ 18 Jahre; Datenbasis: GEDA 2014/2015-EHIS [26] und GEDA 2019/2020-EHIS [1], b), GEDA Gesundheit in Deutschland aktuell, RKI Robert Koch-Institut

Handlungsfeld 3: Diabeteskomplikationen reduzieren

Depressive Symptomatik

Die depressive Symptomatik wurde anhand des Depressionsmoduls des „Patient Health Questionnaire“ (deutschsprachige PHQ‑8-Version [13]) in GEDA 2014/2015-EHIS und GEDA 2019/2020-EHIS erfasst. Demnach sind Personen ab 18 Jahren mit Diabetes nach wie vor häufiger von einer depressiven Symptomatik betroffen als solche ohne Diabetes (12,9 % vs. 7,9 % in 2019, Abb. 3b). Im Vergleich zum Jahr 2014 sind im Jahr 2019 bei Frauen sowohl mit als auch ohne Diabetes eine signifikante Abnahme im Anteil der depressiven Symptomatik zu beobachten, während sich bei Männern mit und ohne Diabetes nahezu keine Veränderung zeigte.

Kardiovaskuläre Erkrankungen und Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis

Die Prävalenzen von ausgewählten kardiovaskulären Erkrankungen und von Bluthochdruck waren auf Datenbasis des Untersuchungssurveys DEGS1 im Jahr 2010 bei 45- bis 79-jährigen Personen mit Typ-2-Diabetes deutlich höher (37,1 % bzw. 76,4 %) als bei denjenigen ohne Diabetes (13,5 % bzw. 46,5 %). Es liegen Geschlechtsunterschiede in den Prävalenzen und ihrer zeitlichen Entwicklung vor, zu deren Interpretation wiederkehrende Analysen auf größerer Fallzahlbasis (z. B. DaTraV-Daten) geplant sind.

Das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses bei 45- bis 79-jährigen Personen mit Typ-2-Diabetes ohne kardiovaskuläre Komorbidität (berechnet als absolutes 10-Jahres-Risiko einer koronaren Herzkrankheit auf Basis des „United Kingdom prospective diabetes study [UKPDS] risk-engine-scores“ [30]) betrug im Jahr 2010 im Durchschnitt 21,1 %. Der beobachtete Rückgang des durchschnittlichen Risikos im Vergleich zum Jahr 1998 geht möglicherweise mit der Verbesserung der Versorgungsqualität von Typ-2-Diabetes einher.

Diabetesspezifische Komplikationen

Der Anteil von Personen mit Diabetes, bei denen eine diabetische Polyneuropathie dokumentiert ist, lag im Jahr 2013 auf DaTraV-Datenbasis bei Erwachsenen bei 13,5 % und bei Kindern und Jugendlichen bei 0,31 %. Ein diabetisches Fußsyndrom wurde bei 6,2 % der erwachsenen Personen mit einem Diabetes gemäß DaTraV-Daten dokumentiert. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts zur Weiterentwicklung der Falldefinitionen ausgewählter mikrovaskulärer Komplikationen auf Datenbasis der Krankenkasse BARMER mit der PMV forschungsgruppe wurde für das Jahr 2018 die Prävalenz der diabetischen Polyneuropathie auf 20,7 % (Typ-1-Diabetes: 25,0 %, Typ-2-Diabetes: 20,4 %), des diabetischen Fußsyndroms auf 13,5 % (Typ-1-Diabetes: 15,2 %, Typ-2-Diabetes: 13,3 %) und der diabetischen Retinopathie auf 9,6 % (Typ-1-Diabetes: 26,8 %, Typ-2-Diabetes: 8,5 %) geschätzt [23].

Der Anteil von Personen mit Diabetes, bei denen eine chronische Niereninsuffizienz dokumentiert ist, betrug im Jahr 2013 gemäß DaTraV-Daten bei Erwachsenen 15,1 % und bei Kindern und Jugendlichen 0,37 %. In einem weiteren Kooperationsprojekt mit der PMV forschungsgruppe werden derzeit die Falldefinition für die chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes weiterentwickelt und die Falldefinition für die Nierenersatztherapie bei Diabetes (Dialyse und Nierentransplantation) erarbeitet.

Diabetesbedingte Amputationen

Für die als Teil des 2‑jährlich veröffentlichten OECD-Berichts „Health at a glance“ [18] berichtete Rate von Majoramputationen bei Personen mit einem Diabetes ab 15 Jahren zeigt sich auf Basis von altersstandardisierten Daten der DRG-Statistik eine Abnahme von 2015–2020 mit anschließender Stagnation im Jahr 2021 mit 10,9 Amputationen pro 100.000 Einwohner. Mit zunehmender regionaler sozioökonomischer Deprivation ist eine ansteigende Rate zu beobachten, was mit der regionalen Verteilung der Diabetesprävalenz korrespondiert [8]. Einen genaueren Überblick zur Entwicklung der Häufigkeit diabetesbedingter Amputationen bietet [15].

Häufigkeit schwerer Hypoglykämien

Auf Datengrundlage von GEDA 2014/2015-EHIS waren, bezogen auf die zurückliegenden 12 Monate, insgesamt 2,5 % der Erwachsenen mit einem bekannten Diabetes von einer schweren Hypoglykämie, bei der ärztliche Hilfe erforderlich war, betroffen. In einem Kooperationsprojekt auf Basis von Registerdaten wurde ein Anteil schwerer Hypoglykämien, die Fremdhilfe erforderten, unter Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes im Jahr 2014 von 5,3 % ermittelt; dieser nahm bis auf 3,0 % im Jahr 2020 ab [4].

Schwangerschaftskomplikationen

Auf Basis der Daten der stationären Qualitätssicherung zur Geburtshilfe wurden die Anteile verschiedener Komplikationen für Einlingsgeburten in den Jahren 2013–2019 bei Schwangeren, differenziert nach Vorliegen eines Gestationsdiabetes bzw. eines vor der Schwangerschaft bekannten Diabetes, berechnet. Bei Schwangeren mit im Vergleich zu solchen ohne Gestationsdiabetes waren höhere Anteile bezüglich Frühgeburt, Kindern mit erhöhtem Geburtsgewicht (LGA: „large for gestational age“), Kaiserschnitt und Verlegung des Neugeborenen zu beobachten (Abb. 4). Bei Schwangeren mit vorbestehendem Diabetes waren die Anteile dieser Komplikationen nochmals höher, zudem war der Anteil an Totgeburten größer als bei Schwangeren ohne Diabetes [21].

Abb. 4
figure 4

Komplikationen bei stationären Geburten (ohne Mehrlingsgeburten) von Schwangeren ohne Diabetes, mit Gestations- bzw. mit präkonzeptionellem Diabetes der Jahre 2013–2019, LGA „large for gestational age“. (Datenbasis: Stationäre Qualitätssicherung zur Perinatalmedizin [21])

Handlungsfeld 4: Krankheitslast und Krankheitskosten senken

Direkte Krankheitskosten

Mit der Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamts können die Kosten, die auf ambulante und stationäre Behandlungen, Rehabilitationsprogramme und Medikation der Indikation Diabetes zurückgehen, ermittelt werden. Für das Jahr 2020 werden diese direkten Kosten von Diabetes auf 7,4 Mrd. € (Frauen: 3,4 Mrd. €; Männer: 4,0 Mrd. €) geschätzt; dies macht 1,7 % der direkten Kosten für alle Krankheiten im Jahr 2020 aus (Frauen: 1,4 %; Männer: 2,1 %). Berechnungen, in denen die Mehrkosten für Personen mit im Vergleich zu solchen ohne Diabetes durch Begleit- und Folgeerkrankungen berücksichtigt wurden, weisen nochmals deutlich höhere Schätzungen auf [12].

Erwerbsminderungsrente

Anhand der Daten der Deutschen Rentenversicherung kann ein rückläufiger Trend zu Bewilligungen von Erwerbsminderungsrenten (EM-Renten) mit Erst- oder Zweitdiagnose Diabetes von 2013–2021 (altersstandardisiert: von 15,1 auf 9,3) pro 100.000 Versicherten ermittelt werden. Eine Ausnahme ist das Pandemiejahr 2020, in dem die Rate zwischenzeitlich anstieg (10,6 EM-Renten mit Diabetesdiagnose pro 100.000 Versicherten).

Ambulant-sensitive Krankenhausfälle

Für den ebenfalls als Teil des OECD-Berichts „Health at a glance“ berichteten Indikator [18] zu den (bei optimaler ambulanter Versorgung potenziell vermeidbaren) stationären Behandlungsfällen bei Personen ab 15 Jahren mit der Hauptbehandlungsdiagnose Diabetes lässt sich für Deutschland auf Basis der DRG-Statistik eine stetige Abnahme der altersstandardisierten Raten von 2015–2021 (von 276 auf 203 Fälle je 100.000 Einwohner) beobachten (Abb. 5a), wobei der Rückgang im Pandemiejahr 2020 am stärksten ausgeprägt war. Ein Vergleich der Kreise mit unterschiedlich ausgeprägter sozioökonomischer Deprivation für das Jahr 2021 lässt erkennen, dass die Rate vom Quintil der Kreise mit der niedrigsten Deprivation bis zum Quintil der Kreise mit der höchsten Deprivation stetig ansteigt (Frauen: 130 auf 187 Fälle; Männer: 220 auf 314 Fälle pro 100.000 Einwohner; Abb. 5b). Bei der Einordnung der Raten ist wiederum zu beachten, dass die Unterschiede nach regionaler Deprivation mit der Diabetesprävalenz korrespondieren [8].

Abb. 5
figure 5

Altersstandardisierte Rate ambulant-sensitiver Krankenhausfälle mit der Hauptdiagnose Diabetes je 100.000 Einwohner (≥ 15 Jahre; Datenbasis: DRG-Statistik [29]) im Zeitverlauf (a) und nach regionaler sozioökonomischer Deprivation für das Jahr 2021 (b), DRG „diagnosis related groups“

Mortalität

Basierend auf DaTraV-Daten konnten die Sterberaten von GKV-Versicherten ab 30 Jahren mit und ohne dokumentieren Diabetes im Jahr 2014 einander gegenübergestellt werden. Im Vergleich zur Sterberate von Personen ohne Diabetes (12,4 Todesfälle pro 1000 Personen) liegt die von Menschen mit dieser Stoffwechselerkrankung (21,3) nach Altersstandardisierung um mehr als die Hälfte höher. Im höheren Lebensalter gleichen sich die Sterberaten der beiden Gruppen an. Trendbeobachtungen sind geplant.

Gesunde Lebensjahre

Die erwartete Anzahl verbleibender Lebensjahre ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen („healthy life years“ [HLY]) ist zusätzlich zur gesamten Lebenserwartung relevant. Durch Kombination von Angaben aus verschiedenen Datenquellen (RKI-Befragungssurveys GEDA 2009, 2010 und 2012, Todessursachenstatistik des Statistischen Bundesamts, DaTraV-Daten) wurde für das Jahr 2014 berechnet, dass bei 30- bis 39-jährigen Personen mit Diabetes die Anzahl der zu erwartenden gesunden Lebensjahre niedriger lag (34,1 Jahre) als bei Menschen ohne diese Stoffwechselerkrankung (46,4 Jahre). Die Anzahlen noch verbleibender gesunder Lebensjahre in beiden Gruppen nähern sich mit zunehmendem Alter an.

Verlorene und in Einschränkung verbrachte Lebensjahre

Zur Darstellung der Krankheitslast durch Diabetes werden Berechnungen der nationalen Krankheitslaststudie BURDEN 2020 [24] herangezogen, in die Informationen aus unterschiedlichen Datenquellen eingehen (Todessursachenstatistik/Sterbetafeln des Statistischen Bundesamts, Routinedaten des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen, Studie „global burden of disease“). Den Berechnungen zufolge gingen im Jahr 2017 bezogen auf 100.000 Personen in der Bevölkerung 324 Lebensjahre durch das Versterben an Diabetes („years of life lost“ [YLL]) und 637 Lebensjahre durch gesundheitliche Einschränkungen aufgrund Diabetes („years lived with disability“ [YLD]), d. h. in Summe 961 Lebensjahre durch Diabetes („disability-adjusted life years“ [DALY]) verloren. Der weitaus größte Teil der Krankheitslast geht bei beiden Geschlechtern auf Typ-2-Diabetes zurück (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Anzahl der verlorenen Lebensjahre („years of life lost“ [YLL]), Anzahl der durch gesundheitliche Einschränkungen verlorenen Lebensjahre („years lived with disability“ [YLD]) und Summe der durch Tod und gesundheitliche Einschränkungen verlorenen Lebensjahre („disability-adjusted life years“ [DALY]) durch Typ-1- bzw. Typ-2-Diabetes in der Bevölkerung Deutschlands für das Jahr 2017. (Datenbasis: Berechnungen der Krankheitslaststudie BURDEN 2020 [24])

Während bei Typ-2-Diabetes mehr Lebensjahre (67,4 %) durch gesundheitliche Einschränkungen verloren gehen, ist bei Typ-1-Diabetes etwas mehr als die Hälfte (54,3 %) der Krankheitslast auf das Versterben zurückzuführen.

Ausblick

Das erarbeitete Konzept, die erschlossenen Datengrundlagen und die pilotierten Disseminationsformate der Nationalen Diabetes-Surveillance werden fortlaufend weiterentwickelt. Die limitierte Verfügbarkeit aktueller Daten zum Aufbau engmaschiger Zeitreihen ist weiterhin eine große Herausforderung. Die Nationale Diabetes-Surveillance bildet als Modellprojekt die Basis für eine Erweiterung zu einer Surveillance weiterer nichtübertragbarer Krankheiten im Rahmen einer übergeordneten Public-Health-Surveillance.

Zur Weiterentwicklung der Nationalen Diabetes-Surveillance und zur Umsetzung konkreter Schritte hin zu einer Surveillance nichtübertragbarer Krankheiten wird eine nächste Projektphase (07/2023–12/2024) vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert.

Fazit für die Praxis

  • Im Handlungsfeld 2 gibt es bei einigen Versorgungsindikatoren positive Entwicklungen, dennoch verbleibt ein Verbesserungspotenzial.

  • Indikatoren des Handlungsfelds 3 zeigen das weiterhin häufigere Vorkommen von ausgewählten Komplikationen bei Schwangeren mit Gestations- oder vorbestehendem Diabetes sowie von kardiovaskulären Erkrankungen und depressiver Symptomatik bei Menschen mit vs. ohne Diabetes.

  • Laut Krankheitslastindikatoren im Handlungsfeld 4 gehen von den verlorenen Lebensjahren bei Typ-1-Diabetes mehr als die Hälfte auf das Versterben und bei Typ-2-Diabetes etwa 2/3 auf gesundheitliche Einschränkungen zurück.

  • Auf der Webseite der Nationalen Diabetes-Surveillance werden die Ergebnisse aller Indikatoren als interaktive Visualisierungen und Datendownload zur Verfügung gestellt.

  • Eine bessere Datenzugänglichkeit für zeitnahe Aktualisierungen der Indikatoren ist erforderlich.

  • Eine Weiterentwicklung zu einer umfassenden Surveillance nichtübertragbarer Krankheiten ist geplant.