Kann eine Behauptung, die das Resultat einer wissenschaftlichen Wahrheitssuche ist und sich allein auf Belege (evidence) stützt, überhaupt moralisch verwerflich sein? Und wenn ja, sollten wir von den Wissenschaften fordern, diesen moralischen Status ihrer Behauptungen mit zu berücksichtigen?

Dieser Beitrag versucht, widerstreitende Intuitionen zu versöhnen. Einerseits argumentiert er für eine starke liberale Auffassung der Wissenschaftsfreiheit. Ihr zufolge sind nicht nur äußerliche (und rechtswidrige) Eingriffe, sondern prima facie bereits moralische Kritik an wissenschaftlichen Positionen verfehlt. Wissenschaft sollte ausschließlich den Korrektheitsstandards unterliegen, die sich aus der Natur der Wissenschaft als einer systematischen, um epistemische Rechtfertigung bemühten Wahrheitssuche ergeben. Andererseits versucht dieser Beitrag zu zeigen, dass sogar im Rahmen dieser strengen Auffassung ein überraschend großer Spielraum für berechtigte moralische Kritik existiert. Es kann zulässig sein, Wissenschaftler:innen für ihre Behauptung bestimmter Thesen zu kritisieren – mehr noch, ihre Drittmittelanträge und Publikationen abzulehnen, sie nicht zu Veranstaltungen einzuladen, usw. (s.u.) – und zwar aus Gründen, die moralische Gründe sind.

Dieser Text untersucht zuerst (Sect. 13), warum moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen besonders problematisch ist. Ich formuliere und begründe die starke liberale Position, die für moralische Kritik an wissenschaftlichen Positionen zumindest prima facie wenig Raum zu lassen scheint. Ein zweiter Teil (Sect. 410) soll dann aber eine Erklärung dafür geben, warum eine Kritik mit moralischen Gründen auch im Rahmen der starken liberalen Position berechtigt sein kann.

Die letzten Abschnitte (Sect. 1112) diskutieren weitere Punkte. So zeige ich, dass mein Ansatz es uns erlaubt, zwei kontroverse Fälle besser zu verstehen, die Philosoph:innen nur allzu vertraut sind: die Fälle von Kathleen Stock und von Peter Singer. Schließlich diskutiere ich auch, welche praktischen Konsequenzen sich aus meiner Argumentation ergeben. Wie weit darf Kritik gehen?

1 Einleitung

Ich führe nun einige Beispiele moralisch umstrittener wissenschaftlicher ThesenFootnote 1 an, die ich zur Grundlage der folgenden Diskussion machen möchte. Dazu jedoch zwei kurze Bemerkungen:

Erstens gebe ich warnend zu bedenken, dass diese Thesen so gewählt sind, dass sie vielen Leser:innen als anstößig erscheinen werden. Zweitens werde ich diese Thesen in einer Weise diskutieren, die ihren Anspruch, seriöse Forschungsbeiträge darzustellen, ernst nimmt. Es ist ja immerhin die Pointe meiner Argumentation, dass moralische Kritik auch dann möglich ist, wenn man sich zugleich ganz auf die engen Standards für Korrektheit beschränkt, die sich aus der Natur wissenschaftlicher Forschung ergeben. Jedoch wird meine eigene Argumentation in Sect. 10 zeigen, dass schon damit gewisse Probleme verbunden sind. Schon indem man Thesen als Gegenstände legitimer Forschung behandelt und diskutiert, legt man pragmatisch zumindest nahe, dass sie eine gewisse Ausgangsplausibilität besitzen. Schon dies kann in einigen Fällen durchaus anstößig sein.

Gleichwohl lässt sich unser Thema ohne solche Beispiele nicht diskutieren. Hier sind sie also:

  1. (1)

    Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ.

    (vgl. Jensen, 1969, Herrnstein u. Murray 1994)

  2. (2)

    Der Begriff FRAU bezieht sich auf Menschen mit weiblichen biologischen Merkmalen.

    (vgl. Stock, 2021)

  3. (3)

    Neugeborene mit schwersten Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten.

    (vgl. Singer 1979)

Wissenschaftler:innen, die Thesen wie diese akzeptieren und vertreten, sehen sich oft moralischer Kritik ausgesetzt. Begleitet wird diese Kritik oft von Sanktionen – z. B. von informellen Vorwürfen, Anfeindungen, Störaktionen, Drohungen und diversen Formen des No-Platforming (Nicht-Einladungen bzw. Ausladungen, Nicht-Bewilligung von Mitteln und Räumen für Veranstaltungen).

Die Beispiele (1)–(3) sollen zunächst einmal beispielhaft für Fälle stehen, in denen moralische Kritik typischer Weise geübt wird und die Frage ihrer Rechtfertigung virulent wird. Ich möchte nicht behaupten, dass alle diese Fälle gleich gelagert und gleich zu behandeln sind. Ich werde mein Augenmerk im Hauptteil dieses Textes zuerst auf eines der Beispiele legen: auf die These (1). Später widme ich mich dann der Frage, ob meine Überlegungen sich auf die Fälle (2)–(3) anwenden lassen.

Kann moralische Kritik an wissenschaftlichen Behauptungen oder Positionen gerechtfertigt sein? Und wenn es legitime moralische Kritik gibt, welche Sanktionen kann sie rechtfertigen? Ich werde folgendes behaupten: Moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen wie (1) kann in der Tat gerechtfertigt und relevant sein. Ich gebe dieser Behauptung eine offizielle Formulierung:

Moralische Kritik (MK)

Es kann gerechtfertigt sein, Wissenschaftler:innen für ihre wissenschaftlichen Thesen mit moralischen Gründen zu kritisieren, sie nicht zu Veranstaltungen einzuladen, ihre Artikel und Drittmittelanträge abzulehnen. Das gilt u.a. für Fälle, in denen (1) vertreten wird.

Meine Verteidigung von MK beruht auf der Idee, dass moralische Mängel und epistemische Mängel in nicht-kontingenter Weise miteinander verknüpft sein können. Es gibt, salopp gesagt, einen systematischen Grund, warum moralisch anstößige Wissenschaft oft schlechte Wissenschaft ist. Um dies zu zeigen, berufe ich mich auf die erkenntnistheoretische Theorie, dass es pragmatic encroachment gibt – also eine Sensitivität epistemischer Standards für praktische Kosten. Solche Kosten zu leicht zu nehmen kann, so mein Argument, zugleich eine epistemische und eine moralische Fehlleistung sein. Deswegen können wir Wissenschaftler:innen für ihre Thesen mit Gründen kritisieren, die moralisches Gewicht haben, ohne dass dieser letzte Aspekt essentiell wäre.

2 Was ist das Moralische Problem mit Thesen wie (1)?

Es ist hilfreichFootnote 2 ,sich zunächst zu fragen, was genau an Thesen wie (1) moralisch anstößig erscheint. Immerhin sind sie einfach deskriptive Behauptungen, die zwar womöglich den Wahrheitswert falsch tragen, bei denen aber zunächst einmal nicht klar ist, wie sie moralische Verstöße sein könnten.

Diese Frage zu beantworten ist eines der Ziele dieses Beitrags. Aber auch ohne zu sehr vorzugreifen lässt sich ein Faktor identifizieren, der plausibler Weise Teil der Antwort sein wird: Wissenschaftliche Thesen können praktische Implikationen haben, die zu unseren bestehenden moralischen Ansichten darüber, wozu wir verpflichtet sind, nicht passen. Wie E. Özmen formuliert: Die Thesen (1)-(3) stehen “im Widerspruch zu bestimmten ‚richtigen ‘ politischen und moralischen Normen” (Özmen 2021, S. IX). Alle drei Beispiele haben Implikationen für die Frage, was wir bestimmten Menschen oder Gruppen schuldig sind. Speziell implizieren sie – natürlich in Kombination mit weiteren Prämissen, s.u. – dass bestimmte Gruppen womöglich nicht diejenigen Ansprüche an uns haben, die sie aus einer egalitaristischen Perspektive zu haben scheinen.

Ich bleibe, wie angekündigt, vorerst bei These (1). Vertreten wird sie u.a. von Jensen (1969) und von Herrnstein und Murray (1994).Footnote 3 Welche praktischen Implikationen hat diese These? Hier gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen Implikationen, die durch Thesen wie (1) tatsächlich rational gestützt werden, und weiteren Einstellungen, die Menschen absehbar einnehmen werden, wenn sie (1) akzeptieren, obwohl sie nicht durch (1) begründet werden. Es lässt sich gewiss mit einiger Gewissheit vorhersagen, dass viele Menschen viele unbegründete Schlüsse aus (1) ziehen würden – etwa auf eine generelle Unterlegenheit jedes einzelnen Schwarzen Menschen und auf eine Berechtigung zu Missachtung und Ausbeutung. Ich unterscheide also zwischen rationalen Implikationen einerseits und bloß kausalen Konsequenzen für das Denken und Handeln andererseits. Ich möchte mich in diesem Beitrag nur auf die ersteren Faktoren konzentrieren. Wenn es an einer These wie (1) etwas gibt, das moralisch problematisch ist, wird es mit den rationalen Implikationen zu tun haben, nicht mit den bloß kausalen Konsequenzen. Wenn eine These in politisch motivierter Weise missverstanden oder verdreht wird, liegt der Fehler bei denjenigen, die dies tun. Das gilt auch, wenn derlei Missbrauch bei einer These für den:die Wissenschaftler:in selbst absehbar ist.Footnote 4

Daher geht es hier um Implikationen, die plausibler Weise durch (1) rational gerechtfertigt würden. Özmen (s.o.) weist dabei darauf hin, dass solche Implikationen dadurch anstößig sind, dass sie bestehenden moralischen Überzeugungen widersprechen. Um zu verstehen, wie dies im Falle der These (1) möglich ist, präsentiere ich zuerst eine Überzeugung, die mir richtig erscheint:

  1. (A)

    Eine gerechte Gesellschaft muss Menschen unabhängig von der Hautfarbe gleiche gesellschaftliche Chancen, gleiches Einkommen, etc. ermöglichen.

Gewiss gäbe es an dieser Aussage einiges zu präzisieren. (So könnte man erläutern: Hautfarbe soll kein guter Prädiktor für die Ausstattung mit bestimmten Gütern wie Chancen, Einkommen, etc. sein.) Aber sie kann als prima facie glaubwürdiges egalitaristisches Prinzip gelten. Ein zweites Prinzip:

  1. (B)

    Gesellschaftliche Chancen, Einkommen etc. hängen auch in gerechten Gesellschaften von angeborenen “natürlichen Talenten” (Rawls) wie z.B. allgemeiner Intelligenz ab.

Auch (B) hat gute Gründe für sich, die in der Gerechtigkeitstheorie auch breit diskutiert werden:

Ein erster Grund beruft sich auf die schiere praktische Unmöglichkeit, in einer Population, in der Talente unveränderlich ungleich sind, dauerhaft zu verhindern, dass die Talentierteren größeren Erfolg im Erwerb von Einkommen, Chancen etc. haben. R. Dworkin (2000), der Umverteilung in diesen Fällen an die durchschnittliche ex ante Bereitschaft bindet, sich gegen Ungleichheiten in natürlichen Talenten zu versichern, behandelt sie als letztlich nicht vollumfänglich versicherbar.

Ein zweiter Grund appelliert weniger an faktische Schranken des Könnens als an normative Grenzen. Insbesondere J. Rawls sieht eine wichtige Motivation für sein Differenzprinzip darin, dass der Versuch der Herstellung von Gleichheit in Einkommen und Chancen (Rawls nennt dies “redress”) bei naturgegebenen Unterschieden des Talents derart kostspielig und invasiv wäre, dass sie auch und besonders den Schlechtergestellten, denen er zugute kommen soll, absolut betrachtet sogar schaden würde. Die Gleichheit wäre also um den Preis sog. einer “Angleichung nach unten” (leveling down) erkauft (die Gleichheit herstellt, indem sie alle Betroffenen gleich schlecht, und schlechter als zuvor, stellt). Leveling down gilt aber gemeinhin – und mit Recht – als eine Absurdität.

Schon diese Argumente laufen daraus hinaus, dass eine gerechte Gesellschaft bei Ungleichheiten in naturgegebenen Talenten allenfalls für eine Form von Kompensation der weniger Talentierten sorgen kann und muss – und dies in einer Weise, die Gleichheit in der Ausstattung mit Gütern wie Chancen und Einkommen nicht erreicht. Eine solche Kompensation fällt also schon in dieser Hinsicht hinter das zurück, was der obige Satz (A) fordert. Aber auch in einer weiteren Hinsicht ist Kompensation kein vollwertiger Ersatz für Gleichheit im Sinne von (A), denn sie gefährdet das, was Rawls die “soziale Basis für Selbstachtung” nennt. Um dem abzuhelfen, wäre z. B. dafür zu sorgen, dass es sozial wertgeschätzte Arbeitsangebote für weniger Talentierte gibt.

Drittens argumentiert T. Nagel (1997), dass naturgegebene Defizite als solche (anders als sozial, etwa durch vorgeburtlichen Alkoholkonsum bedingte) nicht einmal Pflichten zur Kompensation generieren können, sondern seitens der Gesellschaft bloß (schwächere) Hilfspflichten erzeugen.

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, wie die deskriptive These (1) mit der moralischen Überzeugung (A) in Konflikt geraten kann. Denn der Satz (B) hat natürlich folgende Implikation:

  1. (C)

    Wenn natürliche Talente wie allgemeine Intelligenz von der Hautfarbe nicht unabhängig sind, muss eine gerechte Gesellschaft u.U. Menschen nicht unabhängig von ihrer Hautfarbe gleiche Chancen, gleiches Einkommen, etc. ermöglichen.

Der Nachsatz dieses Konditionals ist die Negation von (A), und sollte ähnlich verstanden werden. (Er beinhaltet also, dass die Hautfarbe in einer gerechten Gesellschaft durchaus ein Prädiktor für Unterschiede in Chancen und Einkommen sein kann.) Der Vordersatz ist eine deskriptive These über den Zusammenhang von Hautfarbe und IQ. Gibt es einen solchen Zusammenhang, wie (1) sagt, so hat auch eine gerechte Gesellschaft gegenüber schlechter gestellten Schwarzen Menschen u.U. nicht die starke und umfangreiche Pflicht, gleiche Chancen und gleiches Einkommen zu ermöglichen, sondern weniger weitreichende Pflichten zur Kompensation bzw. sogar nur normativ schwächere Hilfspflichten. Da (1) also den Vordersatz von (C) bestätigen würde, könnte (1) in diesem Zusammenhang diese Implikation haben. Dies nenne ich die inegalitäre Implikation von (1).

Es sei betont, dass dies durchaus den Konsequenzen entspricht, die auch Verfechter:innen von (1) erwägen. Ihnen zufolge muss sich eine gerechte Gesellschaft sich bei genetisch bedingten Unterschieden im IQ mit “try living with inequality” (Herrnstein u. Murray 1994, 551) bescheiden. Es ist also m. E. nicht dieser Teil ihrer Vorschläge, der sie berechtigter moralischer Kritik aussetzt.

Zusammengefasst lautet der Gedanke: Wenn (1) gilt, dann sind bestimmte Unterschiede in Talenten naturgegeben. Und solche naturgegebenen Unterschiede können mit einiger Plausibilität als faktische und normative Schranken für die Gleichheit in Einkommen, Chancen, etc. gelten.

Die praktische Bedeutung dieser Implikation ist offenkundig immens. Wenn ein Blick auf die Statistik uns zeigt, dass es zwischen Schwarzen und Weißen Menschen anhaltende Unterschiede in Einkommen und Chancen gibt, so entscheidet sich an (1), was das bedeutet. Denn von (1) hängt ab, ob wir es mit etwas zu tun haben, das wir weder beheben müssen noch können, sondern woraus uns bloß schwächere Pflichten zu Kompensation und Hilfe erwachsen, oder ob wir uns vorwerfen müssen, soziale Barrieren für vollwertige Gleichheit in Chancen und Einkommen zu unterhalten.

Nun gilt, wie gesagt, dass die stärkere Forderung (A) eigentlich unsere Ideale ausdrückt. Denn de facto glauben wir – jedenfalls glaube ich das – sehr wohl, dass wir Schwarzen Menschen mehr als diese begrenzte Form von Umverteilung schulden, die auf eine Form des “living with inequality” hinausläuft. Wir glauben, dass die korrekte moralische Vorgabe Gleichheit simpliciter ist. Das heißt: These (1) steht im Widerspruch zu einer unserer (meiner) moralischen Überzeugungen.

Allerdings: Sind solche Konflikte denn ein guter Grund, eine These wie (1) zurückzuweisen?

Bevor ich mich dieser Frage zuwende, drängt sich ein Einwand auf: Liegt es nicht näher, an eine kritische Überprüfung der beteiligten moralischen Prämissen zu denken – speziell (B)? Natürlich ist eine These wie (B) nicht per se der Kritik enthoben. Dennoch gibt es zwei Gründe dafür, dass sich kritischer Widerspruch angesichts der inegalitären Implikationen primär auf (1) richten sollte.

Ein erster Grund hat mit der Pragmatik des Diskurskontexts zu tun. Es ist die These (1), die von Forschern wie Herrnstein und Murray zur Diskussion gestellt und verteidigt wird. Daher ist es angemessen, diese These zu prüfen und sich bei dieser Prüfung ansonsten auf verbreitete und plausible Hintergrundannahmen zu verlassen, die selbst nicht Gegenstand der Debatte sind. Dies gilt auch für normative Annahmen über Gerechtigkeit. Herrnstein und Murray beanspruchen ja nicht für eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption argumentiert zu haben – sie wird vorausgesetzt.

Ich will diesen wichtigen Punkt zumindest ein wenig weiter erläutern: Jede Äußerung, ob in den Wissenschaften oder in irgendeinem anderen Diskurs, findet in einem Kontext statt, der (neben anderen Parametern, etwa einem common ground im Sinne von R. Stalnaker (1999)) durch eine sogenannte Question under Discussion (QUD) definiert wird (Roberts, 1996/2012). Diese Komponente hat verschiedene diskursive Funktionen und Effekte. Die für unseren Zusammenhang wichtigste: Sie definiert, welche Äußerungen und Äußerungsteile als at issue gelten können (Simons et al., 2010). Aussagen oder Aussageteile mit at issue Status sind die, die unmittelbar zur Beantwortung der QUD beitragen. Was diesen Status hat, ist für direkte Anschlusssprechakte, Kritik und Nachfragen verfügbar, etc. Was nicht at issue ist, muss erst in diesen Status erhoben werden, bevor es problematisiert werden kann. Dazu braucht es eine Änderung der Diskursfrage.

Ein Beispiel sind Präsuppositionen. Angenommen, wir fragen uns, wo Susi ist (QUD). Eine Sprecherin sagt: “Sie ist nach Hause gefahren, ihre Katze füttern”. Wenn wir mit “Stimmt nicht!” reagieren, sind wir so zu verstehen, dass wir nicht akzeptieren, dass Susi nach Hause gefahren ist. Dies ist der Teil der Aussage, der auf die QUD antwortet, und der daher als direkter Gegenstand für Reaktionen (kritische und andere) verfügbar ist. Wollen wir hingegen diesen Teil akzeptieren und die Präsupposition bestreiten, dass Susi eine Katze hat, müssen wir linguistischen Aufwand treiben: “Kann schon sein, dass sie nach Hause gefahren ist – aber eine Katze hat sie nicht”. Wenn wir kooperativ am Diskurs teilnehmen möchten, dann müssen wir also erst einmal den at issue Teil der Aussage parieren und können erst dann denjenigen Teil kritisieren, der bisher nicht at issue war.

In den Arbeiten nun, in denen (1) verteidigt wird, ist das Thema die Ursache von IQ-Differenzen, nicht die Natur sozialer Gerechtigkeit. Genauer: (1) wird zur Diskussion gestellt als eine mögliche Antwort auf die leitende Frage (QUD), wie die beobachteten IQ-Differenzen kausal zu erklären sind. Als eine solche Antwort kann (1) daher unmittelbar herausgefordert und als begründungspflichtig behandelt werden. Annahmen über soziale Gerechtigkeit, die nötig sind, um die Implikationen von (1) zu prüfen, bilden den nicht unmittelbar problematischen Hintergrund.

Wichtig ist dabei nicht nur, dass (1) de facto die at issue-Behauptung ist. Vor allem ist von Bedeutung, dass dies den Teilnehmer: innen am Diskurs natürlich bewusst ist. (1) wird daher von den Autor:innen als der primäre Gegenstand für kritische Infragestellung angeboten. Dies führt dazu, dass sie einen entsprechenden Geltungsanspruch erheben (“Dies ist, was zur Diskussion steht”).

Ein zweiter Grund ist, dass die beteiligte moralische These (B) eben als vergleichsweise unkontrovers gelten darf. Wie gesagt, sogar typische egalitaristische und prioritarische Ansätze akzeptieren sie, von den libertären oder suffizientaristischen Alternativen ganz zu schweigen. Und es gibt insbesondere gute Gründe, (B) nicht auf der Basis von (1) in Zweifel zu ziehen. Denn wenn wir zunächst von (B) überzeugt sind, akzeptieren wir, dass von der Natur benachteiligte Menschen in einer gerechten Gesellschaft schlechter dastehen können. Warum sollten wir dann die Hautfarbe für einen Grund halten, einige dieser Menschen doch nicht schlechter dastehen zu lassen? Warum sollte unsere Moraltheorie derlei Bevorzugungen enthalten? Was würde die Hautfarbe an den Gründen ändern, die Rawls, Dworkin und Nagel für (B) angeführt haben? Kurzum: (B) bietet sich auch aus sachlichen Gründen nicht dafür an, mit einigem diskursivem Aufwand aus dem konversationellen Hintergrund in den zu problematisierenden Vordergrund gerückt zu werden.

Daher ist es die deskriptive These (1), sich als kritisches Ziel anbietet, wenn wir vor der inegalitären Implikation zurückscheuen. Ich möchte zeigen, dass diese Kritik funktionieren kann.

3 Eine Starke Liberale Auffassung der Wissenschaftsfreiheit

Wenn also die inegalitären Implikationen, die sich aus der These (1) ergeben, dem widersprechen, was wir für geboten halten – ist das ein legitimer Grund für eine kritische Haltung zu dieser These?

In diesem Abschnitt will ich aufzeigen, was an moralischer Kritik an Thesen wie (1) prima facie problematisch ist. Dabei möchte ich etwas mehr in die Tiefe gehen, als es oft geschieht. Moralische Kritik an Thesen wie (1), und an den Wissenschaftler:innen, die sie vertreten, ist oftmals verknüpft mit problematischen und z. T. illegalen Formen der Einschränkung der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Forschung. Diese Freiheit der Forschung ist ein Abwehrrecht, das vor Verboten und Einflussnahmen durch bestimmte Autoritäten schützt (vgl. Jaster & Keil, 2021). Ein so verstandenes Recht wird durch bekannte Argumente gestützt (vgl. Wilholt, 2012). Es gibt einerseits ein moralisches Argument, das das sich auf den allgemeinen Wert individueller Freiheit stützt und die Forschungsfreiheit als einen Sonderfall subsumiert. Zweitens handelt es sich um erkenntnistheoretische Argumente, die v.a. auf John Stuart Mill zurückgehen. Sie heben auf die Fallibilität unserer Überzeugungen und auf den epistemischen Mehrwert der Meinungsvielfalt ab.

Ich werde selbst im weiteren Verlauf dazu Stellung nehmen, ob und welche praktischen Sanktionen mit einer moralischen Kritik an (1) verbunden sein können und dürfen. Aber wir übersehen eine tiefe Wurzel des Problems, wenn wir uns hier nur auf praktische Einschränkungen der Forschungsfreiheit konzentrieren. Tatsächlich glaube ich, dass viele liberale Verfechter:innen der Wissenschaftsfreiheit noch ein anderes Anliegen haben, und dieses Anliegen erscheint mir berechtigt. Nicht nur ist es falsch, wenn Wissenschaftler:innen mit der Androhung von Gewalt an Auftritten gehindert oder aus ihren Jobs gedrängt werden. Abgesehen davon ist moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen selbst allgemein, auch wo kein Grundrecht in Gefahr ist, problematisch.

Um dies deutlich zu machen ist es hilfreich, sich ein Beispiel moralischer Kritik anzusehen, deren Inhalt man selbst nicht teilt. Für mich eignet sich das folgende Beispiel. Neuere Arbeiten in der Evolutionsbiologie nehmen die folgende Hypothese ernst: “[T]he expression of both DSB [= different sex sexual behavior] and SSB [= same sex sexual behavior] […] may be the norm for most animal species, representing the legacy of an ancestral condition of indiscriminate sexual behavior” (Monk et al. 2019). D.h.: Eine variable, nicht rein heterosexuelle sexuelle Orientierung wäre dieser These zufolge weder abnorm noch unnatürlich, sondern vielmehr die originäre Erscheinungsform.

Angenommen nun, eine beträchtliche Zahl von akademischen Kolleg:innen (nebst einigen Stiftungen und Gutachter*innen, die Drittmittel vergeben, sowie Herausgeber:innen und referees einiger Zeitschriften) würde diese These kritisieren, weil ihre Implikationen im Widerspruch stehen zu ihren moralischen Überzeugungen über Heterosexualität als natürliche Norm. Sie kritisieren die These als eine Missachtung des besonderen Status traditioneller Beziehungen, und als gefährlich in ihren Konsequenzen für die Orientierung junger Menschen. Vertreter:innen der These würden daher zu wichtigen Veranstaltungen über die Biologie des Sexualverhaltens nicht eingeladen, ihre Anträge auf Drittmittelförderung abgelehnt und ihre Artikel nicht zur Publikation angenommen.

Meine Intuition lautet: Diese moralische Kritik an der These ist verfehlt. Und das liegt nicht nur daran, dass mir die moralischen Überzeugungen, auf denen sie beruht, als falsch erscheinen. Mir scheint, dass die Kritik grundsätzlich in die verkehrte Richtung schließt. Wenn überhaupt, so ist die Studie ein Anlass, moralische Vorstellungen von Heterosexualität als “natürliche Norm” zu hinterfragen – nicht andersherum. Es wäre absurd, zu behaupten, die evolutionär ursprüngliche Erscheinungsform sexuellen Verhaltens müsse heterosexuell gewesen sein, eben weil es auch die richtige Form dieses Verhaltens sei. Die obige Hypothese sollte also, so meine intuitive Reaktion, einzig und allein daran gemessen werden, welche deskriptiven Belege für oder wider sie sprechen. Widerspruch zu einem bestehenden moralischen Weltbild ist kein relevanter Beleg für Falschheit.

In diesem Sinne äußert sich nun auch der Statistiker W. Krämer. Krämer reagiert dabei auf Kritik an B. Klauk, der Thesen vertritt, die (1) ähneln. Krämer repliziert auf diese Kritik wie folgt:

“Der vielfach geradezu mit Schaum auf dem Mund vorgetragene Widerstand gegen diese [i.e., Klauks] Arbeit ist vor allem ideologisch und nicht wissenschaftlich zu erklären; Vokabeln wie ‚rassistische Parolen‘ haben in wissenschaftlichen Debatten nichts zu suchen. Hier geht es einzig und allein um wahr und falsch” (Krämer, 2020, 25).

Mir scheint, dass Krämer hier wichtige Intuitionen auf seiner Seite hat. In der Tat sollte es in wissenschaftlichen Debatten “einzig und allein um wahr und falsch” gehen, und zwar in einem Sinne, der zumindest bestimmte Formen der Berufung auf moralische Vorstellungen ausschließt.

Wenn man diese Ansicht teilt, vertritt man das, was ich eine starke liberale Auffassung nennen möchte. Verfechter:innen der Wissenschaftsfreiheit, die diese starke liberale Position vertreten, weisen nicht nur Zwang und Verbote zurück, sondern lehnen oft schon moralische Kritik als sachfremd und grenzüberschreitend ab. Hinter dieser Haltung steckt ein plausibler Gedanke. Wissenschaft sollte in dem Sinne autonom sein, dass wir sie nur an den Gründen messen, die sich aus der Natur der Wissenschaft und ihrer konstitutiven Ziele ergeben. Wenn eine These gemessen an diesen inhärenten Korrektheitsstandards der Wissenschaft gerechtfertigt ist, so ist sie in jedem relevanten Sinne gerechtfertigt. Und das heißt, dass jede Kritik, die nicht die Wahrheit oder die epistemische Rechtfertigung der kritisierten These betrifft, einfach ihre Befugnisse überschreitet.

Diesen Gedanken kann man zunächst aber teilen, ohne moralische Kritik für ausgeschlossen zu halten. Die Position, die hinter Krämers emphatischer These steckt, müsste also ergänzt werden um die These, dass moralische Einwände gegen eine These keine Gründe der richtigen Art sind. Es ist eine interessante metaethische Frage, warum moralische Überzeugungen eigentlich als Quelle von Belegen für deskriptive Thesen ausscheiden. Aber hier möchte ich es ganz einfach zugestehen.

Ich formuliere:

Starke Liberale Auffassung (SL)

Autonomismus: Die Beurteilung einer wissenschaftlichen These darf allein davon abhängen, ob sie den spezifischen Korrektheitsmaßstäben der Wissenschaft genügt.

Evidentialismus: Eine These genügt den spezifischen Korrektheitsmaßstäben der Wissenschaft gdw. es hinreichende Belege für ihre Wahrheit gibt.

Anti-Moralismus: (Nicht-)Übereinstimmung mit moralischen Thesen ist kein relevanter Beleg.

Diese Ansicht spricht dafür, dass auch informelle Kritik und völlig rechtskonforme Aktivitäten wie die Nichteinladung zu Konferenzen, wenn sie moralisch begründet sind, prima facie illegitim sind.

4 Pragmatic Encroachment

Ich kann die Aufgabe für die weiteren Teile dieses Textes nun genauer beschreiben. Ich möchte, wie gesagt, argumentieren, dass die These Moralische Kritik (MK) zutrifft. Zugleich möchte ich aber behaupten, dass die obige, starke liberale Auffassung der Wissenschaftsfreiheit (SL) zutreffend ist.

Wie ist das möglich? SL zufolge darf die (Nicht-)Übereinstimmung mit unseren moralischen Überzeugungen nicht als Beleg für die Wahrheit einer These wie (1) gelten. Zugleich soll die Akzeptanz einer These wie (1) ausschließlich davon abhängen, ob wir in einem hinreichenden Maße über solche Belege verfügen. Heißt das nicht, dass unsere moralischen Vorbehalte irrelevant sind?

Nein. Moralische Einwände müssen nicht unbedingt beanspruchen, selbst Belege gegen die Wahrheit einer These darzustellen. Moralische Einwände können auch die Schwelle betreffen, ab der Belege als hinreichend gelten. Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass die Schwelle dafür, wann Belege hinreichend für epistemische Rechtfertigung sind, z. T. pragmatisch bestimmt ist. Das heißt: Ich schließe mich einer Variante des Gedankens an, dass pragmatische Kriterien, speziell prudentielle Kosten möglicher Irrtümer, sich in den Bereich des Epistemischen “einschleichen”.

Ausgangspunkt für diese Überlegungen kann eine Beobachtung sein, die G. Harman (2002) macht, und die M. Schroeder (2021) als das problem of close ties bezeichnet. Es gibt nämlich einen deutlichen Unterschied zwischen praktischen Gründen für Handlungen und epistemischen Gründen für Überzeugungen. Wenn sich die praktischen Gründe für oder wider eine Handlung die Waage halten, so ist diese Handlung typischer Weise zulässig. Wenn sich hingegen die Belege (evidence) für und wider die Wahrheit von p die Waage halten, ist eine Überzeugung, dass p, noch lange nicht gerechtfertigt. Und auch ein geringes Übergewicht ändert diesen Befund nicht. Das heißt: Das bloße Gleich- oder Übergewicht der Belege bestimmt nicht, wie viele Belege genug sind.

Neben der Balance der Belege für und wider die Wahrheit braucht es einen Standard der Suffizienz. Wie Schroeder schreibt: “[T]he problem of near ties shows that we need some independent conception of what makes evidence sufficient – we cannot simply read it off as the product of its weighing against competing evidence” (Schroeder, 2021, 141). Die Frage, warum genau es einen solchen Standard benötigt, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es liegt aber nahe, Überlegungen aus der Metaepistemologie zu Rate zu ziehen. So argumentiert E. Craig (1991), dass die praktische Rolle epistemischer Begriffe in umfassenderen Lebenszusammenhängen nicht zuletzt darin besteht, einen bestimmten Grad an Zuverlässigkeit von Information auszuweisen.

Wenn wir die Notwendigkeit eines Standards akzeptieren, wird es plausibel, auch praktische Erwägungen als epistemisch relevante Kandidaten einzubeziehen. Denn es geht ja gerade nicht darum, dass diese Kriterien die gleiche Rolle spielen sollen wie Belege. In der Tat, so argumentieren Basu and Schroeder (2019), ist die jetzige Ansicht in gewissem Sinne noch immer evidentialistisch. Denn nichts begründet eine Überzeugung, dass p (oder dass nicht-p) außer der jeweiligen evidence. Pragmatische Kriterien betreffen lediglich die Schwelle der hinreichenden Rechtfertigung, und das liegt daran, dass die dritte Option, sich (noch) nicht festzulegen, eben andere Gründe haben muss.

Ich kann an dieser Stelle nicht abschließend für eine bestimmte Variante des pragmatischen “Einschleichens” (pragmatic encroachment) argumentieren, mache aber einen konkreten Vorschlag. Der Grundgedanke lautet ja, dass Belege für eine Überzeugung eine praktisch bedingte Schwelle überschreiten müssen, um als hinreichende epistemische Rechtfertigung zu gelten. Um diesen Grundgedanken auszubuchstabieren, definiere ich im Anschluss an Hawthorne and Stanley (2008) zunächst, dass in einer gegebenen Entscheidungssituation eine p-Abhängigkeit bestehen kann. Das bedeutet, es gibt eine Proposition p und mindestens zwei Handlungsoptionen, so dass gilt: Welche Handlung die objektiv beste Wahl ist, hängt davon ab, ob p gilt. Also: Eine der Handlungen (sagen wir: ϕ) ist die beste, wenn p, eine andere (ψ) ist die beste, wenn ¬p. Für eine Entscheidungssituation, in der so eine p-Abhängigkeit besteht, lässt sich dann eine Schwelle dafür definieren, wann unsere Belege für p praktisch adäquat (Hawthorne und Anderson 2019) sind. Sie sind praktisch adäquat, gdw. gilt: Im Lichte dieser Belege ist diejenige Handlung rational, die objektiv die beste ist, wenn p der Fall ist. D.h.: Unsere Belege für p sind gut genug, wenn auch ein sicheres Wissen, dass p, keinen Unterschied mehr für die subjektiv rationale Entscheidung machen würde.

Diesem Kriterium kann man eine strenge Form geben, wie Russell (2019) vorführt. Ich verwende (anders als Russell) den entscheidungstheoretischen Rahmen von Savage (1954), weil er eine besonders einfache Herleitung erlaubt. Ein Entscheidungsproblem wird definiert durch eine Menge von acts und states (wobei die letzteren probabilistisch unabhängig von den ersteren sind). Outcomes sind Kombinationen von acts und states. Ich nehme an, dass es eine intervallvergleichbare Funktion v gibt, die für den Wert von outcomes steht. v(i, j) sei der Wert des outcome, der mit act i und state j assoziiert ist. P sei ein Wahrscheinlichkeitsmaß, definiert über der Menge der states. P ist als Maß für unsere epistemische Wahrscheinlichkeit (i.e., für die Stärke unserer Belege) zu verstehen.

Ich betrachte einen einfachen Fall: Es gibt nur zwei alternative Handlungen ϕ und ψ. Wir fragen nach dem epistemischen Status einer Proposition p. Daher nehmen wir p und ¬p als states. Schließlich sei ϕ die bessere Handlung, wenn der state p der Fall ist. Es gilt also: v(ϕ, p) > v(ψ, p).

Mit diesen Annahmen können wir eine Bedingung für die praktische Adäquatheit herleiten. Wie gesagt, diese Belege sind praktisch adäquat, wenn in ihrem Lichte die Handlung rational ist, die objektiv besser ist, wenn p. Wir haben angenommen: ϕ ist objektiv besser, wenn p. Wir müssen uns demnach fragen: Wie müssen unsere Belege sein, damit ϕ im Lichte dieser Belege rational ist?

Im entscheidungstheoretischen Rahmen ist ϕ rational, wenn das folgende Kriterium gilt:

$$v\left( {\phi, p} \right) \times P\left( p \right) + v\left( {\phi,\neg p} \right) \times P\left( {\neg p} \right) \ge v\left( {\psi,p} \right) \times P\left( p \right) + v\left( {\psi,\neg p} \right) \times P\left( {\neg p} \right)$$

Das lässt sich umstellen und vereinfachen:

$$\left( {v\left( {\phi,p} \right) - v\left( {\psi,p} \right)} \right) \times P\left( p \right) \ge \left( {v\left( {\psi,\neg p} \right) - v\left( {\phi,\neg p} \right)} \right) \times P\left( {\neg p} \right)$$

so dass wir nach einer weiteren Transformation folgendes erhalten:

$$\frac{P\left( p \right)}{{P\left( {\neg p} \right)}} \ge \frac{{v\left( {\psi,\neg p} \right) {-} v\left( {\phi,\neg p} \right)}}{{v\left( {\phi,p} \right) {-} v\left( {\psi,p} \right)}}$$

Diese Gleichung definiert auf der linken Seite eine Bedingung für die Stärke von Belegen (gemessen durch P) durch rein evaluative Faktoren, nämlich indem sie auf der rechten Seite nur ein Verhältnis der Werte von outcomes benennt. Der Quotient auf der rechten Seite ist dabei wie folgt zu verstehen: Im Zähler stehen die Opportunitätskosten, die entstehen, wenn wir irrtümlich so handeln, als ob p (und also \(\phi\) tun). Diese Kosten ergeben sich aus dem Mehrwert, den die alternative Handlung \(\psi\) unter den tatsächlichen Gegebenheiten (\(\neg p\)) vor \(\phi\) gehabt hätte. Nennen wir dies Kosten bei Irrtum. Im Nenner steht der Gewinn bei Korrektheit, d.h. wenn wir in Bezug auf p richtig liegen und \(\phi\) tun.

Also:

a) Angenommen, p ist falsch. Wie viel verlieren wir, wenn wir ϕ statt ψ tun? (Zähler)

Kosten bei Irrtum

b) Angenommen, p ist wahr. Wie viel gewinnen wir, wenn wir ϕ statt ψ tun? (Zähler)

Gewinn bei Korrektheit

Dieses Kosten-Nutzen-Verhältnis ist die Bedingung, die pragmatic encroachment stellt. Offiziell gesagt:

Pragmatic Encroachment

  1. (1)

    Unsere Belege für p sind relativ zu einer Entscheidungssituation hinreichend für epistemische Rechtfertigung, wenn sie relativ zu dieser Situation praktisch adäquat sind.

  2. (2)

    Belege für p sind in einer Entscheidung zwischen \(\phi\) und \(\psi\) praktisch adäquat gdw. gilt:

    $$\frac{P\left( p \right)}{{P\left( {\neg p} \right)}} \ge \frac{{v\left( {\psi,\neg p} \right) {-} v\left( {\phi,\neg p} \right)}}{{v\left( {\phi, p} \right) {-} v\left( {\psi, p} \right)}}$$

Damit legt der Bruch eine Schwelle für die Höhe von P(p) fest, die mit den Kosten bei Irrtums und mit dem Gewinn bei Korrektheit in Bezug auf p variiert.Footnote 5 Ein Beispiel: Wir könnten uns fragen, ob eine Sauce, die wir unseren Gästen anbieten könnten, Erdnüsse enthält oder nicht. Wie gut müssen unsere Gründe sein, damit wir berechtigt davon ausgehen dürfen, dass sie keine enthält? Angenommen, einer unserer Gäste ist allergisch auf Erdnüsse. Dann steigen die Kosten des Irrtums – speziell entsteht durch den Ausgang, in dem wir die Sauce anbieten (\(\phi\)), diese aber Erdnüsse enthält (\(\neg p\)), ein erheblicher Kostenfaktor. Daher benötigen wir besonders gute Gründe, wenn wir gerechtfertigt davon ausgehen wollen, dass die Sauce in der Tat keine Erdnüsse enthält.

Dies illustriert einen Kerngedanken der Literatur zu pragmatic encroachment. Allerdings lässt dieses Beispiel auch wichtige Fragen offen. Umstritten ist z.B. schon lange, wessen stakes eigentlich genau zählen. In unserer Modellierung ist dies die Frage, welcher Wert durch die Funktion v erfasst wird. Vertreter:innen des subjekt-sensitiven Invariantismus beharren, dass es die stakes des Subjekts sind, dessen Überzeugung wir beurteilen wollen. (v würde also messen, wie gut outcomes für dieses Subjekt sind.) Ich schlage jedoch vor, die Gruppe der stakeholder auszuweiten – und zwar wie folgt:

Alle-Betroffenen-Prinzip

Wenn wir davon ausgehen müssen, dass unser Verdikt über die Frage, ob X wahr ist, dazu führt, dass bestimmte Individuen handeln werden (oder nicht so handeln werden), als ob X wahr ist, so sind ceteris paribus die stakes aller derjenigen für die Bewertung unserer Rechtfertigung relevant, deren Wohlergehen von diesen Handlungen betroffen wird.

Ich behaupte nicht, dass dieses Prinzip generell für alle Verwendungen des Begriffs der epistemischen Rechtfertigung einschlägig ist – obwohl ich es auch nicht für ausgeschlossen halte. Ich werde aber unten dafür argumentieren, dass dieses inklusive Prinzip für die Wissenschaft gilt.

Bevor ich fortfahre, sei noch erwähnt, dass es verschiedene Weisen gibt, die stakes “aller Betroffenen” zu berücksichtigen. In meinem Modell heißt das, verschiedene Annahmen über v zu machen. v könnte z.B. die Summe der Werte der Wohlfahrtsfunktionen aller betroffenen Individuen für einen outcome darstellen. Oder sie kann definiert werden als diejenige individuelle Wohlfahrtsfunktion, für die die stakes am höchsten sind, weil die Diskrepanz von Zähler und Nenner am deutlichsten ist. Schließlich ließen sich die individuellen Wohlfahrtsfunktionen sich einer konkaven Transformation unterziehen, um einen graduellen Vorrang der stakes der am schlechtesten gestellten Individuen zu berücksichtigen. (Für solche Optionen vgl. z. B. Adler, 2019).

5 Ein erster Anwendungsfall: (1) und Pragmatic Encroachment

Ist die Wissenschaft von pragmatic encroachment betroffen, und wenn ja, in welcher Form? Ich werde weiter unten Argumente dafür formulieren, warum in der Wissenschaft generell pragmatic encroachment in der Form das Alle-Betroffenen-Prinzips gilt. Bevor es dazu kommt, können wir es uns hier aber leicht machen. (1) wird nämlich von Herrnstein und Murray in einem Kontext vertreten, in dem es gerade darum geht, politische Entscheidungen zu empfehlen. Unabhängig davon, ob die Wissenschaft generell dieses Ziel hat, hier werden Resultate explizit als handlungsleitend präsentiert.

Wir dürfen diese Thesen also daran messen, ob sie den Entscheidungen, die sie begründen sollen, in ihrer epistemischen Gewissheit praktisch angemessen sind. Und da es um politische Entscheidungen geht, ist es sicherlich fair, zu unterstellen, dass die stakes aller Betroffenen zählen.

Ich unterscheide kurzerhand zwei praktische Optionen, Gleichheit anstreben und Ungleichheit akzeptieren (was aus den oben erläuterten Gründen nicht ausschließen soll, dass Pflichten zur Kompensation wahrgenommen werden). Und ich übernehmen die These der Autoren, dass Ungleichheit akzeptieren die rationale Alternative ist, falls (1) wahr ist. Das ergibt diese stakes für (1):

$$\frac{{P\left( {\left( 1 \right)} \right)}}{{P\left( {\neg \left( 1 \right)} \right)}} \ge \frac{{v\left( {Gleichheit anstreben,\neg \left( 1 \right)} \right) {-} v\left( {Ungleichheit akzeptieren,\neg \left( 1 \right)} \right)}}{{v\left( {Ungleichheit akzeptieren,\left( 1 \right)} \right) {-} v\left( {Gleichheit anstreben,\left( 1 \right)} \right)}}$$

Wie ist diese Formel zu verstehen? Der Quotient fordert, dass wir zwei Differenzen vergleichen:

  1. a)

    Kosten bei Irrtum: Angenommen, (1) ist falsch. Wieviel verlieren wir als Gesellschaft, wenn wir Ungleichheiten akzeptieren, statt Gleichheit anzustreben?

  2. b)

    Gewinn bei Korrektheit:Angenommen, (1) ist wahr. Wieviel gewinnen wir als Gesellschaft, wenn wir die Ungleichheiten akzeptieren, statt Gleichheit anzustreben?

Zu Frage a) (Zähler): Eine Welt, in der wir Gleichheit anstreben und (1) falsch ist, ist eine Welt, in der es einer unterprivilegierten Gruppe dauerhaft besser ergeht. Und diese Verbesserung für die Schlechtergestellten wird plausibler Weise nicht einfach durch Zugeständnisse der Privilegierten erkauft. Es handelt sich kaum um ein Nullsummenspiel. Denn soziale Probleme, die sich aus der Ungleichheit ergeben, werden abnehmen. Und durch Zunahme an gebildeten und intelligenten Mitgliedern wird nahe liegender Weise die gesellschaftliche Produktivität erhöht. Dies kommt allen zugute. Würden wir hingegen Ungleichheit akzeptieren, blieben diese Vorteile aus. Wir würden zwar die Kosten sparen, die bei der Beseitigung der Ungleichheit anfallen würden. Dennoch, die Wertdifferenz erscheint hoch – und daher dürfte der Zähler einen recht hohen Wert annehmen.

Zu Frage b) (Nenner): Eine Welt, in der wir eine naturgegebene Ungleichheit akzeptieren, ist eine, in der wir weniger Ressourcen für etwas Nutzloses vergeuden. Diese Ressourcen können z.T. genutzt werden, um bestehende Ungleichheiten in einer Weise zu gestalten, die für alle erträglich ist. (Welche Form dies genau annehmen soll, wird aus Herrnstein und Murray nicht ersichtlich.) Zudem müssten Mitglieder privilegierter Schichten keine Nachteile durch affirmative action erdulden.

Es scheint plausibel, dass die Differenz im Zähler diejenige im Nenner um ein Vielfaches übersteigt. Die stakes für eine Akzeptanz von (1) sind also sehr viel höher als für Skepsis bzgl. (1). Deswegen benötigt die Akzeptanz von (1) besonders starke Belege. Liegen solche Belege vor?

Die Diskussionen um Jensen (1969) (insbesondere Lewontin, 1970) und um Herrnstein und Murray (1994) (siehe besonders Block, 1995 und die Darstellung in Wilholt, 2012) zeigen, dass die Belege dafür, dass die beobachteten geringeren IQ-Werte von Schwarzen (und sei es nur zum Teil) genetisch determiniert sind, sehr schwach bis fragwürdig sind. Freilich betonen auch Herrnstein und Murray, dass es unfundiert wäre, eine feste Ansicht darüber zu vertreten, in welchem Ausmaß die Divergenz im IQ genetisch bedingt sei. Aber sie behandeln es unumwunden als wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil dieser Divergenz genetisch determiniert ist. (Das ist eine Pointe des Buchs!).

In Anbetracht des Umstandes, dass die Autoren These (1) ihren Lesern also als sehr ernst zu nehmen präsentieren, müssen wir ihre Belege eben daran messen, ob sie sie stützen. Und gründliche Diskussionen (speziell eben Lewontin, 1970 und Block, 1995) zeigen, dass davon keine Rede sein kann. Der wichtigste Kritikpunkt ist, dass die vorliegenden Daten zur Genetik des IQ das betreffen, was technisch Heritabilität heißt. Es ist in der Tat gut belegt, dass der IQ unter Weißen Menschen eine Heritabilität von 60–80% hat. Aber Heritabilität ist nicht genetische Bedingtheit. Sie ist ein statistisches Maß – ein Quotient, der das Verhältnis derjenigen Varianz in einem Merkmal, die durch vererbte Faktoren verursacht ist, zur gesamten Varianz dieses Merkmals angibt.

Die Schwierigkeit ist, dass Belege für eine solche Heritabilität nicht ausreichen, um (1) in hinreichendem Maße zu begründen. Erstens, so hat Lewontin (1970) prägnant deutlich gemacht, können Unterschiede im IQ innerhalb verschiedener Gruppen vollständig auf vererbte Faktoren zurückgehen, während gleichzeitig die Unterschiede zwischen den Gruppen gänzlich umweltbedingt sind. Aus methodischen Gründen kennen wir aber nur die gruppeninterne Heritabilität für Weiße, so dass Rückschlüsse auf die Ursachen der Differenzen zwischen Gruppen unzulässig sind. Zweitens macht der sog. Flynn-Effekt (z.B. Flynn, 1987) deutlich, dass Umweltbedingungen mit großer Regelmäßigkeit IQ-Unterschiede dieses Ausmaßes bewirken; und es ist plausibel, dass es zwischen Weißen und Schwarzen Menschen in den USA große und systematische Unterschiede in Umweltbedingungen gibt (sogar, wenn der Faktor sozioökonomischer Status kontrolliert wird).

Drittens und vor allem zeigt Block (1995), dass Heritabilität begrifflich einfach nicht dasselbe ist wie genetische Bedingtheit. Die Heritabilität eines Merkmals für eine Population kann überaus hoch sein, obwohl dieses Merkmal im relevanten Sinne nicht genetisch sondern umweltbedingt ist. Einerseits: Die Anzahl der Zehen beim Menschen ist natürlich genetisch codiert, hat aber geringe Heritabilität (denn wo es Variation gibt, ist sie überwiegend eher nicht genetisch sondern durch Unfälle und Krankheiten zu erklären). Andererseits: Block erinnert daran, dass es in früheren Zeiten Populationen gab, in denen nur weibliche Personen Ohrringe trugen. Hier hatte das Merkmal, Ohrringe zu tragen, hohe Heritabilität, weil ein großer Teil der Variation in diesem Merkmal auf genetisch vererbliche Faktoren zurückgeht. Trotz hoher Heritabilität ist das Tragen von Ohrringen aber natürlich nicht “genetisch bedingt”, sondern eine veränderbare Konvention.

In Anbetracht all dessen können wir sagen, dass die These, dass die Divergenz partiell genetisch bedingt ist, durch die Daten zur Heritabilität des IQ unter Weißen nur extrem schwach bestätigt ist. Wir dürfen davon ausgehen, dass dieser Grad an Bestätigung den stakes nicht gerecht wird. Block (op. cit.) formuliert eine besonders scharfe Form dieser Kritik. These (1), so Block, sei sogar bestenfalls als geraten einzustufen. Und das ist zu wenig. Block zitiert dabei ganz explizit die stakes: “Given the social importance of this issue, guessing is not appropriate” (Block, 1995, 112). Diese Beschreibung erscheint mir vielleicht als etwas zu harsch. Man könnte es auch eine Vermutung nennen. Und mir scheint, dass auch eine sehr schwache Datenlage es nicht pauschal in allen Fällen verwerflich macht, eine These auf der Basis einer Vermutung zu vertreten. Es sind eben die stakes, auf die Block hinweist, die es in diesem Falle abwegig machen: Gegeben die soziale Tragweite der These ist auch eine Vermutung, die in anderen Fällen vielleicht zulässig wäre, “not appropriate”.

Das heißt: Wenn wir von Pragmatic Encroachment und spezieller vom Alle-Betroffenen-Prinzip ausgehen dürfen, dann gibt es ein systematisches Argument dafür, dass (1) epistemisch defizitär ist.

6 Die epistemische und moralische Dimension der Stakes

Wie kann uns dieser Befund bei dem Projekt helfen, SL und MK zu versöhnen? Generell lautet meine argumentative Idee: Wenn sich zeigen lässt, dass Stakes und das Alle-Betroffenen-Prinzip gelten, dann haben wir einen Faktor ausgemacht, der epistemische Relevanz hat, der aber gleichzeitig und plausibler Weise auch moralisches Gewicht hat. Aber wie lässt sich diese Idee ausbuchstabieren?

Wir bleiben vorerst bei Herrnstein und Murray. Wie gesagt, hier scheint es plausibel, stakes und das Alle-Betroffenen-Prinzip zu akzeptieren. Dann gilt, wie eben dargelegt: Im Lichte der stakes aller Betroffenen ist die These, die Herrnstein und Murray vertreten, nicht ausreichend epistemisch gerechtfertigt. Das ist ein epistemischer Mangel. Gleichzeitig scheint darin aber auch ein moralischer Mangel zu liegen. Die obige Herleitung hat gezeigt: Dass die Belege für (1) nicht die Stärke haben, die den stakes angemessen ist, bedeutet nichts anderes als dass die Handlung, die im Falle der Wahrheit von (1) die beste ist, einen suboptimalen erwarteten Wert im Lichte der Belege hat. Wenn Wissenschaftler:innen wie Herrnstein und Murray also dennoch (1) vertreten, dann ist dies fahrlässig: Wenn wir auf Basis ihrer These handelten, täten wir das, was erwartbar schlechter wäre.

Ein weiteres Argument zielt auf Gerechtigkeit ab. Wenn wir (1) fälschlich akzeptieren, dann leben wir mit einer Ungleichheit, die in Wahrheit ein sozial bedingtes Unrecht ist. Wer also (1) behauptet, ohne ausreichende Belege zu haben, der riskiert insbesondere eine Ungerechtigkeit.

Ein drittes Argument beruft sich auf das, was Hellman (2008) die Bedeutung nennt, die Handlungen in historischen Kontexten haben können: In einer Geschichte, die von Rassismus geprägt ist, ist eine Behauptung, die den Interessen Schwarzer Menschen zu wenig Gewicht beimisst, kein harmloser Lapsus sondern trägt nolens volens rassistische, diskriminierende Bedeutung.

Damit ist ein wichtiger Schritt in meinem Argument bereits genommen: Wir haben für das Beispiel (1) gezeigt, dass die Irrtumskosten in Bezug auf (1) so ausfallen, dass die Behauptung von (1) im Lichte der Belege, die Herrnstein und Murray anführen, sowohl als epistemisch ungerechtfertigt als auch als moralisch fahrlässig und als Ausdruck von Missachtung gelten darf. Wir haben damit Gründe gefunden, aus denen heraus wir (1) zugleich epistemisch und moralisch kritisieren können. Und damit zeigt dieses Beispiel auch, dass MK und SL vereinbar sind. Speziell ist diese These nämlich mit SL vereinbar: Moralische Gründe zeigen zwar, dass es keine hinreichenden Belege für (1) gibt, übernehmen aber gleichzeitig nicht selbst die Rolle von Belegen.

7 Moral Encroachment

Nun ist (1) aber eben ein Sonderfall – eine These, die explizit auch eine politische Empfehlung begründen soll. Da lässt es sich unschwer plausibel machen, dass das Alle-Betroffenen-Prinzip gilt.

Aber die entscheidende Frage lautet: Warum sollten wir generell davon ausgehen dürfen, dass die stakes aller Betroffenen für die epistemischen Standards der Wissenschaft relevant sind?

Nun, dass zunächst einmal eine Form des pragmatic encroachment für die Wissenschaft gilt (unabhängig von der Frage, wessen stakes genau gelten), ist sicherlich plausibel. Es liegt nahe, dass die Schwelle für zuverlässige Informationen mindestens zum Teil durch den Bedarf an actionable information in einer epistemisch arbeitsteiligen Gesellschaft definiert wird (siehe v.a. Craig 1991). Gerade da, wo es praktisch um viel geht – bei Entscheidungen über die Sicherheit eines Reaktors oder über den nächsten lockdown – orientieren wir uns an den Wissenschaften und ihren Standards. Es ist nur zu erwarten, dass diese Standards ihrerseits diese Rolle der Wissenschaft berücksichtigen. Und in der Tat wächst das Bewusstsein dafür in der Wissenschaft. So wird z. B. immer öfter darüber diskutiert, dass die Festlegung des Signifikanzniveaus in einer quantitativen Studie Spielräume lässt, und in diesem Zusammenhang mangelt es nicht an Appellen, in dieser Festlegung die praktischen Kosten der zwei verschiedenen Irrtumsarten in Betracht zu ziehen (Ziliak & McCloskey, 2008).

Die Berufung auf pragmatic encroachment in der epistemischen Bewertung wissenschaftlicher Resultate ist also allgemein plausibel. Aber das ist nicht alles, was meine These umfasst. Was ist mit dem Alle-Betroffenen-Prinzip? Was hat ein:e Wissenschaftler:in mit dem Gemeinwohl zu schaffen?

Ich habe zwei Antworten auf diese Frage anzubieten. Eine erste Antwort beruft sich auf etwas, das in der aktuellen Debatte oft moral encroachment heißt (vgl. z.B. Bolinger, 2020; Moss, 2018). Aus der unparteiischen Perspektive der Moral, so lautet der Gedanke zunächst, zählen natürlich die Interessen aller derer, die von den Konsequenzen einer These betroffen sind, gleichermaßen. Und da wir nun ohnehin dabei sind, Interessen eine wichtige Rolle für epistemische Standards beizumessen – mit welchen Grund sollten wir an dieser Stelle selektiv und parteiisch verfahren, gerade in der Wissenschaft? So wenig, wie Wissenschaft in der Berücksichtigung von Belegen parteiisch und selektiv sein sollte, so wenig sollte sie es in der Berücksichtigung der Kosten sein. Die natürliche Perspektive einer objektiven Wissenschaft wäre die unparteiische Perspektive der Moral.

Dieses Auffassung zufolge ist also das, was Interessen für die epistemische Beurteilung einer Überzeugung oder Behauptung relevant macht, nichts anderes als ihre schiere moralische Relevanz.

Mir scheint dieser Gedanke einleuchtend zu sein. Statt ihn aber zu vertiefen, möchte ich zeigen, dass es auch eine andere Basis dafür gibt, das Alle-Betroffenen-Prinzip für wissenschaftliche Behauptungen und Überzeugungen zu vertreten. Das Argument, das ich dazu nun entwickle, beruft sich dabei gerade auf Gedanken, die Verfechter:innen der Wissenschaftsfreiheit hochhalten.

8 Wissenschaftsfreiheit, Stakes und das Alle-Betroffenen-Prinzip

In diesem Abschnitt möchte ich eine weitere (und nicht-moralische) Begründung dafür geben, dass Pragmatic Encroachment und das Alle-Betroffenen-Prinzip in der Wissenschaft gelten. Mein Argument setzt gerade bei der These an, die Verfechter:innen der Wissenschaftsfreiheit am Herzen liegt: Es gibt gute Gründe, die Forschung nicht externen Zwängen und Vorgaben zu unterwerfen. Ich möchte diese These nun ausweiten: Was auch immer für die Freiheit der Forschung spricht, spricht in gleicher Weise für die Freiheit der prüfenden und kritischen Öffentlichkeit. Ebenso wenig wie die Forschung beschränkt werden sollte, sollte auch die Praxis der kritischen Überprüfung beschränkt werden. Ich gehe davon aus, dass Verfechter:innen der Wissenschaftsfreiheit dieser Ausweitung zustimmen bzw. sie als im Begriff der Forschungsfreiheit bereits enthalten betrachten. Kant, ein wichtiger Vertreter der Freiheit der Forschung, macht diese Ausweitung jedenfalls ganz deutlich:

“Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muß äußern können”. (A 738 f/ B 766 f)

Wie vermeidet man es also, dass es eine “dictatorische” Einmischung in die Forschung gibt? Durch die “Einstimmung freier Bürger” – dadurch also, dass keine kritische Perspektive privilegiert wird.

Nun können wir argumentieren: Pragmatic Encroachment ist für gerechtfertigte Überzeugung im individuellen Falle plausibel. Die Wissenschaft hat aber (wie Kant argumentiert) den Anspruch, dass ihre Thesen von allen Betroffenen gerechtfertigter Weise geglaubt werden können. Also muss sie die Interessen, die diese individuelle Rechtfertigung mitbestimmen, als relevant anerkennen!

Etwas ausführlicher: Wenn wir es mit der Freiheit der prüfenden Vernunft ernst meinen, so müssen wir akzeptieren, dass alle Bürger:innen in dem Sinne frei über die Rechtfertigung einer These befinden, dass sie die Standards ihres je eigenen Kontextes anwenden dürfen. Andernfalls müssten wir ja verlautbaren: “Wir beziehen zwar die Kritik aller Bürger:innen mit ein, aber wir verlangen, dass sie dabei einen invarianten Standard verwenden, der ihrem eigenen Kontext äußerlich ist”. Keines der Argumente für Wissenschaftsfreiheit würde diese Haltung rechtfertigen. Wir würden die Kritiker:innen eben doch “dictatorisch” bevormunden; wir müssten uns selbst in der Benennung der “richtigen” Standards doch wieder für unfehlbar halten; und wir würden uns den epistemischen Mehrwert entgehen lassen, unsere These mit der Vielfalt der existierenden kritischen Perspektiven und ihrer internen Standards zu konfrontieren. Das wäre inkonsequent.

In diesem Sinne behauptet auch Mill, dass jedes Mitglied der kritischen Öffentlichkeit sich an seinen:ihren eigenen epistemischen Standards orientieren soll: “To call any proposition certain, while there is any one who would deny its certainty if permitted, but who is not permitted, is to assume that we ourselves, and those who agree with us, are the judges of certainty, and judges without hearing the other side.” (Mill, 1975, 2) Wenn wir diese Ansicht nun aber um die These ergänzen, dass die je eigenen Standards der Bürger:innen von ihren Interessen mitbestimmt werden (und dies ist, ich betone, eine eher unkontroverse Form von pragmatic encroachment), so kann man schließen, dass die Geltungsansprüche wissenschaftlicher Thesen für diese Interessen sensitiv sind.

Ich formuliere dieses Argument noch einmal etwas genauer:

9 Argument für Stakes und Alle-Betroffenen-Prinzip

  1. 1.

    Es zählt zu den Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Behauptungen, von allen Mitgliedern der Öffentlichkeit gerechtfertigt geglaubt werden zu können.

  2. 2.

    Ob ein Mitglied der Öffentlichkeit eine Behauptung gerechtfertigt glauben kann, wird von den Standards seines:ihres Kontexts beeinflusst.

  3. 3.

    Die Standards des Kontextes eines Subjekts werden von seinen:ihren stakes mit beeinflusst.

    Ergo: Die stakes aller Mitglieder der Öffentlichkeit beeinflussen die Geltung wissenschaftlicher Behauptungen.

Kurz: So wie der prüfende Blick von jedermann:frau relevant wird, so werden es auch seine:ihre stakes. Die Standards der Wissenschaft müssen also eine Pluralität von Perspektiven und ihre assoziierten praktischen Interessen mit in Betracht ziehen. Das ist das Alle-Betroffenen-Prinzip.

Wir müssen also nicht allein aus äußerlichen moralischen Gründen, sondern auch aus der inneren Logik der Wissenschaftsfreiheit heraus die stakes aller Betroffenen berücksichtigen.

10 Die Autarkie des Epistemischen

Zwar betrachte ich auch die Argumentation für die Existenz von moral encroachment als viel versprechend. Dennoch erscheint mir das zuletzt formulierte Argument als besonders attraktiv.

Ich habe ja oben skizziert, wie eine Kritik an (1) auf Basis des moral encroachment aussehen könnte. Wir kalkulieren zunächst die stakes aller Betroffenen. Wir würden diese Irrtumskosten dabei wegen ihrer moralischen Relevanz betrachten – deshalb also, weil es falsch wäre, leichtfertig in einer Weise zu handeln, die diese Kosten verursacht. Aus diesem moralischen Grunde würden wir diese Kosten dann auch zur Bestimmung der Schwelle für epistemische Rechtfertigung nutzen. Kurz gesagt: (1) ist deshalb unzureichend epistemisch gerechtfertigt, weil die Belege für (1) nicht gut genug sind, um die drohenden moralischen Kosten hinreichend unwahrscheinlich zu machen.

Wir können nun aber auch anders argumentieren. Da wir nun eine unabhängige Begründung für das Alle-Betroffenen-Prinzip in Händen haben, können wir zugleich eine epistemische und eine moralische Kritik formulieren, ohne dass die stakes dabei wegen ihrer moralischen Tragweite relevant wären. Das verleiht der epistemischen Kritik eine größere Unabhängigkeit von moralischen Überlegungen. Sie funktioniert auch selbstständig und beruft sich ausschließlich auf die Geltungs- und Rechtfertigungsansprüche, die allen wissenschaftlichen Behauptungen als solchen eigen sind.

Es gibt demnach epistemische Defizite wissenschaftlicher Positionen, die aus nicht-kontingenten Gründen zugleich auch moralische Defizite sind, ohne dass die moralischen Defizite die epistemischen begründen müssten. Anders gesagt: Wir können wissenschaftliche Thesen wie (1) nun mit Gründen kritisieren, die auch moralische Signifikanz haben, wobei diese Signifikanz für unsere Kritik nicht essentiell ist. Unsere Kritik hat moralischen Gehalt, funktioniert aber autark.

11 Wie weit reIcht meine Analyse?

Eine Schwierigkeit für die Reichweite meines Vorschlags liegt darinFootnote 6, dass pragmatic encroachment in der Form, die ich vertrete, sich nur auf die Rechtfertigung von Überzeugungen (und derivativ von Behauptungen, die Überzeugungen ausdrücken) bezieht. Man darf sich aber fragen, welche Rolle diese spezifischen Praktiken im Kontext des wissenschaftlichen Diskurses überhaupt spielen. Geht es dort nicht eher um das Aufstellen von Hypothesen und um Fragen wie die, welche von ihnen einstweilen aussichtsreiche Kandidaten, z.B. die vorläufig beste Erklärung für einige Daten, sind?

Sicherlich ist dies ein zutreffendes Bild des größten Teils der Wissenschaft. Aber dann ist fraglich, ob meine Analyse der Wissenschaft gerecht wird. Vielleicht stellt sich sogar ein Dilemma: Entweder wir vertreten, dass auch für das Aufstellen von Hypothesen die gleichen Anforderungen gelten wie für das Aufstellen von Behauptungen. Das würde aber der Sache kaum gerecht; es würde dem wissenschaftlichen Spielen mit alternativen Hypothesen eine strikte Zwangsjacke verpassen. Oder wir akzeptieren, dass dieser Teil der Wissenschaft nicht an den Maßstäben für Überzeugungen und Behauptungen zu messen ist. Dann verfehlt meine Analyse diesen Teil, und zwar den wichtigsten.

Doch der Ansatz lässt sich retten. Es gibt zwei Repliken auf den gerade skizzierten Einwand:

Erstens beruht das skizzierte Dilemma auf einer falschen Alternative. Wir können – und sollten – zugestehen, dass das Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen nicht so behandelt werden darf wie das Ausbilden von Überzeugungen und das Aufstellen von Behauptungen, und dass es daher auch nicht an denselben Standards für Rechtfertigung zu messen ist. Gleichwohl heißt das nicht, dass es für den Umgang mit Hypothesen nicht ebenfalls Anforderungen für Rechtfertigung gibt, und ebenfalls heißt es nicht, dass diese Standards mit gewöhnlichen Standards epistemischer Rechtfertigung nichts zu tun haben. Im Gegenteil: Mir scheint, dass es nur dann gerechtfertigt ist, eine Hypothese in den Wissenschaften ernst zu nehmen, wenn sie eine Aussicht auf Rechtfertigung hat, die im Lichte der Gesamtheit unserer bereits verfügbaren Belege und im Vergleich zu anderen Hypothesen nicht zu gering ist. Der Grund dafür ist der, dass die Kapazitäten der Wissenschaft (als einem sozialen Unterfangen) und der Wissenschaftler:innen (als kognitiv begrenzten Wesen) nicht unendlich sind und daher eine Form der Konzentration unserer Ressourcen auf gute Kandidaten verlangen. Deswegen kann sich ein:e Wissenschaftler:in z.B. durchaus schon dadurch diskreditieren, dass sie (ohne etwaige neue Belege) der Phlogiston-Theorie nachhängt und -forscht. Der Grund ist dabei nicht nur ein praktischer (i.e., die Vergeudung von Ressourcen). Sondern er besteht eben darin, dass wir dadurch, dass wir Hypothesen ernst nehmen und prüfen, einen epistemischen Anspruch auch für solche Hypothesen geltend machen – als hinreichend aussichtsreiche Kandidaten dafür, einmal Gegenstand gerechtfertigter Überzeugungen und Behauptungen zu sein.

Und auch an diesem Anspruch scheinen mir einige der hier diskutierten Beispiele bereits zu scheitern, speziell (1). Im Falle der Forschung von Herrnstein und Murray war bereits hinreichend klar, dass Umweltunterschiede solche IQ gaps ohne weiteres erklären (Flynn, 1987), und dass Daten zur Heritabilität keine Unterscheidung von genetisch bedingten und umweltbedingten Differenzen stützen. Und überhaupt gilt die Idee, dass der Unterschied zwischen races mit tieferen genetischen Differenzen einhergeht, schon länger als diskreditiert.Footnote 7 In dieser diskursiven Situation die Frage wieder aufzuwerfen, ob Schwarze nicht genetisch bedingt durchschnittlich weniger intelligent sind, ist selbst bereits nicht wissenschaftlich gerechtfertigt – und speziell dann, wenn berücksichtigt wird, wie hoch die Schwelle für die Zielvorgabe der Rechtfertigung angesichts der sozialen Kosten ist.

Eine zweite Replik ist folgende: Das interne Funktionieren des wissenschaftlichen Diskurses verlangt, wie gesagt, selten Behauptungen und alles-oder-nichts Überzeugungen. Aber gerade dort, wo mit einer Hypothese hohe soziale stakes verbunden sind, kreieren diese äußeren Faktoren diskursive Situationen, die Graustufen nicht zulassen. Wenn an die Wissenschaften z. B. die Frage gerichtet wird, ob ein bestimmter Reaktor sicher ist, so hängt von der Frage oftmals ab, ob dieser Reaktor in Betrieb bleibt oder nicht. Dieses praktische tertium non datur beschränkt dann aber auch, welche Äußerungen als Antworten auf die relevante Diskursfrage gelten können. Wir können eben als Gesellschaft nur so handeln, als sei der Reaktor sicher (und ihn in Betrieb nehmen), oder so, als sei er es nicht (und ihn nicht in Betrieb nehmen). Die wissenschaftliche Auskunft, wir dürften zum Grade XY annehmen, dass der Reaktor sicher ist, wird dann so vereindeutigt werden müssen, dass sie eine dieser drei Antworten darstellt: “Sicher!” , “Nicht sicher!” oder “Können wir nicht sagen!”

Diese Replik will also besagen: So sehr das interne Funktionieren der Wissenschaft auch auf dem weniger verbindlichen Arbeiten mit Hypothesen beruht, so wird diese Wissenschaft doch gerade dort, wo die Öffentlichkeit praktisch drängende Fragen an sie richtet, genötigt sein, in einer Weise Stellung zu beziehen, die nur weniger feinkörnig individuierte Positionierungen zulässt. Und sobald sie es tut, wird sie auch an denjenigen Standards gemessen werden, die für diese groben Optionen gelten. Ich gehe davon aus, dass Wissenschaftler:innen dies schmerzhaft bewusst ist.

12 Das Beispiel (2)

Jede der Thesen (1)-(3) würde einer eingehenden Auseinandersetzung bedürfen. Ich habe aber den Eindruck, dass mein Modell durchaus auch für diese Beispiele erhellend sein kann. Um dies plausibel zu machen, werde ich mich nun einem dieser weiteren Beispiele zuwenden, der These (2).

Mir scheint, dass mein Modell auch zur Debatte um (2), und speziell um Positionen wie die von Kathleen Stock (2021), Erhellendes beizutragen hat. Zunächst einmal ist recht offensichtlich, inwiefern (2) in den Bereich meiner Theorie fällt. (2) und die Verneinung von (2) haben definitiv gravierende praktische und politische Implikationen, und diese Implikationen sind für verschiedene Gruppen mit Schäden und Risiken verknüpft. Es ist also generell nicht abwegig, zu fragen, ob die Position (2) in Anbetracht der Kosten für alle Betroffenen insgesamt gut genug gerechtfertigt ist. Es ist meiner Argumentation zufolge also möglich, dass (2) und/oder die Verneinung von (2) sich moralisch kritisieren lassen, in einer Weise, die dennoch nicht sach- oder wissenschaftsfremd ist.

Anders als im Falle von (1) will ich hier nun nicht versuchen, zu entscheiden, ob (2) oder die Negation von (2) oder eine Enthaltung im Lichte der relevanten stakes insgesamt gerechtfertigt ist. Aber mein Vorschlag erlaubt uns dennoch eine wichtige Erkenntnis: Mein Modell bestätigt den Verdacht, dass einige Teilnehmer:innen die Debatte in einer Weise darstellen, die unfair ist – und die eine Art von epistemischer Ungerechtigkeit oder silencing darstellt. Besonders deutlich ist dies im Falle der Verfechter:innen von (2), wie mir scheint.Footnote 8 Sie präsentieren sich in der öffentlichen Debatte selbst gerne so, als würden sie sich ausschließlich auf Tatsachen und evidence stützen, während ihre Gegner:innen mit Emotionen, Moralisieren und Ideologie reagierten. Diese Darstellung nutzt verschiedene Kunstgriffe. Mitunter plump – etwa, wenn sich Verfechter:innen von (2) als gender realists bezeichnen,Footnote 9 ihre These auf den Slogan “Sex is real” reduzieren oder sich unter Hashtags wie #TeamRealität zusammentun. Das gilt auch für Stock, die für ihr Buch den Untertitel Why Reality Matters for Feminism wählt (oder für Joyce, die ihrem Traktat den Untertitel When Ideology Meets Reality gibt). Andere Schachzüge, die einen ähnlichen Effekt haben, sind subtiler, etwa dann, wenn die Gegenposition bevorzugt anhand von Texten postmodernistischer Autor:innen diskutiert wird, deren Beziehung zu Wissenschaft und Tatsachen teilweise schillert.

Entgegen solcher Darstellungen ist zu sagen: Wenn Kritiker:innen von (2) darauf abheben, welche praktischen und existenziellen Konsequenzen (2) für ihre Rechte und ihre Identität hat, so verlassen sie nicht schon aus diesem Grunde den Boden der rein epistemischen Beurteilung wissenschaftlicher Thesen. Sondern sie appellieren an genau die sozialen Kosten, die in der epistemischen Beurteilung immer eine Rolle spielen – nicht, indem sie evidence ersetzen, sondern indem sie mitbestimmen, welche Schwelle evidence passieren muss, um Akzeptanz zu rechtfertigen.

Damit ist aber zunächst nur eine Kritik der Weise formuliert, wie Anhänger:innen von (2) die dialektische Lage darstellen. Dabei scheint mir in der Tat eine verwerfliche Form von silencing im Spiel zu sein, eine Form von silencing, die feministische Anhänger:innen von (2) selbst eigentlich gut kennen. Zur weitergehenden Frage, welche der Parteien Recht hat, ist damit aber nichts gesagt.

Tatsächlich zeigt die Debatte, dass es durchaus beiden Seiten klar ist, dass die Abwägung praktischer Kosten eine wichtige Rolle zu spielen hat. Nicht zuletzt heben Autor:innen wie K. Stock ja darauf ab, welche Gefahren Frauen drohen könnten, wenn These (2) nicht akzeptiert wird.

Beide Parteien führen z.B. handfeste Konsequenzen an, die drohen, wenn (2) fälschlich zurückgewiesen bzw. akzeptiert wird (jedenfalls, solange nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, bestimmte Zugangsrechte zu safe spaces oder Wettkämpfen etc. in nicht geschlechterbasierter Weise gänzlich neu zu organisieren): Die eine Seite befürchtet, dass cis Frauen in women only spaces vor Übergriffen weniger sicher sind, wenn wir (2) verneinen; die andere Seite repliziert, dass trans Frauen nicht weniger Schlimmes zu erwarten haben, wenn sie keine Zuflucht zu solchen Orten haben bzw. sogar in men only spaces landen. Weiterhin führen beide Parteien z.B. an, dass Teile ihrer Identität an der Wahrheit oder Falschheit von (2) hängen. Verfechter:innen von (2) betonen, dass die gemeinsame Identität und die gemeinsamen politischen Ziele von Frauen durch Erfahrungen von patriarchalischer Unterdrückung geprägt sind – Erfahrungen also, für die es konstitutiv ist, dass frau keinerlei Wahl oder Mitbestimmungsrecht in Bezug auf ihre Position hatte. Trans Personen kritisieren (2) mit Hinweis auf den kontinuierlichen Kampf und die Ungewissheit, die es für sie bedeutet, Anerkennung in ihrem Selbstverständnis zu finden – und darauf, dass die Unterstellung, sie hätten sich ihr Geschlecht wie in einer Laune ausgesucht, ihre Identität trivialisiert.

Es sind in der Tat genau diese Faktoren, die meine Theorie als relevante Gründe identifiziert.

13 Das Beispiel (3)

Sollten wir P. Singer nicht ebenso kritisieren? Man könnte sagen: “Die stakes schwerstbehinderter Neugeborener sind immens. In Anbetracht dessen müsste Singers These viel besser belegt sein, als sie es sind. Und dass sie es nicht ist, macht auch sie zugleich epistemisch und moralisch defizitär”.

Moralische Empörung über Singers Thesen ist verständlich. Trotzdem liegt dieser Fall in einer subtilen, aber entscheidenden Hinsicht anders als z.B. derjenige von Herrnstein und Murray.

Zunächst einmal bietet sich uns freilich eine ähnliche Lage wie im Falle von (1) (s.o.): Auch im Falle der These (2) ist es natürlich eine Kombination von deskriptiven und moralischen Thesen, die auf die bestürzende Implikation führt, dass es keine kategorischen Gründe gebe, schwerstbehinderte Neugeborene nicht zu töten. In diesem Falle handelt es sich um die Kombination der deskriptiven These, dass solche Neugeborenen keine auf die eigene Zukunft gerichteten Präferenzen haben, und um die moralische Prämisse des Präferenzutilitarismus, dem zufolge es nur die Frustration solcher Präferenzen ist, die uns Gründe gegen eine Tötung gibt.

Sollte es sich also hier nicht ebenso wie im Falle von (1) anbieten, die deskriptive These zum Ansatzpunkt der Kritik zu machen? Nein, und das liegt an dem folgenden Unterschied: In diesem Kontext ist die Diskursfrage (QUD) natürlich eine moralphilosophische Frage. Thema ist die Verteidigung der präferenzutilitaristischen Ethik des Tötens. Psychologische Thesen über die Interessen schwerstbehinderter Neugeborener sind hingegen nicht das, was Singer sich zu belegen anmaßt und zur Debatte stellt. Sie bilden den Hintergrund für die Prüfung seiner eigentlichen These. Daher ist in diesem Kontext auch kein Themenwechsel und keinerlei diskursiver Aufwand erforderlich, um den Präferenzutilitarismus zu kritisieren und in Frage zu stellen. Würden wir aber die Annahme hinterfragen, schwerstbehinderte Neugeborene hätten bestimmte Präferenzen nicht, dürften wir sicher mit der vertrauten Philosophen-Replik rechnen, das sei eine empirische Frage.

Das heißt: Hier wie oben ist es der:die jeweilige Autor:in selbst, der:die den Ansatzpunkt der Kritik definiert, indem er:sie bestimmte Thesen zu dem macht, was im Argument at issue Status hat.

Das hat nun aber Konsequenzen für die Kritik an Singer: Unsere moralischen Vorbehalte gegenüber seiner These sollten als sachliche Einwände gegen die Wahrheit dieser These verstanden werden. Im Umgang mit explizit moralischen Thesen versteht es sich ja von selbst, dass aus diesen Thesen Handlungsanweisungen folgen, die sich als moralisch kostenträchtig erweisen, falls eine andere moralische These wahr sein sollte. Dass es solche Kosten auch für den Präferenzutilitarismus gibt, ist klar und weist natürlich nicht auf einen handwerklichen Fehler hin. Stattdessen sollte unsere Kritik sich so verstehen, dass sie moralische Belege gegen die Wahrheit seiner These ins Feld führt. Das zu tun heißt aber eben, sich an Singers Projekt zu beteiligen und seine These ernst zu nehmen.

14 Praktische Konsequenzen: Welche Sanktionen sind gerechtfertigt?

Man kann (1) moralisch kritisieren, ohne dass diese Kritik als wissenschaftsfremd, ideologisch oder als weltanschauliche Bevormundung, etc. zurückgewiesen werden darf. Das liegt daran, dass der moralische Mangel mit einem epistemischen Mangel korreliert ist, letzteren aber nicht begründet.

Welche Sanktionen sind dann gerechtfertigt? Die Antwort, die sich aus meinem Argument ergibt, ist klar: Genau die, die sich auch durch den epistemischen Mangel allein rechtfertigen lassen.

Hier kann ich mich auf eine hilfreiche Unterscheidung von Schönecker (2020) berufen. Schönecker unterscheidet zwei verschiedene Arten von Grenzen für die Wissenschaftsfreiheit, moralische und wissenschaftliche. Moralische Grenzen liegen Schönecker zufolge z.B. dort, wo die Forschung fragwürdige Experimente an Menschen oder Tieren beinhaltet. Wissenschaftliche Grenzen liegen dort, wo sich eine Position oder Methode als seriöse Wissenschaft diskreditiert hat.

Grenzverletzungen dieser zwei Arten rechtfertigen Sanktionen verschiedener Art. Meine Argumentation läuft nun darauf hinaus, dass wir Wissenschaftler:innen, die Thesen wie (1) vertreten, mit denjenigen Sanktionen belegen dürfen, die für Verletzungen der wissenschaftlichen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit gelten. Es kann also z.B. zulässig sein, Wissenschaftler:innen nicht zu (thematisch einschlägigen) wissenschaftlichen Veranstaltungen einzuladen sowie ihre Drittmittelanträge und Artikel abzulehnen, und all dies aus dem Grund, dass sie die genannten, moralisch problematischen Thesen vertreten. Ebenso gibt es das Recht, gegen ihre Einladung zu protestieren und Mittel für die Einladung nicht bereitzustellen – und zwar genau in dem Rahmen, in dem dies generell für besonders minderwertige Wissenschaft zulässig ist. Ebenso darf man sich, wie es eben in Fällen grob minderwertiger Wissenschaft zulässig wäre, öffentlich fragen, ob der:die Autor:in wirklich eine gut bezahlte Stelle an einer Universität verdient hat. Dies alles gilt, wie gesagt, weil moralische Defizite in diesen Fällen mit einem epistemischen Defizit verknüpft sind.

Dabei gilt außerdem: Im Zuge einer Begründung dieser Sanktionen kann man explizit Gründe anführen, die moralisch sind – eben weil dieser Aspekt für die Kritik nicht wesentlich ist.

Ebenso erklärt mein Ansatz, warum die moralischen Aspekte der Kritik keine Berechtigung zu weiteren Sanktionen ergeben. Sanktionen wie die Androhung von Gewalt, das Anzünden von Autos, das Beleidigen und Einschüchtern von Personen finden – natürlich – keine Rechtfertigung. Gleiches gilt für die genannten Sanktionen (die Nicht-Einladung zu Veranstaltungen, das Ablehnen von Artikeln und Drittmittelanträgen), wenn sie rein ad hominem sind. D.h.: Es ist unzulässig, Wissenschaftler:innen nicht einzuladen oder ihre Anträge abzulehnen etc., nur weil sie sich zu anderen Themen in einer Weise geäußert haben, die nach meinem Modell moralisch kritisierbar ist, wenn nicht zu erwarten ist, dass diese Thesen im aktuellen Kontext eine inhaltliche Rolle spielen.

Aber lässt sich moralische Kritik, die nach meinem Modell funktioniert, nicht durch den bekannten Hinweis kritisieren, dass das “Moralisieren” junge Wissenschaftler:innen davon abhalte, kontroverse Themen zu behandeln? Müssen Nachwuchswissenschaftler:innen meinem Argument zufolge nicht moralische Kritik fürchten, wenn sie zu Thesen wie (1) und anderen arbeiten wollen?

Meine Position sagt dies: Oft geht mit höherer Brisanz eines Themas höherer epistemischer Rechtfertigungsbedarf einher. Wer (1) prüft, prüft eine These, die wegen der stakes Schwarzer Menschen von ähnlicher Tragweite ist wie Forschung zur Sicherheit von Impfstoffen. Dass solche epistemisch anspruchsvollen Themen in frühen Karrierephasen eine riskante Wahl sind, oder zumindest besonderer Erwägung und Beratung bedürfen, sollte uns letztlich nicht problematisch vorkommen.