Epilepsie ist mit einer Prävalenz von ca. 0,7 % eine häufige Erkrankung. In einer aktuellen, Register-basierten Studie in Dänemark beispielsweise wurde aktuell eine Prävalenz von 0,67 % gefunden (0,69 % unter Männern und 0,65 % unter Frauen) [1, 2].

Unter Zugrundelegung behinderungsadjustierter Lebensjahre (DALYs) trägt innerhalb der EU-Staaten + Vereinigtes Königreich die Epilepsie 25 % zur gesamten Belastung durch neurologische Erkrankungen bei, nur übertroffen vom Schlaganfall mit 35 % und gefolgt von Migräne mit 20 % [3]. Epilepsie ist keine homogene Erkrankung. Durch die Beschreibung der klinischen Manifestationen durch neue Diagnoseinstrumente hat sich eine zunehmende Zahl von Einzelkrankheiten und Syndromen herausgebildet, von denen einige zu den seltenen Erkrankungen – dies sind Erkrankungen, von denen jeweils maximal eine von 2000 Personen betroffen ist – zählen [4].

Einige der seltenen Erkrankungen bei Epilepsie sind mit Intelligenzminderung assoziiert, und die Prävalenz der Epilepsie unter Menschen mit Intelligenzminderung ist hoch. Augenfällig wird die Assoziation von Epilepsie und Intelligenzminderung bei entwicklungsbezogenen und epileptischen Enzephalopathien.

Den komplexen Zusammenhängen zwischen Epilepsie, seltenen Erkrankungen, Intelligenzminderung und Enzephalopathien war ein Symposium am 23.03.2023 am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum (Klinik Lengg) gewidmet. Dieser Übersichtsartikel beruht auf den Vorträgen, die bei diesem Symposium gehalten wurden. Damit ist zwar einerseits ein umfassender Überblick über das Thema gewährleistet, andererseits aber haben die einzelnen Referentinnen und Referenten individuelle Gewichtungen vorgenommen. Wir möchten sowohl neue und innovative, als auch etablierte Konzepte aus dem Themengebiet der seltenen Erkrankungen vorstellen und diskutieren. Der Artikel verfolgt mehrere Ziele: Zum einen soll der Inhalt der einzelnen Vorträge mit fortbildendem Charakter referiert werden. Dies betrifft insbesondere die Handreichungen zu (genetischer) Diagnostik und zur Therapie. Anhand typischer Beispiele seltener Erkrankungen wie Dravet-Syndrom, Lennox-Gastaut oder tuberöser Sklerose werden dann die klinischen Herausforderungen, therapeutische Optionen und Implikationen auf die Lebensqualität für Menschen mit Epilepsie und Behinderung diskutiert. Zum anderen soll herausgearbeitet werden, welche unterschiedlichen und ggf. komplementären Implikationen die Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten (entwicklungsbedingte und epileptische Enzephalopathien, seltene Erkrankungen, Intelligenzminderung) haben können.

Seltene Erkrankungen

Eine Erkrankung wird als selten eingestuft, wenn weniger als 1 von 2000 Menschen betroffen sind [5]. Viele Epilepsien treten in Zusammenhang mit seltenen Erkrankungen gehäuft auf. Daraus ergibt sich das scheinbare Paradox, dass die Epilepsie insgesamt eine häufige Erkrankung ist, zahlreiche Erscheinungsformen für sich genommen aber selten. Die Liste seltener Erkrankungen findet sich im Portal für Seltene Krankheiten und Orphan Drugs (https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php; zugegriffen am 23.06.2023). Eine Erhebung unter Zentren des Europäischen Referenz-Netzwerks EpiCare zur Prävalenz von tuberöse Sklerose-Komplex (TSC), Dravet-Syndrom, Autoimmunenzephalitis und progressiven Myoklonusepilepsien beruhte auf Schätzungen der entsprechenden Zentren [6]. Die Publikation einer retrospektiven Analyse der Prävalenz seltener Erkrankungen „traditioneller“ europäischer Epilepsiezentren ist noch in Vorbereitung.

Die präliminäre Analyse zeigt, dass in den Epilepsiezentren, die an der Studie teilgenommen haben, häufig und regelmäßig Menschen mit seltenen Epilepsien diagnostiziert und behandelt werden [7]. Dies ermöglicht den Behandlungsteams, auch bei seltenen Erkrankungen interdisziplinäre krankheitsspezifische Therapieansätze zu entwickeln. Diese individualisierte Herangehensweise ist in vielen Fällen notwendig, weil für seltene Erkrankungen meist keine spezifischen klinischen Studien existieren. Darüber hinaus werden Menschen mit seltenen Erkrankungen oder z. B. Patienten mit Epilepsie und Intelligenzminderung implizit oder explizit von vielen Medikamentenstudien ausgeschlossen. Somit basiert häufig auch die anfallssuppressive Therapie bei Epilepsie im Rahmen einer seltenen Erkrankung mehr auf Erfahrungswerten als auf evidenzbasierten Entscheidungen. In diesem Zusammenhang sind auch die internationale Vernetzung und der Wissensaustausch innerhalb der spezialisierten Zentren für Patienten mit seltenen Epilepsien von großer Bedeutung. Sowohl medizinisches Fachpersonal als auch betroffene Patienten und Familien können im Austausch von den Erfahrungen der anderen Zentren profitieren.

Epilepsie und Intelligenzminderung

Die Begriffe „Intelligenzminderung“, „entwicklungsbezogene und epileptische Enzephalopathien (DEE)“ sowie „seltene Erkrankungen“ haben eine bedeutsame Schnittmenge, denn ein Krankheitsbild bei einem Menschen mit Epilepsie kann mit einer Intelligenzminderung einhergehen, aber andererseits auch als DEE oder als seltene Erkrankung eingeordnet werden. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sich einem Patienten mit einer spezifischen Krankheit oder einem Syndrom nähert, wird man einen der 3 genannten Begriffe zur Kategorisierung wählen und möglicherweise keinen der beiden anderen. Die Wahl des kategorisierenden Begriffes hat andererseits Implikationen in Bezug auf die Herangehensweise an den Patienten.

Im Folgenden wird es um den Begriff der Intelligenzminderung im Kontext einer Epilepsie gehen. Begrifflichkeiten wandeln sich im Laufe der Zeit. Früher übliche Bezeichnungen wie Debilität oder Imbezillität oder auch mentale Retardierung sind verlassen worden, weil sie als stigmatisierend empfunden wurden. Statt des Begriffs der Intelligenzminderung hätte hier auch der der intellektuellen und entwicklungsbezogenen Behinderung („intellectual and developmental disability“ [IDD]) verwendet werden können. Der vorliegende Artikel verwendet die Ausdrucksweise „Intelligenzminderung“, unter anderem weil sie der Terminus der aktuell gültigen ICD-10 ist [8]. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird auch der Ausdruck „geistige Behinderung“ verwendet, u. a. innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie als Bezeichnung einer Kommission (Kommission Epilepsie und Geistige Behinderung; www.dgfe.info) sowie bei anderen Fachgesellschaften (Deutsche Gesellschaft für Seelische Gesundheit bei Menschen mit Geistiger Behinderung e. V. [DGSGB]) oder Deutsche Gesellschaft für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung e. V. (DGMGB). Gemäß ICD-10 handelt es sich bei der Intelligenzminderung um einen „Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen“. Beispielhaft werden Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten genannt [8]. Zur Definition der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), 10. Revision, s. Tab. 1.

Tab. 1 Grade der Intelligenzminderung nach ICD-10. Nach [8]

Die Gruppe von Menschen mit Epilepsie und Intelligenzminderung verdient aus verschiedenen Gründen besondere Aufmerksamkeit. Einer ist die hohe Prävalenz von Epilepsie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Über alle Schweregrade hinweg haben ca. 22 % der Menschen mit Intelligenzminderung auch eine Epilepsie [9]. Aufgegliedert nach Schweregraden liegt die Prävalenz von Epilepsie bei Menschen mit einer leichten Intelligenzminderung unterhalb von 10 %, bei solchen mit schwerster Intelligenzminderung (IQ < 20) oberhalb von 50 % [10]. Ebenso steigt die Epilepsieprävalenz mit der Komplexität der Behinderung [11].

Allgemein erreichen ca. 65 % der Menschen mit Epilepsie Anfallsfreiheit mittels anfallssuppressiver Medikation [12]. Bei einer Querschnittsuntersuchung im Wohnheimbereich des Epilepsie-Zentrums Bethel wurden unter Menschen mit Lern- oder Intelligenzminderung deutlich niedrigere Anfallsfreiheitsraten festgestellt. Zum Untersuchungszeitpunkt waren 44 % der Menschen mit Lernbehinderung anfallsfrei, 39 % mit leichter, 33 % mit mittelgradiger, 32 % mit schwerer und 22 % mit schwerster Intelligenzminderung [13]. Bereits bei Menschen mit Epilepsie ohne Intelligenzminderung wird eine erhöhte Mortalität festgestellt. Gemäß einer Übersichtsstudie [14] beträgt die standardisierte Mortalitätsratio (SMR) bei Epilepsie je nach Studie zwischen 1,6 und 3. Kommt zur Epilepsie jedoch eine Intelligenzminderung oder eine Zerebralparese (so die Diktion der zitierten Studie) hinzu, werden SMR von 7 bis 50 registriert. Häufige Todesursachen in dieser Gruppe sind Pneumonien und anfallsbezogene Todesfälle, z. B. der plötzliche unerwartete Tod bei Epilepsie (SUDEP). Generell sind in Kohorten von Menschen, die im SUDEP verstorben sind, Menschen mit Intelligenzminderung überrepräsentiert. Häufige Komorbiditäten bei Menschen mit Intelligenzminderung finden sich in Tab. 2. Neben somatischen sind psychische Begleiterkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung häufig. Hier sind insbesondere Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom zu nennen, aber auch Verhaltensstörungen (herausforderndes Verhalten), Ängste und depressive Symptome [15].

Tab. 2 Häufige Komorbiditäten bei Menschen mit Intelligenzminderung [15, 16, 39]

Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Epilepsie und Intelligenzminderung sind ambulant und stationär durch kommunikative Herausforderungen gekennzeichnet. So ist die verbale Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen oft eingeschränkt, ebenso die Kooperationsfähigkeit bei Untersuchungen, z. B. der Magnetresonanztomographie des Schädels. Begleitkrankheiten können sich atypisch präsentieren. Auch die Erkennung von Störwirkungen der anfallssupprimierenden Medikamente (ASM) kann durch Schwierigkeiten bei der Kommunikation sowie durch begleitende Entwicklung neurologischer Komorbiditäten erschwert sein. Ein Krankenhausaufenthalt, geplant oder per notfallmäßiger Einweisung [16], kann belastend für die Patienten sein, und die Institutionen sind häufig nicht hinreichend auf die Bedürfnisse der Patientengruppe eingerichtet. Dies betrifft die Barrierefreiheit im Hinblick auf körperliche Beeinträchtigungen, aber auch eine unzureichende Vorbereitung auf die oben angesprochenen kommunikativen Bedürfnisse. Hier kann die Verwendung Leichter Sprache oder Einfacher Sprache helfen sowie die Berücksichtigung der „6-Sekunden-Regel.“ Hierbei handelt es sich um die Faustregel, dass man, nachdem man eine Frage an den Patienten gerichtet hat, mindestens 6 s auf eine Antwort warten soll, ehe man die nächste Frage stellt oder die Ausgangsfrage umformuliert. Eine ruhige Atmosphäre kann die medizinisch erforderlichen Untersuchungen erleichtern, ggf. unterstützt durch eine sedierende Medikation oder eine Narkose, z. B. für das MRT. Elektive Krankenhausaufenthalte sollen gut vorbereitet werden. So sollten im Vorfeld mögliche Verhaltensbesonderheiten oder Rituale abgefragt werden. Auch sollte überlegt werden, ob ein Einzelzimmer erforderlich ist. Physikalische Barrierefreiheit sollte in Krankenhäusern der Standard sein, ist aber nach Aussagen von Patienten oder Angehörigen in Praxen noch längst nicht überall gewährleistet. Kommunikative Barrierefreiheit, z. B. unter Einsatz von Informationsschriften in Leichter Sprache oder der Verwendung von Piktogrammen, muss sich überwiegend noch etablieren.

Bei Patienten mit Epilepsie generell, aber bei hinzukommender Intelligenzminderung besonders, erschöpft sich die Behandlung nicht im Einsatz von ASM und epilepsiechirurgischen Verfahren. Psychosoziale Unterstützung, der Einsatz von Anfallswarngeräten und nichtmedikamentöse Therapien wie Ergotherapie und Physiotherapie spielen ebenso eine Rolle wie die Versorgung mit Hilfsmitteln (Anfallsschutz-Helm) und die sozial-rehabilitative Beratung z. B. im Hinblick auf versorgungsrechtliche Fragen oder Verselbstständigung. An einigen traditionellen Epilepsiezentren existieren spezielle Stationen oder Versorgungsangebote für Menschen mit Epilepsie und Intelligenzminderung. Die Wirksamkeit einer entsprechenden stationären Behandlung auf der Station für Epilepsie und Mehrfacherkrankungen des Epilepsie-Zentrums Bethel konnte in einer offenen, prospektiven, kontrollierten Studie im Prä‑/Post-Design nachgewiesen werden [17]. Therapiebestandteile sind auf der entsprechenden Station wie sicher auch in anderen vergleichbaren Zentren Medizin und Pflege, Einsatz einer spezialisierten Pflegekraft (Epilepsy Nurse), Ergotherapie, Physio- und Sporttherapie, neuropsychologische Untersuchung, psychologische und sozialtherapeutische Beratung.

Entwicklungsbedingte und epileptische Enzephalopathien (DEE)

Hierbei handelt es sich um eine Entität, die in der Klassifikation der Epilepsien von 2017 neu geschaffen wurde [18]. Eine entwicklungsbedingte Enzephalopathie (DE) bezeichnet eine Entwicklungsstörung oder Intelligenzminderung aufgrund einer nichtprogressiven Hirnerkrankung, die ohne eine schwere Epilepsie einhergeht. Eine epileptische Enzephalopathie (EE) geht mit einer Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen sowie des Verhaltens einher, die durch die Epilepsie und/oder die epileptische Aktivität verursacht ist (Beispiel: West-Syndrom). Bei der DEE haben sowohl die Entwicklungsstörung als auch die epileptische Aktivität negative Auswirkungen auf die kognitiven Funktionen und auf das Verhalten. Hier kann das Dravet-Syndrom als Beispiel genannt werden. Eine DEE ist oft mit einer genetischen Ätiologie verbunden [19]. Die genetische Abklärung bei der Epilepsiebehandlung gehört inzwischen zum Standard, da genetische Diagnosen die Wahl der Behandlung, die Prognose, die Unterstützung durch Organisationen und zunehmend auch den Zugang zu klinischen Studien erheblich beeinflussen. Hierauf werden wir im Abschnitt zur genetischen Diagnostik weiter unten detailliert eingehen. Bei einer DE ist durch eine medikamentöse Therapie keine Verbesserung der kognitiven Funktionen zu erwarten, aber positive Auswirkungen auf die Lebensqualität sind möglich. Bei der EE kann es durch eine reduzierte Anfallsfrequenz zu einer signifikanten Verbesserung von Kognition und Verhalten kommen. Es ist u. U. die Wiederaufnahme der normalen Entwicklung bei frühzeitiger, wirksamer Therapie möglich. Bei der DEE kann ebenfalls eine frühzeitige, wirksame Therapie zu einer Wiederaufnahme der vor Epilepsiebeginn beobachteten Entwicklung führen, es ist jedoch keine normale Entwicklung zu erwarten [19]. Daten sprechen für eine frühzeitige Intervention mit Einleitung der für das Epilepsiesyndrom korrekt ausgewählten ASM oder einer alternativen Therapie, z. B. ketogene Ernährungstherapien oder Epilepsiechirurgie [20,21,22,23]. DEE mit Beginn in der Kindheit und Adoleszenz können sowohl mit fokalen als auch mit generalisierten Anfällen manifestieren und beinhalten unter anderem das Dravet-Syndrom, das Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS), die (entwicklungsbedingte) epileptische Enzephalopathie mit Spike-Wave-Aktivierung im Schlaf ([D]EE-SWAS), das infantile Spasmensyndrom [24], die Epilepsie mit myoklonischen atonischen Anfällen (EMAtS), das Rasmussen-Syndrom sowie das febrile infektionsbedingte Epilepsiesyndrom (FIRES) [25].

Die Schlüsselbausteine der Behandlung von Patienten mit DEE sind die frühe und korrekte Diagnose von Epilepsiesyndrom und Ätiologie, das rasche Einleiten der bestwirksamen Therapie, das Optimieren der Therapie anhand der genauen Ätiologie (hierzu wird auf die Ausführungen zur Genetik unten verwiesen) sowie die Behandlung von über die Anfälle hinausgehenden Symptomen. Dazu gehört die Behandlung von Komorbiditäten, die in ihrer Bedeutung für individuelle Patientinnen und Patienten durchaus im Verlauf der Erkrankung die Lebensqualität stärker beeinträchtigen können als die epileptischen Anfälle. Ein systemischer Blick auf die Familie ist im Kindes- wie auch im Erwachsenenalter erforderlich. Unter 77 Säuglingen mit infantilen Spasmen (UKISS-Studie) war eine längere Latenz bis zur Therapie der infantilen Spasmen mit einem schlechteren Entwicklungsstand, gemessen im Alter von 4 Jahren, verbunden, und zwar unabhängig vom Alter beim Auftreten der Spasmen, von der Ätiologie und von der Art der Therapie (Steroid vs. Vigabatrin) [26]. Die Auswahl der Medikation muss adäquat für das Syndrom sein. Bei 164 Kindern mit einer SCN1A-assoziierten Epilepsie war eine längere Dauer einer kontraindizierten medikamentösen Behandlung in den ersten 5 Jahren der Erkrankung mit niedrigeren IQ- bzw. DQ-Werten assoziiert [27].

Genetische Diagnostik bei Menschen mit seltenen Epilepsien

Bereits mehrfach wurde in diesem Artikel auf die Bedeutung der genetischen Diagnostik hingewiesen. Die Entwicklung molekulargenetischer Methoden sowie die Entdeckung von Mutationen in Genen, die mit Epilepsie, insbesondere mit Epilepsie und Intelligenzminderung oder seltenen Erkrankungen, verknüpft sein können, hat in den letzten Jahren dramatische Fortschritte gemacht. Eine genauere Syndromzuordnung hat sowohl für therapeutische Entscheidungen und die prognostische Einschätzung einen großen Nutzen. Gleichzeitig ist selbstverständlich auch das Recht auf Nicht-Wissen der Betroffenen zu respektieren. Eine Entscheidung über eine genetische Diagnostik sollte in partizipativer Entscheidungsfindung herbeigeführt werden.

Wenn eine Exomsequenzierung bzw. Trio-Exomsequenzierung eingesetzt wird, ist bei Epilepsie mit einem ursachenklärenden Ergebnis in bis zu 45 % der Fälle zu rechnen, bei Genomsequenzierung bzw. Trio-Genomsequenzierung bis 48 %. Die Ergebnisse für Epilepsie-basierte Genpanel und für chromosomales Microarray sind deutlich niedriger (5–25 %) [28]. Der diagnostische Gewinn bei Sanger-Sequenzierung und bei Chromosomenanalyse ist jeweils sehr niedrig. Wenn Epilepsie mit einer Intelligenzminderung vergesellschaftet ist, liegt die „diagnostische Ausbeute“ bei Erwachsenen und älteren Patientinnen und Patienten bei 47 % [29]. Bei den früh beginnenden Epilepsien und bei Epilepsien mit Intelligenzminderung, Autismus oder anderen neuropsychiatrischen Komorbiditäten ist die Exomsequenzierung die Methode der Wahl. Bei progressiven Myoklonusepilepsien ist die Untersuchung auf Repeats erforderlich.

Im Alltag können sich nach Abschluss einer molekulargenetischen Diagnostik folgende Szenarien ergeben: Die Ätiologie kann geklärt sein, sie kann ungeklärt sein, oder es wurden Varianten unklarer Signifikanz (VUS) gefunden. Hier ist wichtig zu wissen, dass sich bei ca. 50 % der Patienten mit genetisch bestätigter Diagnose klinische Konsequenzen ergeben können [29]. Bei ca. 20 % ergeben sich präzisionsmedizinische Behandlungsansätze [30]. Folgende Fallstricke sind zu bedenken: Dass eine Ätiologie nicht geklärt werden konnte, heißt nicht, dass eine genetische Ursache ausgeschlossen wäre. Vielmehr konnte sie mit der zum Zeitpunkt des Tests verwendeten oder verfügbaren Methode nicht bestimmt werden. Nach angemessener Zeit (abhängig von klinischer Notwendigkeit, technologischem Fortschritt und der Verfügbarkeit neuer Erkenntnisse) sollte eine Reevaluation erfolgen inklusive der Abklärung möglicher weiterer Testmethoden. Wenn eine VUS gefunden wird, kann dies unterschiedliche Ursachen haben: Vielleicht gab es zu wenige klinische Informationen, vielleicht gibt es in der Literatur zu wenige Erkenntnisse über das betreffende Gen, oder die Einordnung als VUS wurde anhand diagnostischer Kriterien getroffen. In diesem Fall ist mit dem genetischen Labor zu klären, ob eine retrospektive Phänotypisierung, also eine genauere Charakterisierung des Krankheitsbildes beim betreffenden Patienten, sinnvoll ist oder eine Segregationsanalyse (also die Untersuchung beider Elternteile im Hinblick auf das betreffende Gen, eine RNA-Analyse oder eine funktionelle Analyse). Eine genetische Diagnostik sollte im Rahmen der prächirurgischen Abklärung erwogen werden, v. a. bei nichtläsionellen Epilepsien [31,32,33].

Klinische Implikation der genetischen Abklärung

Die Diagnosefindung mittels molekulargenetischer Untersuchung kann vielfältigen Nutzen bringen. Betroffene oder ihre Angehörigen können Kontakt zu Selbsthilfegruppen finden und sich untereinander austauschen. Medizinische Fachkreise haben die äußerst hilfreiche Möglichkeit der Vernetzung über das „Network for Therapy in Rare Epilepsies“ (NETRE) [34]. Hierüber ist ein Austausch über neue Erkenntnisse, aktuelle Studien, aber auch Diskussion mit Expertinnen und Experten zu einzelnen Genen möglich. Die Prognose einer Erkrankung kann anhand von Vergleichsfällen aus der Literatur eingegrenzt werden, wobei gerade bei sehr seltenen Syndromen noch zu wenig darüber bekannt ist. Letztlich soll die Diagnose die Grundlage für präzisionsmedizinische Ansätze, die unten noch weiter ausgeführt werden, bieten. Selbst wenn keine krankheitsspezifische Therapie angeboten werden kann, kann die genetische Abklärung Hinweise für die weiteren therapeutischen Optionen bieten.

Welche Patienten testen?

Es bleiben die Fragen, wer eine genetische Untersuchung erhalten soll, welcher Art diese sein soll und was der Nutzen für die Patientinnen und Patienten ist. Empfehlungen der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) und der Kommission Epilepsie und Genetik der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) wurden aktuell veröffentlicht [28]. Eine genetische Diagnostik ist insbesondere sinnvoll bei früh, d. h. vor Vollendung des 5. Lebensjahres, beginnenden Epilepsien, bei Epilepsien mit zusätzlich Intelligenzminderung, Autismus und/oder anderen neuropsychiatrischen Komorbiditäten, bei progressiven Myoklonusepilepsien, bei familiären, nichtläsionellen fokalen Epilepsien, bei familiären generalisierten Epilepsiesyndromen und im Rahmen der prächirurgischen Abklärung nichtläsioneller Epilepsien.

Therapie seltener Epilepsien

Nach dem bisher Gesagten ergibt sich die Fragestellung, inwieweit es Besonderheiten der Therapie bei Menschen mit Epilepsie und Intelligenzminderung, mit DEEs bzw. seltenen Erkrankungen gibt, insbesondere auch unter Berücksichtigung genetischer Befunde. Nach der idealen Vorstellung von Präzisionsmedizin definieren genetische Befunde therapierelevante Subgruppen von Patienten, möglicherweise kann ein definierter genetischer Mechanismus im Kontext von individuellen Faktoren korrigiert werden. Anfälle und Komorbiditäten werden effektiv behandelt. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen einem anhand von genetischen Befunden optimierten Einsatz verfügbarer ASM einerseits, der Umnutzung verfügbarer Pharmaka andererseits und dem Einsatz noch in Forschung und Entwicklung befindlicher Antisense-Oligonukleotide bzw. Gentherapie. Ergänzend soll auf die Möglichkeit eines Substratersatzes (z. B. ketogene Diät bei GLUT1-Defekt) und auf antiproliferative Therapien (z. B. beim tuberöse Sklerosekomplex [TSC]) hingewiesen werden. Der optimierte Einsatz verfügbarer ASM spielt bei Ionenkanalerkrankungen (assoziiert mit Mutationen in den Genen SCN1A, SCN2A, KCNQ2, KCNA2 und weiteren) eine herausragende Rolle. Beispielhaft soll hier die SCN1A-Mutation genannt werden, welche das Dravet-Syndrom verursacht. Das Gen SCN1A codiert für den Natriumkanal NaV1.1, der in inhibitorischen (Inter‑)Neuronen des Gehirns lokalisiert ist. Eine Mutation in diesem Gen bewirkt meist einen Funktionsverlust des Kanals. Entsprechend führen Natriumkanal-blockierende ASM zu einer Verschlechterung der SCN1A-bedingten Epilepsie und sollten unbedingt gemieden werden. Bei SCN2A-bedingen frühinfantilen Epilepsien mit einem Funktionsgewinn des betroffenen Natriumkanals Nav1.2 dagegen sind Natriumkanal-blockierende ASM effektiv und können bei frühem Einsatz schwere Epilepsieverläufe häufig verhindern [35].

Im Folgenden soll auf 3 Krankheitsbilder eingegangen werden, die aus mehreren Gründen häufig auf Interesse stoßen: Sie treten im epileptologischen Alltag vergleichsweise häufig auf, und es gibt speziell für diese Krankheitsbilder zugelassene Medikamente.

Dravet-Syndrom

Bei der häufigsten monogenetischen Epilepsie, dem Dravet-Syndrom, wird in 80 % der Fälle eine SCN1A-Mutation festgestellt. Klinisch ist das Syndrom definiert durch das Auftreten des ersten epileptischen Anfalls im Alter von 3 bis 19 Monaten (hemiklonisch oder generalisiert tonisch-klonisch, oft Fieber-assoziiert, prolongiert). Später, d. h. zwischen dem Lebensalter von 9 Monaten und 5 Jahren, treten weitere Anfallstypen hinzu, z. B. myoklonische oder fokale Anfälle, Absencen oder tonische Anfälle. Die Entwicklung verläuft im 1. Lebensjahr normal, dann verlangsamt. Hyperkinese, Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwierigkeiten werden im 2. Lebensjahr festgestellt [36]. Während der gesamten Lebenszeit besteht ein Risiko für Status epilepticus und bei 97 % der Patienten eine Empfindlichkeit auf Erhöhungen der Körpertemperatur (Fieber-induzierte Anfälle). Nach aktueller Empfehlung [37] ist Valproat das Mittel der ersten Wahl (die üblichen Einschränkungen bei Frauen im gebärfähigem Alter sind zu beachten), Medikamente der 2. Wahl sind Fenfluramin, Stiripentol oder Clobazam, dann folgt Cannabidiol, und als Mittel der 4. Wahl gelten Topiramat und die ketogene Diät. Wie oben ausgeführt, sind Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin (Ausnahmen wurden beschrieben) und Phenytoin zu vermeiden.

Lennox-Gastaut-Syndrom

Das Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS) ist weniger scharf definiert. Der Anfallsbeginn liegt vor dem 18. Lebensjahr, in der Regel allerdings schon im Alter von 3 bis 5 Jahren. Es besteht eine kognitive Entwicklungsstörung, wobei die Entwicklung anfangs normal sein kann und im Verlauf dann eine Stagnation bzw. Regression auftritt. Multiple Anfallstypen können auftreten, insbesondere tonische Anfälle, atypische Absencen, tonische und atonische Sturzanfälle, tonisch-klonische Anfälle und non-konvulsive Status epileptici. Das EEG zeigt generalisierte Slow-Spike-Wave-Komplexe und paroxysmale rasche Aktivität (10–20 Hz) im Non-REM-Schlaf. Die Ätiologie des LGS kann strukturell oder genetisch sein [25]. Das LGS ist durch zahlreiche Komorbiditäten gekennzeichnet, u. a. orthopädische Erkrankungen, Intelligenzminderung, psychische und Verhaltensstörungen, Schlafstörungen, Essstörungen, gastrointestinale und motorische Probleme. Die Lebensqualität und die Möglichkeit zur Ausübung der Aktivitäten des täglichen Lebens sind oft stark eingeschränkt. Therapeutisch sollten in aktiven Phasen im Kindesalter Steroide bzw. ACTH eingesetzt werden. Valproat ist das einzige als Mittel der 1. Wahl zugelassene Medikament (wiederum unter Berücksichtigung der bekannten Einschränkungen). Die medikamentöse Therapie sollte sich auf Medikamente mit spezifischer Indikation stützen, z. B. Rufinamid, Felbamat oder Cannabidiol. Vagusnervstimulation und Kallosotomie sind palliative epilepsiechirurgische Therapieoptionen.

Tuberöse Sklerose

Der tuberöse Sklerosekomplex (TSC) ist eine autosomal-dominant vererbte Multisystemerkrankung mit einer Prävalenz von ca. 1:5000 bis 1:8000. Ursächlich sind Mutationen in den Genen TSC1 und TSC2. Eine krankheitsspezifische Therapie mit mTOR-Inhibitoren (z. B. Everolimus) ist möglich. Cannabidiol ist ebenfalls bei diesem Krankheitsbild zugelassen. Zu beachten sind insbesondere wiederum zahlreiche somatische (insbesondere Tumoren) und neuropsychiatrische Komorbiditäten.

Bezüglich der Umnutzung verfügbarer Pharmaka ist auf die KCNA2-Enzephalopathie mit dem Einsatz von Fampridin bei Gain-of-Function (d. h. einem Funktionsgewinn des betroffenen Kanals) hinzuweisen [38]. Bezüglich der oben schon erwähnten Antisense-Oligonukleotide und Gentherapien gibt es erste klinische Studien, deren Ergebnisse mit Spannung erwartet werden. Es bestehen dabei einige offene Fragen: Wann ist das richtige Zeitfenster für die Intervention? Ist ein Einfluss weiterer (modifizierender) Gene zu berücksichtigen? Wie sind exakt die Krankheitsmechanismen? Wie sind die natürlichen Krankheits- und Entwicklungsverläufe? Diese sind gerade bei sehr seltenen Erkrankungen nicht immer völlig geklärt.

Schlussfolgerung

Obwohl die Epilepsie eine häufige Erkrankung ist, können Ursachen und Komorbiditäten sehr vielfältig sein. Viele Menschen mit Epilepsie leiden somit an einer seltenen Erkrankung. Die Begriffe der Intelligenzminderung, der DEE und der seltenen Erkrankungen haben alle ihre individuelle Berechtigung. DEEs sowie definierte seltene Erkrankungen zeigen bestimmte Symptome und Komorbiditäten, sind durch ihre Ätiologie und Pathophysiologie, Verlauf und Prognose gekennzeichnet. Idealerweise ist, auch wenn dies heutzutage erst in Ansätzen anzunehmen ist, eine spezifische Behandlung im Sinne der Präzisionsmedizin möglich. Spezifische Krankheitsbilder können zum Selbstverständnis von Patienten beitragen, z. B. über die Organisation in Selbsthilfegruppen. Der Begriff der Intelligenzminderung im Kontext mit Epilepsie zeichnet sich nicht durch präzise umrissene Symptome und Komorbiditäten aus, wohl aber durch allgemein häufige Komorbiditäten, wie sie in Tab. 2 genannt sind. Mit Intelligenzminderung assoziierte Epilepsien zeigen keine einheitliche Ätiologie und Pathophysiologie, auch keinen einheitlichen Verlauf; zur Prognose sind immerhin die o. a. pauschalen Einschätzungen möglich. Allerdings sind Diagnostik und Behandlung von Menschen mit Epilepsie und Intelligenzminderung durch spezielle kommunikative und institutionelle Anforderungen gekennzeichnet. Die große Gruppe von mit Intelligenzminderung assoziierten Epilepsien kann ein Gegenstand der Versorgungsforschung sein. Beide Herangehensweisen, also eine „makroskopische“, aggregierende Herangehensweise an das Feld von Epilepsie und Intelligenzminderung, gleichzeitig aber auch eine „mikroskopische“, detaillierte Betrachtung bestimmter DEEs, häufig mit bekannter genetischer Ätiologie, oder seltener Erkrankungen, haben ihre Berechtigung. Bestimmte Modellerkrankungen wie das Dravet-Syndrom, LGS oder TSC bedingen einen differenzierten Einsatz der ASM. Erfreulicherweise gibt es über die molekulargenetische Diagnostik nun auch innerhalb der Epileptologie erste Ansätze einer Präzisionsmedizin.

Fazit für die Praxis

  • Die Begriffe „Intelligenzminderung“, „entwicklungsbedingte und epileptische Enzephalopathien“ und „seltene Erkrankungen“ haben je nach Kontext und Blickwinkel ihre je eigene Berechtigung.

  • Die Prävalenz von Epilepsie unter Menschen mit Intelligenzminderung ist hoch.

  • Seltene Erkrankungen sind in hoch spezialisierten Epilepsiezentren häufig.

  • Molekulargenetische Diagnostik ermöglicht eine genaue Zuordnung von Syndromen und erste Ansätze von Präzisionsmedizin.