Lernziele

Nach Lektüre dieses Beitrags …

  • können Sie die wichtigsten genetischen Ursachen der verminderten Fertilität benennen.

  • können Sie auffällige Spermiogrammbefunde möglichen genetischen Störungen zuordnen.

  • verstehen Sie die Bedeutung von balancierten Chromosomenumbauten für spätere Schwangerschaften.

  • wissen Sie, wie die gestörte Ovarialfunktion im Zusammenhang mit dem Fragiles-X-Syndrom zu beurteilen ist.

  • können Sie genetisch-diagnostische Algorithmen bei ungewollter Kinderlosigkeit nach klinischen Vorbefunden ableiten.

Einleitung

Die Begleitung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch vor einer Behandlung mit Techniken der assistierten Reproduktion („assisted reproductive techniques“ [ART]) ist eine multidisziplinäre diagnostische und therapeutische Herausforderung. Im Februar 2019 erschien die erste deutschsprachige interdisziplinäre S2k-Leitlinie für die „Diagnostik und Therapie vor einer assistierten reproduktionsmedizinischen Behandlung (ART)“ [1]. Die Leitlinienerstellung erfolgte im Rahmen des Leitlinienprogramms der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) in Kooperation mit der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) und der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (OEGGG).

Genetische Ursachen, das heißt Chromosomenveränderungen und monogene Störungen, sind für etwa 10–20 % der männlichen und 5–10 % der weiblichen In- oder Subfertilität verantwortlich. Ziel der Leitlinie ist es, den behandelnden Ärzten evidenzbasierte Empfehlungen zur genetischen Diagnostik vor ART anzubieten.

Im genetischen Abschnitt der Leitlinie haben sich die Verfasser auf genetische Grunderkrankungen konzentriert, aus denen sich

  • Konsequenzen für den Erfolg einer ART-Behandlung,

  • spezifische ärztliche Vorsorge- bzw. Behandlungsmaßnahmen oder

  • Risiken in Bezug auf schwere Erkrankungen, Entwicklungsstörungen oder Behinderungen bei künftigen Kindern

ergeben.

Genetische Ursachen von verminderter Fertilität

Im Vorfeld einer ART-Behandlung sollte beispielsweise im Rahmen einer genetischen Beratung eine genaue Eigen- und Familienanamnese mit Blick auf mögliche erbliche Belastungen erhoben werden. Insbesondere soll eine mögliche familiäre Häufung von fraglichen genetischen Entwicklungsstörungen, Infertilität oder hormonellen Störungen berücksichtigt werden. Bei Hinweisen auf eine genetische Grunderkrankung in der Familie ist es in der Regel notwendig, bei einer betroffenen Person eine zytogenetische oder molekulargenetische Abklärung vorzunehmen, bevor Risikopersonen getestet werden können.

Kurzkasuistik

Bei einem ratsuchenden Paar (sie 26, er 28 Jahre alt) bestand seit etwa 3 Jahren ein unerfüllter Kinderwunsch. Gemeinsam hatten die beiden eine gesunde 7‑jährige Tochter. Bei den Ratsuchenden waren keine schwerwiegenden Erkrankungen bekannt. Die Menarche war bei der Frau mit etwa 11–12 Jahren eingetreten, die Zyklusanamnese war unregelmäßig und wies auf eine Ovarialinsuffizienz hin. Im Labor zeigten sich Hinweise auf einen hypergonadotropen Hypogonadismus (follikelstimulierendes Hormon 46,4 U/l; 17β-Östradiol 15 ng/l) und eine verminderte ovarielle Reserve (Anti-Müller-Hormon <0,12 µg/l). Bei Erhebung der Familienanamnese fiel auf, dass die Schwester der Ratsuchenden mit 29 Jahren in die vorzeitigen Wechseljahre eingetreten war.

Expertenkonsens

Bei dem Kinderwunschpaar soll eine genaue Eigen- und Familienanamnese mit Blick auf mögliche genetische Belastungen erhoben werden. Vor einer genetischen Diagnostik soll eine genetische Beratung durch hierfür qualifizierte Ärzte gemäß nationalen Regelungen erfolgen.

Konsensusstärke +++

Genetische Ursachen für Fertilitätsstörungen beim Mann

Bei bekannter nichtgenetischer Ursache der Spermatogenesestörung (Zustand nach Chemotherapie, Einnahme von anabolen Steroiden) ist gemäß Leitlinie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) keine genetische Testung erforderlich [2]. Für die weitere genetische Diagnostik ist es bedeutsam, eine nichtobstruktive Azoospermie bzw. Oligozoospermie von einer obstruktiven Azoospermie zu unterscheiden.

Nichtobstruktive Spermatogenesestörungen

Mikrodeletionen des Y-Chromosoms

Mikrodeletionen des Y‑Chromosoms stellen die zweihäufigste genetische Ursache einer Spermatogenesestörung dar und haben Bedeutung für die Erfolgschancen einer Hodenbiopsie. Y‑Mikrodeletionen werden in Deutschland bzw. Österreich bei weniger als 2 % der infertilen Männer nachgewiesen. Azoospermiefaktor-c(AZFc)-Deletionen machen mit etwa 80 % die große Mehrzahl aus und sind mit einem variablen Phänotyp assoziiert. Bei Männern mit Deletionen von AZFa (0,5–4 %), AZFb (1–5 %) sowie AZFbc (1–3 %) kommt es meist zum Sertoli-cell-only-Syndrom. Die Wahrscheinlichkeit, dass in diesen Fällen bei Hodenbiopsien Spermien gewonnen werden können, wird als außerordentlich gering eingeschätzt [3]. In den letzten Jahren wurde jedoch über erfolgreiche Fertilisierungen von AZFb-Deletions-Trägern berichtet [4], sodass zum jetzigen Zeitpunkt noch keine abschließende Beurteilung zu den Erfolgschancen einer ART-Behandlung bei den unterschiedlichen Deletionen möglich ist.

Bei AZFc-Deletionen reichen die Hodenbefunde von einem Meiosearrest bis zu einer Oligozoospermie aufgrund einer gemischten Atrophie der Spermatogenese [5]. Häufig findet eine residuale Spermatogenese statt, verbunden mit einer durchschnittlichen Erfolgsrate von etwa 50 % für eine Spermiengewinnung mittels testikulärer Spermatozoenextraktion (TESE; [3]). Im AZFc-Bereich finden sich unterschiedliche kleinere Deletionen (unter anderem sogenannte gr/gr-Deletionen), deren diagnostische Relevanz nach jetzigem Wissensstand aber eher von untergeordneter Bedeutung sind, da sie für das weitere Vorgehen bezüglich der ART keine Konsequenzen haben.

Expertenkonsens

Bei nichtobstruktiver Azoospermie soll und bei schwerer Oligozoospermie (<5 Mio./ml) sollte nach Ausschluss anderer Ursachen eine Analyse im Hinblick auf AZF-Mikrodeletionen (AZFa, b, c) erfolgen.

Konsensusstärke +++

Chromosomenveränderungen

Neben Geschlechtschromosomenfehlverteilungen können auch balancierte Chromosomenumbauten zu einer Spermatogenesestörung führen. Dementsprechend ist der Anteil der Männer, die – abgesehen von einer Fertilitätsstörung – gesund sind und eine Chromosomenveränderung tragen, erhöht.

Die Wahrscheinlichkeit von Chromosomenaberrationen bei Männern in Kinderwunschbehandlung steigt bei abnehmender Spermienzahl an (Tab. 1), ist aber bereits bei unauffälligem Spermiogramm gegenüber der Normalbevölkerung erhöht. Dies wird als Subfertilitätsfaktor gedeutet.

Tab. 1 Anteil auffälliger Chromosomenanalysen bei Männern mit unterschiedlichen Spermiogrammbefunden. (Nach [6])

In der erwachsenen Allgemeinbevölkerung (Samenspender) wird der Anteil von Chromosomenveränderungen mit 0,3–0,5 % angegeben. Balancierte Chromosomenumbauten sind mit erhöhten Risiken für eine unbalancierte Chromosomenstörung in der Keimbahn verbunden und führen dann zu unterschiedlichen Entwicklungsstörungen bei künftigen Kindern. Die Inzidenz von balancierten Translokationen bzw. Inversionen bei Männern, die eine Behandlung mit intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) erhielten, war in einer großen französischen Studie [7] um den Faktor 4,5 bzw. 3,3 gegenüber Neugeborenen erhöht. In einer niederländischen Studie wird für Männer mit Fertilitätsstörungen die Rate chromosomaler Strukturanomalien mit 0,9 % angegeben; diese würde zu einem erhöhten Risiko von Chromosomenstörungen bei Kindern führen [6].

In einer aktuellen niederländisch-belgischen Multicenterstudie wurden bei 14,4 % der untersuchten Männer mit Azoospermie (n = 1663) chromosomale Aberrationen nachgewiesen [8]. Es zeigte sich bezüglich der Therapierelevanz kein signifikanter Unterschied zwischen hypergonadotropen und normogonadotropen Männern.

Expertenkonsens

Bei nichtobstruktiver Azoospermie oder schwerer Oligozoospermie (<5 Mio./ml) soll nach Ausschluss anderer Ursachen eine Chromosomenanalyse erfolgen.

Konsensusstärke +++

Monogene Spermatogenesestörungen

Da die Ursache nichtobstruktiver Spermatogenesestörungen bei über 80 % der betroffenen Männer bisher nicht bekannt ist, wird intensiv nach neuen Kandidatengenen gesucht. In den letzten Jahren sind seltene monogene Spermatogenesestörungen, die beispielsweise eine bestimmte Spermienmorphologie zur Folge haben, identifiziert worden und können grundsätzlich identifiziert werden, unter anderem über Multigenpanels [9, 10].

Beim Angebot von genetischen Analysen zu monogenen Spermatogenesestörungen ist zu berücksichtigen, dass nachgewiesene Störungen bislang keinen Einfluss auf das Verfahren oder den Ausgang der ART haben. Die Beurteilung kann sich in der Zukunft ändern, wenn sich in Abhängigkeit von der genetischen Ursache gezielte Behandlungen ergeben. Weitere wissenschaftliche Studien sind erforderlich, um die Bedeutung einzelner genetischer Mutationen für die Spermatogenese besser einordnen zu können.

Expertenkonsens

Bei Verdacht auf eine seltene monogene Spermatogenesestörung kann eine genetische Analyse angeboten werden.

Konsensusstärke +++

Obstruktive Azoospermie und zystische Fibrose

Grundlage für diese Diagnose ist eine intakte Spermatogenese im Hodengewebe, die gute Erfolgschancen für eine ART im Rahmen einer TESE/ICSI bedeutet. Etwa 2 % der Männer mit einer Azoospermie haben eine Fehlanlage der Derivate des Wolff-Gangs, meist in Form einer kongenitalen bilateralen Aplasie des Vas deferens (CBAVD), seltener durch eine bilaterale Nebenhodenobstruktion.

Bei etwa 80 % der Patienten mit CBAVD wird mindestens eine Cystic-fibrosis-transmembrane-conductance-regulator(CFTR)-Mutation gefunden und als Ursache der CBAVD eine milde Form der zystischen Fibrose (CF) bzw. eine sogenannte CF-assoziierte Erkrankung angenommen [11].

Die CF ist eine der häufigsten autosomal-rezessiv vererbten Stoffwechselerkrankungen und tritt bei etwa einer von 3300 Personen auf. Das klinische Spektrum der Erkrankung, die durch eine erhöhte Viskosität des Sekrets exokriner Drüsen gekennzeichnet ist, reicht von schwer betroffenen Neugeborenen mit Mekoniumileus über Kinder mit Lungen- und Gedeihstörungen bis hin zu praktisch symptomlosen Männern, die nur durch eine Azoospermie auffallen.

Wird bei einem Mann mindestens eine klassische CFTR-Mutation nachgewiesen, besteht die Indikation zur genetischen Testung seiner Partnerin. In der mitteleuropäischen Bevökerung trägt etwa jede 30. Person eine heterozygote CFTR-Mutation. Ist ein Partner von einer CF betroffen und der andere Partner heterozygoter Träger einer CFTR-Mutation, besteht ein Risiko von 50 % für ein Kind mit CF, ohne dass der Schweregrad der Erkrankung vorhergesagt werden könnte. Tragen beide Partner eine CFTR-Mutation, ist es wichtig, die Konsequenzen einer ART im Rahmen einer genetischen Beratung zu besprechen und auf die Möglichkeit einer pränatalen und präimplantativen genetischen Diagnostik hinzuweisen.

CFTR-Mutationen sind nur wirksam, wenn sie beide chromosomalen Allele betreffen. Es gibt bisher keine sichere Evidenz dafür, dass auch heterozygote Anlageträger eine erhöhte Rate an urogenitalen Fehlanlagen oder Fertilitätsstörungen aufweisen. Die den meisten Studien und Empfehlungen zugrunde liegenden Untersuchungsverfahren beschränken sich auf das Screening ausgewählter Mutationen („CFTR-Testkits“) mit einer maximalen Erfassungsrate von 80 bis 95 % für CF-spezifische Mutationen bzw. nur etwa 60 % für Mutationen, die CF-assoziierte Erkrankungen wie die CBAVD verursachen.

Erst mit der Implementierung der massiven parallelen Sequenzierung wurde eine kostengünstige Analyse aller codierenden Abschnitte des CFTR-Gens möglich. Für Patienten mit CBAVD, bei denen nur eine Mutation festgestellt wurde, ist im Nachhinein nicht zu beurteilen, ob eine zweite, nicht erkannte, Mutation vorgelegen hat, die das klinische Bild begründete. Wenngleich bisher nur wenige Studien mit größeren Patientenserien und neueren Sequenzierverfahren veröffentlicht sind, lassen erste Daten doch den Schluss zu, dass bei obstruktiver Azoospermie eine komplette Sequenzierung des CFTR-Gens sinnvoll ist, um pathogene Mutationen, die zu einer klassischen oder atypischen CF führen können (einschließlich der T‑Allele), vollständig zu erfassen. In Anbetracht des CF-Risikos bei künftigen Kindern schafft nur eine vollständige CFTR-Analyse bei Männern mit obstruktiver Azoospermie ausreichende Beratungssicherheit.

Expertenkonsens

Bei Verdacht auf eine obstruktive Azoospermie soll nach Ausschluss anderer Ursachen eine Analyse des CFTR-Gens erfolgen. Diese soll alle relevanten pathogenen Mutationen inklusive des TG-T-Repeats in Intron 8 erfassen; falls damit nur eine heterozygote Mutation gefunden wird, soll eine vollständige Sequenzierung erfolgen.

Konsensusstärke +++

Bei weniger als 5 % der Männer mit obstruktiver Azoospermie bestehen zusätzlich einseitige Nierenfehlanlagen (Nierendysplasie oder Nierenagenesie) im Sinne einer kombinierten Entwicklungsstörung der Derivate des Wolff-Gangs. Aus diesem Grund ist bei Männern mit einer obstruktiven Azoospermie eine Ultraschalluntersuchung des Harntrakts indiziert [2].

Inzwischen ist hinreichend belegt, dass eine obstruktive Azoospermie in Verbindung mit Fehlanlagen der Niere nicht durch CFTR-Mutationen bedingt wird und auf andere genetische oder nichtgenetische Faktoren zurückzuführen ist [11]. Mit dem Gen ADGRG2 wurde 2016 eine X‑chromosomale Ursache einer CBAVD identifiziert [12]. Ersten Studien zufolge weisen etwa 20 % (4 von 26) der Männer mit CBAVD ohne Nierenfehlbildungen und ohne Nachweis einer CFTR-Mutation Loss-of-function-Mutationen in ADGRG2 auf, während bei Männern mit Nierenfehlbildungen (n = 28) keine Mutationen festgestellt wurden [12].

Expertenkonsens

Sofern bei einer obstruktiven Azoospermie die CFTR-Analyse einen unauffälligen Befund erbracht hat, sollte eine Analyse des Gens ADGRG2 erfolgen.

Konsensusstärke +++

Endokrine Störungen

Bei endokrinen Auffälligkeiten kommt der Differenzierung zwischen hypo- und hypergonadotropem Hypogonadismus bezüglich der genetischen Untersuchung eine wichtige Rolle zu.

Klinefelter-Syndrom und hypergonadotroper Hypogonadismus

Eine primäre testikuläre Funktionsstörung findet sich vor allem beim Klinefelter-Syndrom, das mit fast 14 % bei Männern mit Azoospermie die häufigste genetische Ursache der männlichen Infertilität darstellt. Bei 80 % liegt ein Karyotyp 47,XXY vor, bei etwa 20 % bestehen höhergradige Aneuploidien, Mosaike mit 46,XX/47,XXY oder strukturell veränderte X‑Chromosomen [13]. Hierbei handelt es sich in der Regel um Aberrationen, die einer mikroskopischen Chromosomenanalyse zugänglich sind.

Bei über 90 % der Männer mit Klinefelter-Syndrom besteht eine Azoospermie, bei weniger als 10 % der Betroffenen werden einzelne Spermien mit verminderter Motilität und Morphologie gefunden [14]. Mehrheitlich kommt es im Verlauf zu einem hypergonadotropen Hypogonadismus.

Die Behandlung der Infertilität beim Klinefelter-Syndrom hat sich seit den 2000er-Jahren drastisch geändert, nachdem erfolgreiche TESE- und ICSI-Behandlungen trotz Azoospermie durchgeführt wurden. Nach einer Metaanalyse [15] beträgt die kumulative Spermiengewinnungsrate pro TESE-Zyklus bei Männern mit 47,XXY-Karyotyp etwa 44 %. Die kumulative Lebendgeburtenrate pro ICSI-Zyklus wurde in der genannten Metaanalyse mit 43 % angegeben. Es zeigte sich kein Zusammenhang zwischen Alter, Hodenvolumen, den Werten von Testosteron oder luteinisierendem Hormon der Patienten und der Erfolgsrate der ART-Behandlung [15].

Expertenkonsens

Bei Männern mit hypergonadotropem Hypogonadismus soll nach Ausschluss anderer Ursachen eine Chromosomenanalyse durchgeführt werden.

Konsensusstärke +++

Hypogonadotroper Hypogonadismus

Ein kongenitaler hypogonadotroper Hypogonadismus (CHH) ist mit etwa 1 zu 4000–10.000 Männern ungefähr 3‑ bis 5‑fach häufiger als bei Frauen [16]. Es wird formal der normosmische hypogonadotrope Hypogonadismus vom Kallmann-Syndrom unterschieden, bei dem der Geruchsinn herabgesetzt ist; die Übergänge sind jedoch fließend. Als Ursache kommen zahlreiche Gene in Betracht, die in der Summe etwa 40–50 % der Fälle erklären [17] und von denen das X‑chromosomale Gen KAL1 mit etwa 10 % die wichtigste Rolle spielt.

Die Beurteilung von genetischen Befunden wird durch additive Effekte mehrerer Mutationen erschwert. Bei etwa 20 % der Patienten werden Mutationen in mehreren Genen (oligogene Vererbung) nachgewiesen, das heißt, die Frage des verantwortlichen Erbgangs ist dann keineswegs klar zu beantworten. Zudem gibt es keine genetische Diagnose, die für die ART eine bestimmte Prognose oder ein unterschiedliches Therapieregime ausweist. Bei 50–60 % der Patienten mit normosmischem hypogonadotropem Hypogonadismus werden erfolgreiche Fertilisationen mittels ICSI erzielt, darüber hinaus kommt es bei 10–20 % der Patienten zu einer spontanen Normalisierung der hormonellen Situation [17].

Expertenkonsens

Bei Männern mit einem CHH kann nach Ausschluss exogener Ursachen eine genetische Analyse der CHH-Gene durchgeführt werden

Konsensusstärke +++

Genetische Ursachen für Fertilitätsstörungen bei der Frau

Ovulatorische Dysfunktion

Bei etwa 40 % der Frauen mit Fertilitätsstörung besteht eine Oligo- bzw. Amenorrhö (ovulatorische Dysfunktion). Der entscheidende Faktor – auch für den Erfolg einer ART mit eigenen Oozyten – ist das mütterliche Alter, während primär genetische Ursachen vergleichsweise selten sind. Ab einem Alter von 40 bis 45 Jahren ist die große Mehrzahl der Oozyten aneuploid, sodass sich nur noch ein kleiner Prozentsatz erfolgreich zur Blastozyste entwickelt und implantiert [18, 19].

Endokrine Funktionsstörungen

Bei der Untersuchung der hormonellen Achsen wird insbesondere geprüft, ob ein hypo- oder hypergonadotroper Hypogonadismus oder eine Hyperandrogenämie vorliegt.

Hypergonadotroper Hypogonadismus/Turner-Syndrom

Bei 10–13 % der betroffenen Frauen liegt ein Turner-Syndrom aufgrund einer Gonosomenaberration mit einer 45,X-, oder 47,XXX-Zelllinie oder einem strukturell veränderten X‑Chromosom vor. Bei ovarieller Funktionsstörung ist eine Chromosomenanalyse indiziert, sofern keine anderen Ursachen in Betracht kommen [20]. Weiterbetreuung und Therapie richten sich nach dem genetischen Befund. Bei 45,X/46,XX-Mosaiken besteht eine inverse Korrelation zwischen dem prozentualen Anteil einer 45,X-Zelllinie und der Wahrscheinlichkeit für eine normale Pubertät, spontane Zyklen und Fertilität [21]. Ein geringgradiges Mosaik im Blut mit einer 45,X-Zelllinie unter 30 % scheint die Ovarialfunktion nicht einzuschränken [22].

Bei erwachsenen Frauen mit Turner-Syndrom und Kinderwunsch ist im Falle einer primären Amenorrhö auf der Grundlage eines durchgehenden 45,X-Karyotyps nicht mit der Gewinnung fertilisierbarer Oozyten zu rechnen [23]. Da zu Beginn der Pubertät eine ovarielle Reserve vorhanden sein kann, schließen aktuelle Empfehlungen eine Eizellentnahme und Kryokonservierung bei Mädchen mit Turner-Syndrom ab einem Alter von 12 bis 13 Jahren ein [23, 24]. Bei 45,X/46,XX-Mosaik-Konstellationen und strukturell veränderten X‑Chromosomen richtet sich die ART-Behandlung nach dem klinischen und endokrinologischen Befund. Frauen mit Turner-Syndrom, die eine Eizellspende in Anspruch nehmen, haben eine verminderte Lebendgeburtenrate, eine hohe Abortrate und ein erhöhtes Risiko von Schwangerschaftskomplikationen, die bei der Beratung vor ART angesprochen werden müssen [25].

Die Fruchtbarkeit wird bei Frauen mit Trisomie X (47,XXX) als normal eingestuft, aber es besteht ein erhöhtes Risiko der primären Ovarialinsuffizienz [26]. Ein auffälliger Chromosomenbefund und seine Konsequenzen für die Betroffene und ihre Familienplanung sollten im Rahmen einer genetischen Beratung diskutiert werden.

Expertenkonsens

Bei Frauen mit hypergonadotropem Hypogonadismus soll nach Ausschluss anderer Ursachen eine Chromosomenanalyse durchgeführt werden.

Konsensusstärke +++

Fragiles-X-Syndrom, FMR1-Prämutationen

Prämutationen im Gen FMR1 führen gehäuft zu einer primären oder sekundären Ovarialinsuffizienz und haben bei der Weitergabe an Kinder eine hohe Wahrscheinlichkeit, zu einer Vollmutation zu expandieren. Während nur etwa 1 % der Frauen in der Normalbevölkerung vor dem 40. Lebensjahr keine Zyklen mehr hat, betrifft diese Störung etwa 20–25 % der Frauen mit FMR1-Prämutation. Das Fragiles-X-Syndrom ist die wichtigste Form der geschlechtsgebunden vererbten geistigen Behinderung und tritt mit einer Häufigkeit von etwa 1 zu 4000–5000 in der Bevölkerung auf [27].

Die Ursache des Fragiles-X-Syndroms ist eine Erbgutveränderung (Trinukleotid-Repeat-Vermehrung) in FMR1 auf dem X‑Chromosom. Normalerweise liegen nicht mehr als 44 CGG-Repeats hintereinander vor. Wenn eine Repeat-Zahl von 200 überschritten wird, kommt es zu einer Vollmutation, bei der FMR1 nicht mehr exprimiert wird. In der Folge werden Entwicklung und Funktion des Gehirns gestört. Eine Anzahl zwischen 55 und 200 CGG-Repeats wird als Prämutation bezeichnet. In Abhängigkeit von der Länge der mütterlichen Prämutation expandiert die Repeat-Zahl bei der Weitergabe an ein Kind, bis schließlich eine Vollmutation auftritt. Das veränderte X‑Chromosom wird von Prämutationsträgerinnen an die Hälfte der Kinder vererbt. Eine Repeat-Expansion von einer Prämutation zu einer Vollmutation bei der Weitergabe an ein Kind wird nur bei Frauen beobachtet, während männliche Prämutationsträger in der Regel nur stabile Prämutationen an ihre Töchter vererben.

Etwa 85 % der männlichen Träger und 25–30 % der weiblichen Träger einer FMR1-Vollmutation weisen eine geistige Behinderung auf (Fragiles-X-Syndrom). FMR1-Vollmutationen sind nicht mit einer Ovarialinsuffizienz assoziiert. Kaukasische Frauen mit primärer Ovarialinsuffizienz weisen zu etwa 2 % bei Fällen ohne familiäre Häufung und zu 10–15 % bei familiärer Häufung eine Prämutation in FMR1 auf [28].

Expertenkonsens

Bei primärer oder prämaturer Ovarialinsuffizienz soll nach Ausschluss anderer Ursachen eine genetische Analyse der CGG-Wiederholungen in FMR1 durchgeführt werden.

Konsensusstärke +++

Kasuistik (Fortsetzung)

Die molekulargenetische Analyse der CGG-Trinukleotid-Repeats in FMR1 ergab bei der Ratsuchenden ein Normalallel mit etwa 30 ± 2 Repeats und ein Allel im Prämutationsbereich mit etwa 80 Repeats. Nachfolgend wurde auch bei der Schwester ein vergleichbarer Befund erhoben, die Prämutation stammte vom Vater. Die Ratsuchenden wurden darüber aufgeklärt, dass sich bei 80–90 CGG-Repeats das Risiko einer Vollmutation im Falle der Weitergabe des mutierten X‑Chromosoms auf etwa 70–80 % beläuft. Damit betrug das Risiko eines Fragiles-X-Syndroms bei künftigen Söhnen etwa 30–40 %, bei künftigen Töchtern etwa 10–15 %. Bei der Patientin wurde mit hormoneller Stimulation eine Schwangerschaft erzielt. Die werdenden Eltern entschieden sich für eine Chorionzottenbiopsie. In der kindlichen DNA-Probe zeigte sich ein FMR1-Allel im Prämutationsbereich von etwa 84 Repeats. Damit hatte der ungeborene Sohn der Ratsuchenden kein Risiko für ein Fragiles-X-Syndrom, das heißt, bei der Vererbung von Mutter zu Sohn hatte keine Zunahme der CGG-Repeats stattgefunden. Die Schwangerschaft wurde fortgesetzt.

Hypogonadotroper Hypogonadismus

Ein CHH ist mit einer Häufigkeit von etwa 1 zu 30.000–40.000 Frauen sehr selten. Inzwischen sind 35–40 % der molekularen Ursachen des CHH bekannt und auf Mutationen in mindestens 20 Genen zurückzuführen [29]. Die exogene Zufuhr von Geschlechtshormonen, Gonadotropinen bzw. Gonadotropin-Releasing-Hormon-Analoga stellt bei allen bekannten Störungen die einzige Therapieoption dar.

Expertenkonsens

Bei Frauen mit CHH kann nach Ausschluss exogener Ursachen eine genetische Analyse der CHH-Gene durchgeführt werden.

Konsensusstärke +++

Hyperandrogenämie/adrenogenitales Syndrom

Die wichtigste genetische Grunderkrankung, die zu einer Hyperandrogenämie führt, ist das adrenogenitale Syndrom (AGS). Die häufigste Form ist der 21-Hydroxylase-Mangel bedingt durch autosomal-rezessive Mutationen im Gen CYP21A2. Frauen mit milden CYP21A2-Mutationen oder einer Kombination aus einer klassischen und einer milden Mutation entwickeln kein Vollbild des AGS, sondern unterschiedliche Merkmale des Late-onset-AGS mit Zyklusstörungen und Zeichen einer Hyperandrogenämie. Wird bei einer Frau mit Hyperandrogenämie eine klassische CYP21A2-Mutation nachgewiesen, ist die Indikation zur genetischen Untersuchung des Partners gegeben. Die Heterozygotenrate für das AGS in der Bevölkerung liegt bei 1 zu 65. Sind beide Eltern Träger einer klassischen CYP21A2-Mutation, haben künftige Kinder ein erhöhtes AGS-Risiko. Die pränatale Therapie zur Vermeidung einer Virilisierung bei weiblichen Feten mit einem AGS-Risiko auf Grundlage eines 21-Hydroxylase-Mangels wurde zum Zeitpunkt der Leitlinienerstellung als experimentell eingestuft und sollte deshalb im Einzelfall sorgfältig abgewogen werden [30].

Expertenkonsens

Bei Verdacht auf ein AGS soll eine genetische Diagnostik durchgeführt werden.

Konsensusstärke ++

Balancierte Chromosomenveränderungen bei der Frau

Strukturelle Chromosomenaberrationen stellen auch bei Frauen eine relevante Ursache für einen unerfüllten Kinderwunsch dar, ohne dass sich bei gynäkologischen Untersuchungen Auffälligkeiten ergeben (Abb. 1). In einer französischen Studie zeigten die chromosomal untersuchten Partnerinnen von infertilen Männern einen vergleichbar erhöhten Anteil an balancierten Translokationen (Faktor 4,5) bzw. Inversionen (Faktor 16) wie die untersuchten Männer (n = 3208 Patienten; [7]). Der Prozentsatz an Frauen mit Chromosomenveränderungen korrelierte hierbei invers mit dem pathologischen Spermiogrammbefund des Partners. In einer italienischen Studie wurden balancierte strukturelle Chromosomenveränderungen bei 0,9 % der Männer und 0,5 % der Frauen gefunden; sie waren damit um den Faktor 2–3 gegenüber Neugeborenen erhöht [31]. In einer Übersicht aus den Niederlanden wurden für die weiblichen Partner von ICSI-Paaren Raten chromosomaler Auffälligkeiten zwischen 3,4 und 4,9 % angegeben [6].

Abb. 1
figure 1

Karyogramm und FISH-Analyse bei einer balancierten Translokation. (Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Frau Dr. Birgit Nachbauer, Institut für Humangenetik, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich). a Es zeigen sich strukturelle Auffälligkeiten an jeweils einem Chromosom 2 und 6 bei der Frau. b Die FISH-Analyse weist eine reziproke Translokation zwischen den langen Armen der Chromosomen 2 und 6 mit der Karyotypformel 46,XX,t(2;6)(q?31;q?23) aus. Damit besteht bei der Eizellbildung der Frau ein hohes Risiko einer unbalancierten Translokation. FISH Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung

Expertenkonsens

Nach Ausschluss anderer Ursachen für die Infertilität sollte eine Chromosomenanalyse beider Partner durchgeführt werden.

Konsensusstärke +

Therapieoptionen im Falle eines balancierten Chromosomenumbaus bei einem Partner

Eine ursächliche Therapie von Chromosomenaberrationen ist nicht möglich. Wird bei einem der Partner eine balancierte Chromosomenveränderung nachgewiesen, erhöht sich in Abhängigkeit von den beteiligten Chromosomen das Risiko für Aborte oder für die Geburt eines Kindes mit einer unbalancierten Chromosomenstörung. Das Risiko einer kindlichen Entwicklungsstörung aufgrund einer unbalancierten Chromosomenaberration wird insgesamt als sehr gering eingestuft, je nach Chromosomenbefund kann es aber zu schwerwiegenden Behinderungen kommen, einhergehend mit erheblichen Belastungen für das betroffene Paar [8]. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für das Angebot einer pränatalen Diagnostik in weiteren Schwangerschaften.

Expertenkonsens

Bei Nachweis einer strukturellen Chromosomenveränderung bei einem Partner soll das Paar über die Möglichkeiten einer Polkörper- und Präimplantationsdiagnostik sowie der vorgeburtlichen Diagnostik (invasive und nichtinvasive Pränataldiagnostik) informiert werden.

Konsensusstärke +++

Empfehlungen anderer Fachgesellschaften

Zur Klärung der Chancen einer ART und möglicher genetischer Risiken für Nachkommen werden nach Auffassung der meisten Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen eine Chromosomenanalyse beider Partner und in Abhängigkeit vom andrologischen und gynäkologischen Befund weitere genetische Analysen empfohlen (Tab. 2). Diese Empfehlungen waren Grundlage für die Erstellung der aktuellen Leitlinie mit den hierin zusammengefassten diagnostischen Algorithmen (Abb. 2).

Tab. 2 Vergleich der Empfehlungen verschiedener Fachgesellschaften für die genetische Diagnostik bei Paaren vor ART (nach Jahr der Veröffentlichung sortiert)
Abb. 2
figure 2

Zusammenfassung der Empfehlungen zur genetischen Diagnostik bei Paaren vor ART [1]. ART „Assisted reproductive techniques“ (Techniken der assistierten Reproduktion), AZF Azoospermiefaktor, AGS adrenogenitales Syndrom, CHH kongenitaler hypogonadotroper Hypogonadismus

Fazit für die Praxis

  • Genetische Ursachen sind für 10–20 % der männlichen und 5–10 % der weiblichen Infertilität verantwortlich.

  • Der wichtigste genetische Risikofaktor für den Erfolg einer assistierten Reproduktion ist das mütterliche Alter.

  • Bei 10–15 % der Männer mit nichtobstruktiver Spermiogenesestörung liegen Störungen der Geschlechtschromosomen und balancierte Chromosomenumbauten vor.

  • Mikrodeletionen des Y‑Chromosoms werden bei etwa 2 % der Männer mit Azoospermie nachgewiesen.

  • CFTR-Mutationen führen zur obstruktiven Azoospermie und zystischen Fibrose.

  • Häufigste genetische Ursache des hypergonadotropen Hypogonadismus beim Mann ist das Klinefelter-Syndrom, bei der Frau ist es das Turner-Syndrom.

  • Frauen mit primärer Ovarialinsuffizienz weisen zu etwa 2 % bei Fällen ohne familiäre Häufung und zu 10–15 % bei familiärer Häufung eine Prämutation im FMR1-Gen auf.

  • Beim seltenen kongenitalen hypogonadotropen Hypogonadismus (CHH) sind Mutationen in zahlreichen CHH-Genen ursächlich.

  • Bei ungeklärter Infertilität eines Paars ist eine Chromosomenanalyse sinnvoll, um eine balancierte Chromosomenstörung eines Partners aufzudecken, aus der sich für die pränatale Diagnostik Konsequenzen ergeben.