Was bedeutet „Multi-Kulti“? Assoziationen zum „Multi-Kulti“-Ball oder zu „Multi-Kulti“ als Motto eines Karnevalszugs sind auf einer unfallmedizinischen Tagung nicht angebracht. Ein Blick in den Duden beantwortet die Frage. „Multi-Kulti“ ist der umgangssprachliche Ausdruck für multikulturell, was nichts anderes bedeutet, als „viele Kulturen“ betreffend.

Im vorliegenden Beitrag geht es um die Objektivierung von unfallbedingten und berufskrankheitsbedingten Funktionseinbußen bei Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher Herkunft also. Dabei stellen sich folgende Fragen:

  1. 1.

    Welche Besonderheiten ergeben sich aus den häufig fehlenden Sprachkenntnissen?

  2. 2.

    Wie gelingt die Objektivierung von Unfallfolgen bzw. Krankheiten unter Berücksichtigung eines unterschiedlichen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit und unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die sich aus dem Ausländeraufenthaltsrecht ergeben?

Auf diese Fragen soll im Folgenden eingegangen werden, die nachfolgenden Ausführungen gelten jedoch nicht für die psychiatrische Begutachtung.

Der griechische Maler Apelles, der – versteckt hinter seinen Werken – dem Lob der Betrachter lauschen wollte, hatte das Pech, dass ein Kunstbanause, ein Schuster, des Weges kam und sich über eine handwerklich falsche Darstellung einer Schuhschnalle mokierte. Dadurch provoziert, kam Apelles aus seinem Versteck hervor und korrigierte den Fehler. Als dann der Schuster auch noch die künstlerische Darstellung der Wade beanstandete, wies ihn Apelles mit dem Satz „Schuster bleib bei Deinem Leisten“ in seine Schranken. Dieser Grundsatz gilt auch für den Unfallchirurgen.

Untersuchungssituation

Sprachbarriere

Die erste Barriere, die es zu überwinden gilt, ist die babylonische Sprachverwirrung (Tab. 1).

Tab. 1 Untersuchungssituation/babylonische Sprachverwirrung

Die Untersuchungssituation ist grundsächlich eine Zweiersituation [1, 2, 4]. Anwesend sind also der Gutachter und der Versicherte. Für die Anwesenheit von Angehörigen ist grundsätzlich kein Raum. Denn wollte man diese regelmäßig zur Begutachtung zulassen, müsste es – zur Wiederherstellung des Gleichgewichts – auch dem Gutachter gestattet sein, einen Dritten hinzuzuziehen. Allein schon die ärztliche Schweigepflicht gebietet jedoch einen sorgsamen Umgang mit Gesundheitsdaten. Sind auch nur geringe Deutschkenntnisse vorhanden, empfiehlt es sich, auf der Zweiersituation zu bestehen. Denn die Informationen nur durch den Versicherten sind wesentlich authentischer als die mögliche Verfälschung z. B. durch ein Tendenzverhalten von Familienangehörigen. Manche Hürden können durch die Zeichensprache überwunden werden. Funktionstests, die die Erhebung von Funktionseinbußen erlauben, können vorgeführt werden.

Ist keine Verständigung möglich, ist zwischen Zustands- und Zusammenhangsgutachten zu unterscheiden. Ist lediglich ein Zustandsgutachten zu erstatten, reicht ein Familienangehöriger als Dolmetscher in der Regel aus. Denn auch, wenn Fragen und Antworten vom Familienangehörigen nicht korrekt übersetzt werden: Es stehen in der großen Zahl der Fälle bessere Möglichkeiten zur Verfügung, um Funktionseinbußen zu sichern. Stehen Kausalitätsfragen zur Diskussion, empfiehlt sich die Zuziehung eines Dolmetschers. Zu bedenken ist aber, dass dieser häufig einer vollkommen anderen Bevölkerungsschicht angehört, während der Versicherte z. B. aus dem hintersten Anatolien stammt, aus einem ländlichen Gebiet, in welchem Krankheiten noch von Hodschas, einer Art Heilkundler, mit magisch-spirituellen Mitteln innerhalb der religiös-muslimischen Gemeinschaft behandelt werden. Der Dolmetscher wird – im besten Bemühen um die richtige Übersetzung – seine bereits geläuterte Interpretation der Angaben des Versicherten wiedergeben und wird sie dadurch – unbewusst – verfälschen.

Die Anwesenheit eines Dolmetschers ist von der Zustimmung des Versicherten abhängig. Diese kann aber durch konkludentes Verhalten gegeben werden. Wenn also Übersetzungsleistungen eines Dolmetschers in Anspruch genommen werden, kann davon ausgegangen werden, dass dessen Anwesenheit zugestimmt wird.

Bestellen und bezahlen muss den Dolmetscher der Auftraggeber.

Kulturelle Besonderheiten

Arbeitsmigranten, so werden Ausländer genannt, die in Deutschland arbeiten, entstammen den unterschiedlichsten Herkunftsländern. So unterschiedlich wie ihre Herkunft ist auch ihre Mentalität. Es bedarf eines besonderen Einfühlungsvermögens, auf Neudeutsch Empathie, ein Wort, das aus dem Griechischen kommt und nichts anderes heißt als die Fähigkeit, sich in einen Anderen hineinzuversetzen, um diese Mentalität zu erfassen und sich darauf einzustellen. Unter der Überschrift „Multi-Kulti-Begutachtung“ kann man die Arbeitsmigranten nicht „über einen Kamm scheren“. Folgende Anforderungen an die Untersuchungssituation sind zu erfüllen:

  • Kenntnis der Grundlagen des Aufenthaltsrechts von Arbeitsmigranten verschiedener Nationalitäten in der Bundesrepublik Deutschland. Dies ist erforderlich, um die Auswirkungen von Funktionseinbußen auf die Lebenssituation des Versicherten und bestimmte Tendenzverhalten besser verstehen zu können.

  • Einplanung einer längeren Begutachtungsdauer, um durch Sprachbarrieren bedingte Missverständnisse in Ruhe auflösen und auf die unterschiedliche Wertung von Funktionsverlusten in den einzelnen Kulturkreisen besser eingehen, um letztlich also besser zuhören zu können.

Objektivierung von Unfallfolgen

Jede Begutachtung beginnt mit der sehr sorgfältigen Sicherung des Schadensbilds, der unfallbedingt verbliebenen Funktionseinbußen [3]. Das Schadensbild ist die sicherste, weil objektive und reproduzierbare Information. Die strukturellen Veränderungen informieren über das Ausmaß der Funktionseinbußen und – in aller Regel – auch über den Hergang. Medizinisch-naturwissenschaftliche Tatsachenfeststellungen und Kausalitätsüberlegungen beginnen deshalb ausnahmslos mit der Analyse des Schadensbilds. Die vorrangige Bedeutung der strukturellen Veränderungen für die Einschätzung der MdE und für Kausalitätsüberlegungen macht keinen Unterschied hinsichtlich der Mentalität und dem Herkunftsland des Versicherten.

Der Schaden als Grundlage finanzieller Entschädigung bedarf – völlig unabhängig vom Kulturkreis, aus dem der Versicherte kommt – des Vollbeweises. Der Gesundheitsschaden als Grundlage der MdE darf also keinem vernünftigen Zweifel unterliegen. Dieser Beweisanforderung hat sich die Bewertung der Befunde anzupassen. Diese haben folgende Rangordnung:

  • Objektiv,

  • semiobjektiv bzw. -subjektiv,

  • subjektiv.

Objektiv sind alle Befunde, die jederzeit reproduzierbar sind und deren Erhebung nicht der Mitarbeit des Versicherten bedarf. Diese so genannten harten Daten haben ihrerseits wiederum eine Rangordnung, weil sie von unterschiedlicher Wertigkeit sind. Vorrangige Informationsquelle sind die objektiven, für die Funktion spezifischen Befunde. Das sind z. B. der Muskelmantel, die Beschwielung im Seitenvergleich sowie der Kalksalzgehalt im seitenvergleichenden Röntgenbild. Die objektiven funktionsspezifischen Befunde sind die oberste Richtschnur, an der sich alle anderen Befunde messen lassen müssen.

Objektiv Befunde ergeben auch alle anderen bildgebenden Verfahren und technischen Untersuchungen, die aber nicht ausreichend sicher mit Funktionseinbußen korrelieren. Die so genannten harten Daten sind also entsprechend ihrer Aussagekraft zu hinterfragen. Die Befunde insgesamt sind auf ihre Stimmigkeit zu prüfen.

Selbst bei den so genannten harten, d. h. objektiven Befunden können sich die Mentalität, die Herkunft und das Aufenthaltsrecht eines Versicherten auswirken. Dabei sollen Funktionseinbußen, die häufig psychogen überlagert sind, wie der Verlust der Zeugungsfähigkeit, außer Betracht bleiben. Abgestellt werden darf z. B. auf den Verlust eines Beins. Er wird in unserem Kulturkreis weitestgehend medizinisch-naturwissenschaftlich verarbeitet und eingeschätzt. In einem anderen Kulturkreis, in dem körperliche Arbeitskraft und Wehrfähigkeit eine ganz andere Rolle spielen, kann diese Unfallfolge vernichtend wirken. Dennoch bemisst sich die MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nach den MdE-Tabellenwerten.

Semiobjektiv oder -subjektiv sind alle Befunde, deren Erhebung der Mitarbeit des Versicherten bedürfen. Unter diese Gruppe fallen alle Bewegungsmaße, aber auch alle haltungsabhängigen Befunde, z. B. die im Rahmen des Beschleunigungsmechanismus viel zitierte Steilstellung der Halswirbelsäule. Diese mitwirkungsbedürftigen Befunde sind den so genannten harten Daten nachgeordnet. Sie sind nur indirekt einer Objektivierung zugänglich. Eine seitengleich kräftige Muskulatur des Schultergürtels passt nicht zu einer einseitig vorgeführten Armvorwärts- und -seitwärtshebung nur bis 60°. Diese Überlegungen gelten v. a. für die – belastungsintensiven – unteren Gliedmaßen, wobei sich geringe Umfangdifferenzen physiologisch aus der Händigkeit und dem Standbein erklären.

Zur Dokumentation der objektiven sowie der semiobjektiven Befunde ist die Fotografie ein geeignetes Mittel (Abb. 1, Abb. 2). Auf sie sollte zurückgegriffen werden, wenn die subjektiven Klagen nicht mit den Befunden konform gehen oder wenn es schwierig ist, diese in geeignete Worte zu fassen.

Abb. 1
figure 1

Fotodokumentation (Deformierung nach handgelenknahem Speichenbruch links)

Abb. 2
figure 2

Fotodokumentation (Beschwielung)

Rolle des Schmerzes

Ein rein subjektiver Befund ist v. a. der Schmerz. In diesem Zusammenhang in Gutachten zu lesende Schlagworte wie das „mediterrane Schmerzsyndrom“ sind bei weitem zu pauschal. Derartige Schlagworte diskreditieren den Versicherten und signalisieren die Unfähigkeit des Gutachters.

Die Definition des Schmerzes der Internationalen Gesellschaft für das Studium des Schmerzes (IASP, International Association for the Study of Pain) lautet:

„Der Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit den Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“.

Der Schmerz kann also strukturell (somatisch) bedingt sein, er kann aber auch nur als strukturell bedingt erlebt werden, ohne dass dies für das subjektive Schmerzerlebnis einen Unterschied macht. Der „nur“ erlebte chronische Schmerz („Schmerzsyndrom“, „Schmerzkrankheit“) im zeitlichen Nacheinander nach einem Unfall ist das große Problem in der Therapie und der Kausalitätsbegutachtung.

In der Diagnose und Therapie ist der Schmerz (Tab. 2) ein Principium cognoscendi, ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel. Das ist der Schwerpunkt seiner Rolle. Klinisch und bildtechnisch wird die Diagnose dort gesucht, wo es weh tut; der Schmerz selbst ist keine Diagnose.

Tab. 2 Rolle des Schmerzes in Therapie und Begutachtung

Der Schmerz ist in der Begutachtung aber kein Principium verificendi, kein Mittel zur Sicherung eines Gesundheitsschadens, zu dessen Beweis also. Für die Begutachtung hat er weder eine Leitfunktion noch eine Signalwirkung. Man kann zwar von einem morphologischen Substrat auf Schmerzen schließen, aber nicht umgekehrt. Dazu ist das Symptom „Schmerz“ zu unspezifisch. Wirft man einen Stein ins Wasser, erzeugt dies Wellen. Dass dem so ist, entspricht gesicherter Erfahrung, ebenso wie es gesicherter Erfahrung entspricht, dass eine frische Verletzung Schmerzen verursacht. Will man aber von Wellen, d. h. von Schmerzen, auf einen Steinwurf, z. B. auf die Lockerung eines künstlichen Gelenkersatzes, schließen, ist das nicht möglich. Denn das Symptom, der Schmerz, ist für seine Ursache unspezifisch.

Begutachtung steht immer vor dem Hintergrund finanzieller Interessen. Dies setzt aber voraus, dass das morphologische Substrat der geklagten Schmerzen, die strukturelle Veränderung, von der ausgehend auf Schmerzen rückgeschlossen werden kann, gesichert wird. Um das Beispiel vom Steinwurf nochmals aufzugreifen: Es müssen der Steinwurf und nicht die Wellen gesichert werden.

Signalisieren die objektiven Befunde eine regelhafte Belastbarkeit, kann ein dennoch geklagter Schmerz nicht berücksichtigt werden. Denn Schmerzen führen immer zu einer Minderbelastbarkeit, weil die schmerzende Struktur geschont wird – dies ist unabhängig von der „Multi-Kulti“-Herkunft des Versicherten.

Weisen dagegen strukturelle Veränderungen auf eine unfallchirurgisch nicht zu erklärende Schonung/Funktionseinbuße hin, ist eine neurologische und ggf. psychiatrische Begutachtung zu veranlassen.