Geschätzte Leserinnen und Leser,

„Gemeinsam Klug Entscheiden“ ist das Leitthema des Ihnen nun vorliegenden Heftes. Diese Initiative war ursprünglich von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) ins Leben gerufen worden und Sie haben sicher im Deutschen Ärzteblatt Artikel hierzu gelesen. In dieser Ausgabe der Gefässchirurgie geht es um kluge Entscheidungen zu gefäßmedizinischen Themen und Prof. Schmitz-Rixen wird Sie in seiner Einführung darauf einstimmen.

Auf der von der DGIM betreuten Webseite heißt es: „Klug entscheiden soll eine konkrete Hilfe bei der Indikationsstellung zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sein.“ [14]. Dies lohnt einen Blick über den Tellerrand unserer täglichen, gefäßmedizinischen Praxis hinaus. Vor mehr als einem Jahr, am 5. Januar 2020, hatte die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) bereits die ersten Corona-Ausbruchsnachrichten veröffentlicht, die sich mit der rasanten Verbreitung eines neuen SARS-Coronavirus (SARS-CoV-2) in Wuhan, China beschäftigte. Bis zur Einführung weitreichender Maßnahmen zur Eindämmung einer pandemischen Verbreitung sind in Deutschland etwa drei weitere Monate vergangen. Seitdem ist dieses neue Virus zentrales Thema in der Fach- und Laienpresse, aber auch in privaten und interkollegialen Gesprächen. Die Corona-Pandemie beschäftigt uns alle. Wir gurgeln, clustern oder diskutieren über die Haltbarkeit von Masken mit und ohne CE-Siegel, die nach einigen Tagen beunruhigend reizend auf die Atemwege wirken. Manch einer beobachtet aus dem Homeoffice, dass die ehemals chirurgische Priorität hinter die Deutungshoheit von Fachdisziplinen zurückgefallen ist, die zuletzt 1995 im Blockbuster „Outbreak“ so im Rampenlicht standen. Die sonst so zahlreichen Kongresse wurden entweder verschoben, dann doch abgesagt oder als virtuelle bzw. Hybridveranstaltungen durchgeführt. Fast hätte man vergessen, dass uns vorher die Datenschutzgrundverordnung, die Paclitaxel-Debatte und eine neue Medizinprodukteverordnung beschäftigt haben.

Neben dem allgemeinen Zynismus stellt sich aber auch die Frage, welche direkten und indirekten Auswirkungen die Pandemie auf die interdisziplinäre Gefäßmedizin in Deutschland hatte und in Zukunft haben wird. Die Antwort darauf erscheint unerwartet vielschichtig und teilweise auch widersprüchlich.

Zunächst: Die anekdotischen Berichte über sinkende Vorstellungen von Patienten/-innen mit kardiovaskulären Notfällen wurden durch Routinedatenauswertungen der Krankenversicherungen bestätigt [1,2,3].

Die sinkende Vorstellung von Notfallpatienten/-innen hat sich bestätigt

In einer retrospektiven Auswertung von 115.720 deutschlandweiten Routinedatensätzen der BARMER konnten sinkende Krankenhausfallzahlen bei Patienten/-innen mit Schlaganfall (−9 %), transienter ischämischer Attacke (−15 %) und akuter Extremitätenischämie (−12 %) beobachtet werden, während die vergleichsweise geringe Anzahl an 743 eingeschlossenen Aortenrupturen nicht für statistisch valide Vergleiche ausreichte (Abb. 1; [1]). In einer umfassenden Primärdatenauswertung von akuten und elektiven Aortenbehandlungen in 40 internationalen Zentren zeigte sich allerdings kein Unterschied bei den akuten Aortensyndromen, während nur die Anzahl an elektiven Behandlungen deutlich zurückging [4]. Bestätigt wurde diese Einschätzung auch durch eine multizentrische Befragung, die das Vascular and Endovascular Research Network (VERN) während der ersten Welle der Pandemie durchgeführt hatte. Allerdings muss festgehalten werden, dass an dieser internationalen Umfrage größtenteils Einrichtungen aus Großbritannien teilgenommen haben, während viele Länder nur mit einzelnen Zentren repräsentiert waren. Inwiefern dabei nationale Effekte erfasst werden konnten, bleibt unklar [5].

Ob die beschriebenen Veränderungen bzw. sinkenden Fallzahlen also auf das Inanspruchnahmeverhalten der Patienten/-innen oder auf eine Verschiebung zu ambulanten und präklinischen Verläufen (externe Validität) zurückzuführen ist, kann nicht sicher beurteilt werden. Dies gilt allerdings, wie so oft in der gegenwärtigen Pandemie, für viele Fragestellungen: Wir kennen nur selten sowohl Zähler als auch Nenner, um robuste Schlussfolgerungen zu generieren.

Abb. 1
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Entwicklung der Krankenhausfallzahl pro 10.000 Versicherte (X-Achse) und der Krankenhaussterblichkeit (Y-Achse) während der Pandemie. Jedes Kästchen repräsentiert einen Monat. (ALI Akute Extremitätenischämie, NSTEMI Nicht-ST-Hebungsinfarkt)

Interessant ist, dass Deutschland während der ersten Welle der Pandemie anders betroffen war als viele unserer europäischen Kollegen/-innen [6, 7]. Bis auf regionale Überlastungsanzeigen kam es in der ersten Welle der Pandemie in Deutschland nicht zu einem flächendeckenden Zusammenbruch der Versorgungskette. Ein möglicher Grund für die beobachteten Unterschiede zwischen den Gesundheitssystemen lässt sich bereits mit einem Vergleich der Anzahl von Krankenhaus- und Intensivbetten erahnen. Dies mag auch eine Erklärung für die paradoxerweise sinkenden Notfallbehandlungen der akuten Extremitätenischämie sein, obwohl aus anderen Ländern auf dem Boden kleinerer Beobachtungsstudien oder Fallserien eher ansteigende Behandlungszahlen berichtet wurden.

In einer erweiterten Auswertung von Routinedaten mit mehr als 315.000 Patienten/-innen konnte einem Trend der ersten Analyse nachgegangen werden. Eine während der Pandemiemonate gegenüber den Vorjahren höhere Krankenhaussterblichkeit ließ sich bei der Behandlung akuter Schlaganfälle bestätigen. Darüber hinaus konnte eine nachgewiesene Infektion mit dem SARS-CoV-2-Erreger bei Patienten/-innen mit akuten Schlaganfällen und akuten Extremitätenischämien mit einer erhöhten Krankenhaussterblichkeit assoziiert werden [8]. Die Richtung dieser Assoziation, also ob die Ischämie oder Infektion zuerst auftraten, bleibt jedoch ungeklärt.

Vor dem Hintergrund der bisher identifizierten Risikofaktoren für einen besonders schweren Verlauf von COVID-19 erscheint es allerdings naheliegend, dass insbesondere die Gefäßchirurgie in die Prävention und Behandlung dieser Zielpopulation vermehrt einbezogen wird. Neben männlichem Geschlecht zählen hohes Alter, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, Leber- und Nierenerkrankungen, COPD, Krebserkrankungen, Adipositas und Rauchen zu den Prädiktoren für einen schweren Verlauf [9, 10]. Damit gehören Patienten/-innen mit peripheren Gefäßerkrankungen und hohem Risiko für akute Extremitätenischämien zweifelsohne zur zentralen Risikogruppe [11, 12].

Patienten/-innen mit peripheren Gefäßerkrankungen gehören zur zentralen Risikogruppe

Das Risiko für Krankenhausbehandlungen auf dem Boden akuter Atemwegserkrankungen und von Influenza war unter PAVK-Patienten/-innen vierfach gegenüber der Gesamtbevölkerung erhöht. Vor dem Hintergrund des Komorbiditätsprofils und des deutlich erhöhten Risikos erscheint es besonders verwunderlich, dass die Grippeimpfrate mit weniger als 40 % noch deutlich hinter den Empfehlungen der Europäischen Union und internationaler Fachgesellschaften zurückblieb [12, 13].

Wie auch schon bei dem Thema der unzureichenden Statinverordnungen, der hohen Rate an aktiven Rauchern und dem insgesamt verbesserungswürdigen „best medical treatment“ gilt in Zeiten dieser globalen Krise umso mehr, dass wir uns um diejenigen kümmern müssen, die besonders anfällig sind. Bei der nationalen Debatte über Impfpriorisierungen sind Patienten/-innen mit einer PAVK und kardiovaskuläre Patienten/-innen insgesamt ein wichtiges Ziel für Aufklärungs- und Impfkampagnen.

Sie sehen, „Klug entscheiden“ sollte auch in einem anderen Gesamtkontext betrachtet werden. Neben den Leitthemenarbeiten finden Sie in der vorliegenden Ausgabe eine Originalie zur Verklebung insuffizienter Stammvenen (J. Fuchs), eine Übersicht zu Komplikationen nach perkutanen Interventionen (A. Heller), einen Artikel aus dem Netzwerk Grundlagenforschung zum Thema Scherstress (A. Ibrahim), einen Fallbericht zur Behandlung einer Lymphleckage (A. Ring) und einen CME-Beitrag, der sich mit der Antibiotikagabe in der Gefäßchirurgie auseinandersetzt (C. Lanckohr). Also auch wieder ein sehr praxisorientiertes Heft, dass Ihnen im Alltag sicher wertvolle Ratschläge geben kann.

Herzlichst, Ihre

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PD Dr. Christian-Alexander Behrendt

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Prof. Dr. Axel Larena-Avellaneda