Zusammenfassung
Das vermehrte Auftreten von Methanolvergiftungen während der COVID-19-Pandemie durch mit Methanol verunreinigte Desinfektionsmittel wird durch mehrere Berichte in der Literatur belegt. Zum einen kann der Konsum von mit Methanol verunreinigten Desinfektionsmitteln oder alkoholischen Getränken zur akuten Intoxikation führen. Zum anderen wurde eine chronische Intoxikation durch Inhalation nach Reinigung der Gesichtsmaske mit einem mit Methanol versetzten Mittel berichtet. Bei unklaren neurologischen Ausfällen mit Nachweis einer metabolischen Azidose mit Anionenlücke muss an die Methanolintoxikation gedacht werden. Essenziell ist ein schneller Therapiebeginn bereits im Verdachtsfall, um das Auftreten toxischer Metabolite zu unterbinden. Die Therapieoptionen umfassen 4‑Methylpyrazol, Ethanol, Magenspülung, Folsäure und Natriumbikarbonat. In schweren Fällen wird eine Hämodialyse durchgeführt.
Abstract
An increasing number of cases of methanol poisoning have been reported in the wake of the COVID-19 (coronavirus disease 2019) pandemic. On the one hand, consumption of methanol-contaminated disinfectants or alcoholic beverages are a major cause of acute intoxication. The excessive cleansing of facial masks with methanol-containing substances was shown to be causal for chronic intoxication. Thus, methanol intoxication needs to be suspected in any case of unclear neurological disturbances and detection of severe anion gap metabolic acidosis. Treatment options for methanol poisoning include 4‑methylpyrazol, ethanol, gastric lavage, folic acid and sodium bicarbonate, respectively; hemodialysis is an option for severe cases.
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Einleitung
Methanol (auch Methylalkohol) ist ein hochgradig giftiger Alkohol, der nicht am Geschmack, Geruch oder an der Konsistenz von Ethanol unterschieden werden kann. Die perorale Einnahme dieser farblosen, entflammbaren und leicht flüchtigen Flüssigkeit mit alkoholischem Geruch ist in jeglicher Konzentration gefährlich. Bei Menschen ist Methanol zunächst ähnlich berauschend wie Ethanol.
Erste Vergiftungserscheinungen können bereits nach einer Stunde auftreten, im Schnitt nach 24 h. Hierbei kommt es zu Übelkeit, Schwindel und Erbrechen. Weitere Manifestationen beinhalten die Folgen einer metabolischen Azidose, Bradykardie und Hypotension. Später kommen neurologische Ausfälle in Form von Sehstörungen oder Bewusstlosigkeit hinzu. Intrakranielle Hämorrhagien (Prädilektion in den Basalganglien) und Nekrosen in verschiedenen Hirnregionen (Putamen, pontines Tegmentum und Zerebellum) zählen zu weiteren Komplikationen. Es können sich hiervon auch parkinsonoide Symptomatiken (Rigor, Tremor, Hypomimie und Hypophonie) entwickeln [1,2,3,4,5].
Erste Vergiftungserscheinungen können bereits nach einer Stunde auftreten
Bei Methanol handelt sich um eine der weltweit am meisten produzierten Chemikalien. Die Substanz kann aber auch bei unsachgemäßer Herstellung von Spirituosen entstehen. Wiederholt wurden Fälle berichtet, in denen Methanol gezielt zugesetzt wurde, um alkoholhaltige Getränke zu strecken. Ein Pansch-Skandal in Tschechien im Jahre 2012, bei dem hochprozentige Spirituosen mit Methanol gestreckt wurden, hat mindestens 25 Menschenleben gefordert. Zuletzt wurden zwei hinsichtlich des Intoxikationsweges (Inhalation) [5] bzw. der zugrundeliegenden Flüssigkeit (Desinfektionsmittel) [6] ungewöhnliche Fälle einer Methanolvergiftung im Rahmen der COVID-19-Pandemie („coronavirus disease“ 2019) in der Literatur berichtet. In diesem Artikel fassen wir detailliert die Hintergründe dieser beiden exemplarischen Fälle zusammen. Darüber hinaus häufen sich Berichte über Personen, die Methanol im Glauben an einen antiviralen Effekt bzw. aufgrund von Coronaphobie eingenommen haben [4, 5]. Wir diskutieren das klinische Spektrum, die erforderliche Diagnostik und die bestmögliche klinische Versorgung dieser Kollateralschäden durch COVID 19.
Fallbericht 1 [6]
Ein 27-jähriger Mann wurde im Juni 2020 mit Bauchschmerzen, Erbrechen, Verschwommensehen und Vigilanzminderung in der Notaufnahme eines Krankenhauses im Nordosten der USA vorstellig. Bei zugrundeliegender Alkoholabhängigkeit hatte der Patient innerhalb von zwei Tagen Händedesinfektionsmittel (jeweils 221 ml) mit 70 % Ethanolgehalt zu sich genommen. In der Notaufnahme wurde er komatös, hatte mehrere epileptische Anfälle und musste nach Herzstillstand reanimiert werden. Es wurde eine schwere metabolische Azidose (pH 6,5) mit Elektrolytverschiebungen (Hyperkaliämie, Hyperchlorämie) festgestellt. Der Ethanolspiegel wie auch das Toxikologie-Screening waren unauffällig. Es wurde allerdings ein erhöhter Methanol-Serum-Spiegel nachgewiesen (240 mg/ml) und eine Behandlung mit Fomepizol und Bicarbonat durchgeführt. Zusätzlich erfolgte eine kontinuierliche Hämofiltration und Hypothermiebehandlung nach Reanimation. Bei schwerer zerebraler Hypoxie verstarb der Patient 9 Tage nach seiner Aufnahme. Ursprünglich konnte die Quelle des Methanols nicht festgestellt werden. Retrospektiv wurde jedoch ein kausaler Zusammenhang mit der oralen Einnahme des Desinfektionsmittels hergestellt, da es einen Monat später von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) eine Sicherheitswarnung wegen gehäufter Methanolintoxikationen in Verbindung mit diesem Händedesinfektionsmittel gab.
Fallbericht 2 [5]
Eine 56-jährige Frau wurde mit rasch fortschreitenden kognitiven Defiziten in einem nordspanischen Krankenhaus vorstellig. Dem Sohn war in den 4 Wochen zuvor eine zunehmende Einschränkung in den täglichen Aktivitäten aufgefallen, darüber hinaus Sprachverarmung, Gleichgültigkeit, Schlaflosigkeit, Verschwommensehen und Verlangsamung. Drei Monate zuvor litt die Patientin an Halsschmerzen und Husten verbunden mit einer zunehmenden Angst, an einer Infektion durch SARS-CoV‑2 zu erkranken.
In der körperlichen Untersuchung fanden sich eine exekutive Dysfunktion, deutliche Apathie, Dysphagie, Reduktion des Sprachflusses, parkinsonoide Symptome (Hypomimie, Verlangsamung und reduzierte Amplitude beim Fingertapping, Gangstörung mit Freezing), der restliche Status ergab keine Auffälligkeiten.
In der Magnetresonanztomographie (MRT) des Neurokraniums fanden sich beidseitige T2-Hyperintensitäten im Globus pallidus, im Marklager und in den Kleinhirnhemisphären. Während sich die Nervi optici regelrecht im MRT darstellten, wurde in den visuell evozierten Potenzialen eine Latenzverlängerung nachgewiesen. Es zeigten sich ein normwertiger Vitamin-B12-Spiegel und ein regelrechter Liquorbefund. Die Abklärung auf neo- bzw. paraneoplastische, degenerative, entzündliche, infektiöse und vaskuläre Ursachen ergaben unauffällige Befunde. Die Blutspiegelbestimmungen von Ethanol, Methanol und Karboxyhämoglobin waren unter der Nachweisgrenze. Die wiederholten SARS-CoV-2-PCR und Antikörpertests verliefen allesamt negativ. Im EEG zeigte sich eine generalisierte intermittierende Verlangsamung mit normalem Grundrhythmus. In einer Bronchoskopie wurde lediglich eine Schleimhautirritation des Rachens als Hinweis auf lokale Reizung nachgewiesen. Eine probatorische Behandlung mit L‑Dopa bzw. einem Dopaminagonisten blieb ohne Erfolg. In Zusammenschau von Klinik und Bildgebung wurde eine toxisch-metabolische Genese vermutet.
In der erweiterten Anamnese war zu erheben, dass sich die Patientin ihre Gesichtsmaske während der ersten Pandemiewelle zunächst mit einer 97%igen Alkohollösung gereinigt hatte. Als ihr das Produkt ausging, ersetzte sie es mit Brennspiritus, der allerdings 75 % Methanol enthielt. Sie hat ihre Maske dreimal täglich mit diesem Produkt gereinigt und die Maske für etwa 10–12 h pro Tag getragen. Es konnte rekonstruiert werden, dass es 2 Monate nach Umstellung auf das methanolhaltige Produkt zum Auftreten der initialen Symptome gekommen ist. Es wurde die Diagnose einer schweren toxisch-bedingten Enzephalopathie durch Methanolinhalation im Rahmen einer Coronaphobie gestellt. Vier Monate nach Diagnosestellung wird die Patientin weiterhin nasogastral ernährt und benötigt unverändert kontinuierliche Betreuung bei Immobilität und ausgeprägter exekutiver Dysfunktion.
Diskussion
In westlichen Ländern ist die Methanolvergiftung inzwischen selten und macht nur mehr weniger als 1 % aller Vergiftungen aus [7, 8]. Die beiden in dieser Übersichtsarbeit berichteten und während der COVID-19-Pandemie aufgetretenen Fälle sind insofern interessant, da sie einerseits zeigen, dass Intoxikationen über unübliche Wege stattfinden können (Konsum von Desinfektionsmitteln, Kontamination der Maske). Andererseits zeigt uns der zweite Fall das seltenere Bild einer chronischen Intoxikation mit progredienten neurologischen Ausfällen [5, 6].
Die Methanolvergiftung kann inzwischen als Kollateralschaden der COVID-19-Pandemie angesehen werden, wie eine Reihe von Berichten in der wissenschaftlichen Literatur aufzeigen [4,5,6]. Die Methanolkontamination von Händedesinfektionsmitteln scheint eine COVID-19-bedingte Entwicklung zu sein, nachdem der Bedarf im Zuge der Pandemie exponentiell gestiegen ist und Qualitätssicherungsmaßnahmen unzureichend gewesen sein dürften. Die FDA hat nach Häufung von Methanolintoxikationen in den USA eine Untersuchung durchgeführt und eine Liste mit Handdesinfektionsmitteln erstellt, die mit Methanol verunreinigt waren [9]. Als weitere Gefahr ist der Irrglaube einer protektiven Wirkung von Ethanol auf eine Infektion mit dem SARS-CoV‑2 zu sehen. Vor allem in Ländern mit Konsumationsverbot von alkoholhaltigen Getränken dürfte die Menge an selbst gebranntem Alkohol und in der Folge die Kontamination mit Methanol gestiegen sein [4]. Dies lässt sich auch an den berichteten Zahlen aus dem Iran bestätigen, wo laut Associated Press zum 20. April 2020 insgesamt 2850 Fälle einer Methanolvergiftung und 480 Todesfälle berichtet wurden.
Die Methanolintoxikation ist ein Kollateralschaden der COVID-19-Pandemie
Im Körper wird Methanol von der Alkoholdehydrogenase (ADH) zu Formaldehyd und dann weiter zu Ameisensäure oxidiert. Ameisensäure wird mit Tetrahydrofolsäure weiter zu CO2 und H2O oxidiert. Die Oxidation von Formaldehyd zu Ameisensäure verläuft sehr rasch, der Abbau der Ameisensäure erfolgt jedoch sehr langsam. Dadurch kommt es zu einer Akkumulierung der Ameisensäure und somit zu einer metabolischen Azidose [10]. Als Antidot kommt 4‑Methylpyrazol (Fomepizol), ein potenter kompetitiver Inhibitor der ADH, intravenös zum Einsatz [10, 11]. Zu den weiteren Therapiemöglichkeiten gehört die Magenspülung, um die weitere Aufnahme von Methanol zu reduzieren [10]. Durch Ethanol ist die Toxizität, aufgrund der höheren Affinität der Alkoholdehydrogenase für Ethanol, verringert. Dies wird bei der Therapie genutzt, da dadurch die Umwandlung zu Formaldehyd und weiter zu Ameisensäure blockiert wird [10, 12, 13]. Es werden in der ersten Stunde 600 mg Ethanol/kgKG plus die Erhaltungsdosis 109 mg Ethanol/kgKG verabreicht, danach wird eine kontinuierliche Ethanolinfusion mit 109 mg Ethanol/kgKG/h fortgeführt, bis die Serum-Methanol-Konzentration unter 0,2 g/l sinkt. Während dieser kontinuierlichen Ethanolinfusion sollte stündlich der Ethanolspiegel gemessen und dieser bei etwa 0,8–1 ‰ gehalten werden [14]. Da für die Oxidation der Ameisensäure Tetrahydrofolsäure als Coenzym benötigt wird, sollte Folsäure substituiert werden [10, 15]. Natriumbikarbonat wird zum Ausgleichen der Azidose verwendet [10]. Die Hämodialyse kommt bei Zufuhr von Dosen über 15 ml bzw. bei neurologischen oder visuellen Symptomen zum Einsatz. Damit lässt sich das Methanol und die Ameisensäure rascher eliminieren und die Azidose kann gleichzeitig ausgeglichen werden [10, 13].
Initial beklagen die Patienten oft Schwindel, Übelkeit und Kopfschmerzen. Neurologische Auffälligkeiten wie Ataxie und Somnolenz können auch früh auftreten. Im Verlauf kommen Bauchschmerzen, Sehstörungen bis zur Erblindung, Koma, epileptische Anfälle und bedingt durch die metabolische Azidose Hyperventilation, Bradykardie und Herzstillstand hinzu. Bei Patienten, die eine Methanolintoxikation überlebt haben, können extrapyramidale Störungen persistieren [10, 16].
Die Methanolintoxikation verläuft nicht selten tödlich
In zerebralen Bildgebungen (CT bzw. MRT) finden sich häufig hämorrhagische Nekrosen des Globus pallidus sowie nichthämorrhagische Nekrosen im Putamen, der tiefen weißen Substanz und des Kleinhirns [1, 3,4,5]. Durch diese Veränderungen lassen sich die parkinsonoiden Symptomatiken wie Rigor, Hypomimie, Hypophonie und Bradykinese erklären. Therapeutisch kann man mit Dopamin bzw. Dopaminagonisten versuchen, eine Besserung dieser Symptome zu erreichen. Dies führt meist jedoch zu frustranen Ergebnissen [2, 5].
Diagnostisch wegweisend ist die metabolische Azidose mit ausgeprägter Anionenlücke
Die Morbidität und Mortalität einer Methanolintoxikation ist hoch, bereits ab Dosen von 15,8 g (Spanne: 15,8–474 g) kann ein lebensbedrohlicher Zustand eintreten. Bei Dosen von 3,16–11,85 g wurden Erblindungen beschrieben [16,17,18,19]. Die Todesursache ist meist die durch die Azidose verursachte Stoffwechselstörung [10, 16].
Die Methanolvergiftung scheint im Zuge der COVID-19-Pandemie eine Renaissance zu durchlaufen. In der Folge sollte bei unklaren neurologischen und internistischen Symptomen sowie entsprechenden Laborveränderungen an eine Methanolintoxikation gedacht werden. Von neurologischer Seite sollte bei bilateralen Visusstörungen, unerklärlichen neurologischen Symptomen oder Koma ebenfalls an eine Methanolvergiftung gedacht werden. Diagnostisch wegweisend ist die metabolische Azidose mit ausgeprägter Anionenlücke. Des Weiteren sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Methanolintoxikation auch mit COVID-19-typischen Symptomen einhergehen könnte, wie z. B. Hyperventilation bei metabolischer Azidose, die als Dyspnoe verkannt wird, oder Aspirationspneumonie bei Vigilanzstörung durch die Intoxikation [20].
Fazit für die Praxis
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Das klinische Spektrum der Methanolvergiftung ist weitreichend und umfasst das internistische und neurologische Fachgebiet. Das Vorliegen einer metabolischen Azidose mit Anionenlücke ist diagnostisch oft wegweisend.
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In der wissenschaftlichen Literatur werden vermehrt Fälle einer Methanolvergiftung im Zuge der COVID-19-Pandemie beschrieben.
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Es werden gehäuft Intoxikationen nach peroraler Einnahme von mit Methanol kontaminierten Desinfektionsmitteln und Spirituosen sowie nach chronischer Inhalation nach Desinfektion von Gesichtsmasken mit methanolhaltigen Mitteln berichtet.
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Die spezifische Behandlung basiert auf der Infusion von Fomepizol, das die Umwandlung von Methanol in die toxische Ameisensäure wirksam hemmt. Weitere Therapieoptionen sind Magenlavage, Ethanol und Hämodialyse.
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07 June 2021
Zu diesem Beitrag wurde ein Erratum veröffentlicht: https://doi.org/10.1007/s00739-021-00734-z
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Wuchty, B., Perneczky, J. & Sellner, J. Methanolintoxikation: ein Kollateralschaden der COVID-19-Pandemie. psychopraxis. neuropraxis 24, 238–241 (2021). https://doi.org/10.1007/s00739-021-00721-4
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