Herausforderungen der klassischen Therapie

Potenzielle Schwierigkeiten klassischer Therapieansätze können sich auf abstraktes Aufgabenmaterial und dessen geringen Aufforderungscharakter, u. a. bei Computer-Aufmerksamkeitstrainings [1] oder bei Biofeedback [2], beziehen. Veraltete Computergrafiken und langweilige Inhalte können insbesondere bei Kindern und Jugendlichen dazu führen, dass Motivation und Adhärenz nicht über die Dauer der Therapie aufrechterhalten werden [3]. Ähnlich schwierig kann sich die Umsetzung einer Konfrontationstherapie gestalten. Je nach Entwicklungsstand fällt es Kindern schwer, den langfristigen Nutzen einer Intervention zu begreifen und dafür die vergleichsweise hohen Kosten (z. B. Angst) in Kauf zu nehmen. Neben ökonomischen Faktoren (z. B. Kosten von In-vivo-Exposition) können daher insbesondere motivationale Faktoren die erfolgreiche Umsetzung einer Konfrontationstherapie unterwandern [4]. Als ebenso herausfordernd kann sich auch das Schmerzmanagement erweisen [5]. Akuter Schmerz während z. B. Blutabnahmen kann bei Kindern zu starken aversiven Reaktionen bis hin zu künftigem Vermeidungsverhalten führen [6]. Altbewährte Ablenkungen (z. B. Musik) oder Medikation haben sich bislang als unbefriedigend erwiesen [7].

Virtuelle Realitäten

Generell werden VR als computergenerierte Umgebungen verstanden, die vermittels einer vollimmersiven 360°-VR-Brille das Erleben von Präsenz ermöglichen. Präsenz wiederum bezeichnet den Eindruck, sich tatsächlich in der VR-Umgebung zu befinden. Ist diese Bedingung erfüllt, so gleichen die Reaktionen auf VR-Stimuli jenen, die in vergleichbaren Realsituationen gezeigt werden [8]. Eben jene Kongruenz deutet auf einen zentralen Vorteil für die Therapie hin: Lebensnahe Situationen können ökologisch valide in Praxisräumlichkeiten repliziert werden. Die Kontrolle über den virtuellen Stimulus erlaubt dabei eine Standardisierung und Replizierbarkeit. Des Weiteren kann der gezielte Einsatz von Gamification-Elementen (sog. Serious Games, [9]), wie z. B. einem Spielnarrativ, Belohnungen und dem Fortschreiten in der Spiellogik, für die Aufrechterhaltung der Motivation trotz Anstrengung sorgen. Ebenso bieten VR die Möglichkeit, über physikalische Grenzen hinauszugehen und z. B. Veränderungen am virtuellen Körper vorzunehmen. Diese wirken nicht nur auf das eigene Körperschema zurück, sondern je nach Art der Veränderung auch auf die Empfindsamkeit des jeweiligen Körperteils [10]. Die dynamische Änderung des Stimulus je nach Reaktion (z. B. Vergrößerung der Spinne bei Stresshabituation) hat schließlich das Potenzial, herkömmliche Therapiekonzepte anzureichern.

Beispiele für VR-Therapien

VR-Konfrontationstherapie

Eines der frühesten Anwendungsgebiete umfasst die VR-Exposition bei Angststörungen (z. B. Phobien, posttraumatische Belastungsstörung, generalisierte Angststörung) als sog. „virtual reality exposure therapy“ (VRET; [11, 12]). Entsprechend der soliden Evidenz aus zahlreichen randomisiert-kontrollierten Studien wurde die Empfehlung für VR auch in die entsprechenden S3-Leitlinien übernommen [13]. Jedoch bezieht sich diese Empfehlung primär auf Erwachsene, zumal es bislang nur wenige VR-Studien mit Kindern und Jugendlichen gibt. Eine vorläufige Metaanalyse mit 4 Studien deutet jedoch auf eine zufriedenstellende Effektivität und Verträglichkeit von VRET für Spinnenangst, Schulphobie und Angst vor Dunkelheit bei Kindern und Jugendlichen hin [14].

Eine ähnlich lange Tradition weist VR bei Essstörungen (ES) auf: Bereits seit den 1990er-Jahren wird VR, und insbesondere das sog. Embodiment, zur Veränderung körperbezogener Aufmerksamkeitsbias wie auch maladaptiver Körperschemata umgesetzt [15]. Indem Patienten und Patientinnen im Rahmen des Embodiments ihren virtuellen Körper aus der egozentrischen Perspektive als normalgewichtig erleben können, wird ein größerer Therapieeffekt erwartet als bei traditionellen Methoden [16]. Im Gegensatz dazu umfasst die VR-basierte „cue-exposure therapy“ – ähnlich der herkömmlichen Konfrontationstherapie – eine Exposition mit kritischen Situationen (z. B. Restaurant, hochkalorisches Essen) und eine schrittweise Habituation [17]. Studien für Kinder und insbesondere Jugendliche, darunter auch männliche, sind bislang rar [16].

Serious Games

Unter spielbasierte Therapien fallen VR-Trainings zur Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung für ADHS-Patienten [18] oder zum Erlernen sozialer Skills bei ASS [19]. Metaanalysen deuten auf eine gute Effektivität VR-basierter Interventionen zur Verbesserung der Daueraufmerksamkeit und Vigilanz bei ADHS-Patienten [20] sowie auch zur Steigerung korrekter Reaktionen in sozialen Situationen, zur Emotionserkennung und erleichterten Initiierung sozialer Kontakte bei ASS-Patienten hin [21].

Hinsichtlich der Anwendung von VR-Biofeedbacktrainings ist die Studienlage bei Kindern und Jugendlichen mit bisher 2 Studien dürftig [2]. In einer aktuellen Entwicklung, die derzeit bei 10- bis 18-Jährigen mit stressassoziierten Störungen (z. B. Angst, Depression) getestet wird [22], wird die Herzrate (HR) mit der VR so gekoppelt, dass HR-Veränderungen im Stresslevel jeweils Veränderungen einzelner Umgebungsfaktoren bedingen (z. B. ergrünen Bäume, je weiter die HR sinkt; Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Auf virtueller Realität (VR) basiertes Biofeedback. (© Lenz/Hlavacs, Universität Wien; Entwicklung gemeinsam mit A. Felnhofer und O.D. Kothgassner)

Ablenkung bei akuten Schmerzen

Zuletzt sei noch auf den Anwendungsbereich der VR als Ablenkung bei akuten Schmerzen hingewiesen. Hierbei wird angenommen, dass VR-Umgebungen im Gegensatz zu herkömmlichen Ablenkungen wie Musik aufgrund ihrer Immersivität effektiver sein könnten, da weniger Kapazität für die Wahrnehmung des schmerzhaften Reizes bleibt [23]. Vor allem wird vermutet, dass Ablenker, die mehr kognitive Ressourcen binden, insbesondere für jüngere Kinder geeigneter sein könnten [24]. Weitere Studien mit Kindern und Jugendlichen im klinischen Setting und mit vollimmersiven VR-Brillen sind nötig, um diese Fragen abschließend zu klären [5].

Im Gegensatz zur klassischen Ablenkung funktioniert virtuelles Embodiment über den Mechanismus der Körperkontrolle [10]. Indem visuelle Veränderungen am betroffenen Körperteil vorgenommen werden, wird die Wahrnehmung desselben derart moduliert, dass die Schmerzintensität besser kontrolliert werden kann. Als Beispiele fungiert die Veränderung hin zu einem Steinarm [25] oder einem gepanzerten Arm [26]. Einschränkend ist allerdings auch hier zu erwähnen, dass es bislang keine vergleichbare Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen gibt [5].

Konklusion

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die aktuelle Studienlage zwar auf eine gute und vielfältige Einsetzbarkeit von therapeutischen VR hinweist, dies jedoch primär für Erwachsene gilt. Erste Studien mit Kindern und Jugendlichen deuten allerdings auf eine ähnliche Effektivität hin. In jedem Fall können herkömmliche Therapiemethoden von spielerischen Elementen und vom immersiven Erlebnis im Sinne der verbesserten Akzeptanz und Therapiemotivation profitieren [3]. Ebenso bieten VR-Therapien eine attraktive Alternative für all jene Patienten, bei denen klassische Methoden gescheitert sind.

Zugleich ist zu erwähnen, dass gängige VR-Brillen für Erwachsene konzipiert sind und folglich bei jüngeren Kindern mit z. B. geringerem Kopfumfang nur eingeschränkt nutzbar sein können. Ferner gibt es Kontraindikationen wie z. B. Migräne, Epilepsie und eine Anfälligkeit für die Reisekrankheit, welche die Nutzbarkeit limitieren. Eine sorgfältige Anamnese ist daher unerlässlich. Darüber hinaus erfordert der Einsatz von VR ein entsprechendes Know-how seitens der Fachkräfte [4]. Unbedingt abzuraten ist davon, VR selbstadministriert einzusetzen. Da VR intensive Reaktionen hervorrufen kann, ist eine professionelle Begleitung und eine Einbettung in ein evidenzbasiertes Behandlungskonzept unerlässlich. Dies erfordert nicht nur eine entsprechende wissenschaftlich fundierte Ausbildung von Fachkräften, sondern auch kontinuierliche, den jeweiligen Entwicklungen angepasste Fortbildungen.