Einleitung

Blended-Learning-Formate, d. h. eine konzeptionelle Verzahnung von Online-Phasen mit Präsenzphasen, werden zur Kompetenzvermittlung in der Medizin noch nicht ausreichend genutzt und sind weitaus weniger als E‑Learning-Formate erprobt und evaluiert (Rowe et al. 2012; Qian et al. 2016; Makhdoom et al. 2013; Hsu 2011). Dabei scheint ihr Einsatz besonders vielversprechend im Bereich der klinischen Ausbildung (Kuhn et al. 2018). Hier lassen sich theoretisches Wissen, Beurteilung einer klinischen Gesamtsituation und die Fähigkeit, auf dieser Wissensgrundlage eine sinnstiftende und kommunikativ angemessene Beziehung zum Patienten aufzubauen, verzahnen (Hege et al. 2018). Dieser komplexe Lernprozess von Wissen, Fertigkeiten und Haltungen sollte bestenfalls in unterschiedlichen Phasen, die Zeit zum Reflektieren lassen, sowie mittels unterschiedlicher Formate erfolgen. Dies gilt umso mehr für die Lehre in der Ethik, jedoch auch hier sind Blended-Learning-Module rar (Schochow und Steger 2015). Gerade im Ethik-Training hat eine Meta-Studie auf die hohe Lerneffektivität von Blended-Learning-Formaten hingewiesen (Vallée et al. 2020).

Schwierige moralische Dilemma-Situationen entziehen sich regelhaft eines direkten Lösungswegs, wie er in der Medizin oft gelehrt wird. Entscheidungen entstehen im sozialen Raum mit allen beteiligten Personen, deren Werthaltungen und Handlungen sich gegenseitig beeinflussen. Solche Situationen erfordern Kompetenzen wie interdisziplinäre und interprofessionelle Teamfähigkeit, Perspektivwechsel, Herstellen von Transparenz in der Artikulation moralischer Intuitionen, schlüssiges ethisches Argumentieren und Kommunikationsfähigkeit. Innovative Blended-Learning-Lernformate mit interaktiven Fallsimulationen sind ein vielversprechender Ansatz, um diese Situationen abzubilden. Im Folgenden möchten wir ein Lehrkonzept zur klinischen Ethik vorstellen, das auf einer Online-Simulation im Selbststudium mit anschließender Gruppen-Präsenzphase im Blended-Learning-Format beruht.Footnote 1 Es wurde an der Universitätsmedizin Mainz entwickelt und im Wahlpflichtbereich für Medizinstudierende des 7. bis 9. Semesters durchgeführt.

Co-Design

In der konzeptionellen und inhaltlichen Umsetzung der Online-Plattform und des Präsenzunterrichts war von Beginn an die Interdisziplinarität tragend. Das Projektteam bestand aus Dozierenden und Forscher:innen aus Ethik, Klinik/Medizindidaktik, Medienpädagogik und Bioinformatik. Die Perspektive der Medizinstudierenden wurde ebenfalls in Person eines Projektmitarbeiters repräsentiert. Unter Co-Design versteht man, dass bereits in der Planungs- und Konzeptionsphase die Endnutzer:innen – Studierende als auch Dozierende – beteiligt sind. Entscheidungen können somit mit den verschiedenen Stakeholdern getroffen werden, um eine curriculare Anbindung sowohl an die klinische Realität als auch die Bedürfnisse der Studierenden sicherzustellen (Arbeitsgruppe Curriculum 4.0 2018). Dies wird unterstützt durch das frühe Pilotieren innerhalb und außerhalb des Teams und erlaubt somit eine iterative Weiterentwicklung.

Kurzbeschreibung des Ablaufs

Der klinisch-ethische Fall, welcher der Online-Simulation zugrunde liegt, basiert auf einem publizierten Fallbericht aus der Zeitschrift Ethik in der Medizin (Anonym 2017). Ein 74-jähriger Patient, der nach akutem Nierenversagen in die Klinik eingeliefert wurde, erleidet aus nicht nachvollziehbaren Gründen während einer Zystoskopie einen Herz-Kreislaufstillstand, muss reanimiert werden und liegt nicht ansprechbar auf der Intensivstation. Zur Weiterversorgung und Fortführung der Dialyse ist ein dauerhafter Dialysekatheter geplant (Demers-Katheter). Die Schwester und gesetzliche Betreuerin des kurz vor der Einweisung noch äußerst agilen Patienten verweigert jedoch den Eingriff, da sie sich an frühere Willensäußerungen ihres Bruders gebunden fühlt. Die moralische Dilemma-Situation kann demnach folgendermaßen umschrieben werden: 1) ein minimaler Eingriff setzt eine Therapie fort, die bereits begonnen wurde, und kann einen lebensbedrohlichen Zustand abwenden; 2) es muss nicht sofort, aber zügig gehandelt werden; 3) der mutmaßliche Wille des Patienten wird durch die Schwester vertreten, ist jedoch unsicher; 4) ebenso unsicher ist das bestmögliche noch zu erreichende Therapieziel, da die neurologische Prognose noch verfrüht ist. Jedoch zeichnet sich ab, dass der Patient nicht mehr in einen Zustand gebracht werden kann, der seinem früheren Leben entspricht.

Online-Phase

Die Studierenden erleben den Fall in der Rolle einer jungen Assistenzärztin, die Verantwortung für den Patienten übernimmt. Anhand dieser Grundsituation führt der Online-Fall durch fünf Gesprächssituationen, wobei jede/r Gesprächspartner:in für eine bestimmte moralische Haltung steht. Die Gesprächssituationen wurden mit Schauspieler:innen gedreht und in die Online-Plattform der Ansicht eines Stationsflurs angepasst. Nach dem ersten Gespräch mit der Schwester als gesetzlicher Betreuerin (Einwilligungsverweigerung) spricht die junge Ärztin mit einer Kollegin (Autonomie des Patienten), mit einem Pfleger (natürlicher Wille des zufrieden wirkenden Patienten), telefonisch mit einem Rehabilitationsexperten (neurologische Prognose und das bestmögliche noch zu erreichende Therapieziel) sowie mit der zweiten Schwester (Bezweifeln des mutmaßlichen Willens des Patienten und Befangenheit der gesetzlichen Betreuung).

Die Simulation eines solchen Gesprächsverlaufs dient dazu, zunächst eingenommene moralische Positionen zu verunsichern sowie Komplexität und Perspektivenvielfalt abzubilden. Am Ende müssen die Studierenden sich auf der Online-Plattform entscheiden, ob sie für oder gegen das Legen eines Demers-Katheter sind.

Abschließend werden noch in der Online-Phase die Entscheidungskriterien näher beleuchtet. Moralphilosophisch nimmt dies Anleihen an kasuistischen Formaten, d. h. des Vergleichs von ähnlichen Fällen, die sich jedoch an einem Punkt unterscheiden (Jonsen und Toulmin 1988). Dieses Format ermöglicht es, moralische Intuitionen zu prüfen, ethisches Argumentieren einzuüben und Inkonsistenzen aufzudecken. So wird gefragt, ob es einen Unterschied mache, wenn a) der Patient 54 statt 74 Jahre alt wäre; b) der Patient seinen natürlichen Willen nicht durch Zustimmung (etwa zu Pflegemaßnahmen), sondern durch Abwehr und Verweigerung (Wegdrehen des Kopfes etc.) zeigen würde; c) der Eingriff während der Zystoskopie nicht unerklärlich wäre, sondern direkt auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen wäre; d) die zweite Schwester auf eine vermeintliche Befangenheit der gesetzlichen Betreuung hinweisen würde.

Präsenz-Phase

Die Ergebnisse der Entscheidung für oder gegen den Eingriff und Freitexte werden in der Präsenzzeit auf strukturierte Weise wieder aufgegriffen. Die Präsenz-Phase gliedert sich in drei Teile:

  1. 1.

    Gemeinsame Reflexion der Entscheidung und der Entscheidungskriterien

Die Studierenden sind zunächst angehalten, eine Haltung für oder gegen den Eingriff einzunehmen und in der Diskussion argumentativ zu stützen. Während der gesamten Diskussion können die Studierenden die Seiten wechseln, müssen dies aber sichtbar machen. Die vorab vom Dozierenden einsehbaren Freitexte strukturieren das gemeinsame Gespräch.

  1. 2.

    Gemeinsame Reflexion über gelungene Entscheidungsprozesse

In der Online-Simulation wird ein Gesprächsverlauf vorgegeben, der ethisch diskussionsbedürftig ist. In diesem zweiten Teil werden Kriterien erarbeitet, die einen gelungenen Entscheidungsprozess ausmachen.

  1. 3.

    Simulation des zweiten Gesprächs mit der gesetzlichen Betreuerin

Der Online-Fall ist nicht abgeschlossen und bricht vor dem zweiten Gespräch mit der gesetzlichen Betreuerin ab. Im dritten Teil der Präsenz-Phase wird dieses anschließende Gespräch von zwei Studierenden simuliert. Vorab machen sich die Studierenden für sich Gesprächsnotizen, mit welchen Argumenten und mit welcher Haltung sie in das zweite Gespräch gehen.

Technische Umsetzung

Der interaktive Online-Fall wurde mit der Autorensoftware Adobe Captivate (2017) umgesetzt. Er enthält mehrere Video- und Audiosequenzen, programmierte Interaktionen sowie grafische Elemente, was der realitätsnahen Erlebbarkeit und der empathischen Beschäftigung mit dem Thema dienen soll. Die Videosequenzen wurden mit Schauspieler:innen gedreht.

Evaluation und Schluss

Auf Grund eines bislang nur einmaligen Einsatzes im Wahlpflichtfach an der Universitätsmedizin Mainz im Sommersemester 2017 konnte das Blended-Learning-Format noch nicht eingehend evaluiert werden. Allerdings zeigen erste Ergebnisse einer einmalig durchgeführten, quantitativen Evaluation anhand Prä‑/Post-Fragebögen mit elf Teilnehmenden aus dem 7. bis 9. Semester der Humanmedizin, dass nach der Selbsteinschätzung der Teilnehmenden von einem Lernzuwachs ausgegangen werden kann. Zudem wurde das Blended-Learning-Format mit einer Fokusgruppe auf der Jahrestagung der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland im Dezember 2017 in Mainz durchgeführt. Die ersten Evaluationsergebnisse sowie das Feedback der Fokusgruppe flossen in eine iterative Justierung des Formats ein.

Grundsätzlich kann abschließend festgestellt werden:

  1. 1.

    Interaktive Elemente in der Online-Phase: Das selbständige Entscheiden und Einnehmen einer moralischen Position wird in die Online-Phase integriert, was eine direkte Beeinflussung durch getroffene Entscheidungen von Kommiliton:innen minimiert. Positionen und Haltungen aller Studierenden werden erfasst und bilden die Grundlage für die Diskussionen in der Präsenzzeit. In den abgehaltenen Lehreinheiten divergierten die moralischen Positionen in der vermeintlich homogenen Peer-Gruppe der Studierenden stark, so dass der Umgang mit Wertepluralismus in der Gesellschaft eingeübt werden konnte.

  2. 2.

    Austausch und Perspektivwechsel in der Präsenz: Eine einmal eingenommene Haltung kann in Diskussionsverläufen einerseits argumentativ gestützt, andererseits aber auch wieder verlassen werden, falls neue Argumente überzeugender sind. Zudem gibt das strukturierte Aufgreifen von Entscheidungskriterien in Form von moralischen Gedankenspielen (etwa: warum ändert sich meine moralische Intuition, wenn der Patient 54 Jahre alt ist?) den Studierenden Mittel an die Hand, die es ihnen in konkreten klinischen Situationen des zukünftigen Berufslebens ermöglichen sollen, eigene Positionen zu finden und argumentativ zu stützen.

  3. 3.

    Gesprächssimulation: Es geht nicht nur darum, moralische Haltungen zu entwickeln, sondern diese dann situativ und kommunikativ umzusetzen. Die Situation einzuüben und sich bewusst zu werden, inwieweit Kommunikationsstil und -verhalten entscheidend für ein gelungenes Ärzt:innen-Patient:innen-Verhältnis sind, ist Ziel dieser Übung. Die Diskussion über das simulierte Gespräch nimmt Bezug auf Intervisionsmodelle, indem für das jeweilige Kommunikationsverhalten in der Peer-Gruppe der Studierenden Kritik und Lob formuliert werden.