Einleitung

Gesundheit hat einen hohen Preis

Im Schweizer Gesundheitswesen haben die Kosten in den letzten 20 Jahren stetig zugenommen – verglichen mit der restlichen Kostenentwicklung überdurchschnittlich [1]. So erhöhte sich der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt von 7,5 % im Jahr 1990 auf 12,2 % im Jahr 2016; ein Ende dieses Anstiegs ist nicht in Sicht [1, 2]. Diese besorgniserregende Entwicklung führt dazu, dass Bürger, insbesondere Familien, die geforderten Krankenkassenprämien kaum mehr bezahlen können, und es besteht die Gefahr, dass Betroffene aus finanziellen Gründen notwendige Untersuchungen unterlassen [1].

Um die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen, wird immer mehr gefordert, dass eingesetzte diagnostische und therapeutische Interventionen evidenzbasiert und kosteneffektiv sein sollen [1].

Beinschmerzen sind häufig

Laut Interpharma [2] wurden in der Schweiz im Jahr 2018 ungefähr 101 Mio. Diagnosen gestellt, das sind 12 Diagnosen pro Kopf, wobei ca. 10 % den Bewegungsapparat betrafen [2]. Dazu gehören auch Schmerzen in den Beinen – und diese sind häufig [3].

Eine in Deutschland durchgeführte Untersuchung ergab, dass 57 % der Menschen mindestens einmal im Leben an Beinschmerzen leiden, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer [4]. Die Punktprävalenz für Schmerzen in den Beinen betrug 29 % [4]. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen (>6 Monate) wird je nach Quelle berichtet, dass zwischen 14 % [5] und über 30 % [6] an Beinschmerzen leiden.

Schmerzen in den Beinen können die verschiedensten Ursachen haben [7]. Eine Arbeit aus dem Jahr 2007 weist darauf hin, dass Beinschmerzen neben artikulären, muskulären, neurogenen oder vaskulären Gründen auch autoimmun, metabolisch, psychisch oder durch Nebenwirkungen von Medikamenten begründet sein können [7].

Modelle in der Medizin

In der heutigen Medizin existiert eine Vielzahl an Behandlungskonzepten, Modellen, Meinungen und Annahmen, die über die Jahre entstanden, gefiltert und weitergegeben wurden [8]. Es wird davon ausgegangen, dass die Medizin keine exakte Wissenschaft ist, sondern eine Handlungswissenschaft, gestützt auf Annahmen und Modellen [8]. So stellt jede Ansicht des menschlichen Körpers eine Abstraktion der Wirklichkeit dar [8, 9]. Modelle haben das Ziel, die Realität überschaubarer und verständlicher zu machen [9]. Die vereinfachte Darstellung der komplexen Realität durch Modelle erleichtert das praktische Handeln am Patienten [9].

Fasziendistorsionsmodell

Das Fasziendistorsionsmodell (FDM) nach Dr. Stephen Typaldos (s. Infobox 1) ist eine medizinische Betrachtungsweise, bei der Beschwerden und Funktionseinschränkungen am Bewegungsapparat auf eine oder mehrere von 6 spezifischen Verformungen des Bindegewebes zurückgeführt werden [10]. Im FDM wird davon ausgegangen, dass durch die manuelle Rückführung der verformten Faszie in ihre ursprüngliche Position die Beschwerden des Patienten gezielt und effektiv behandelt werden können [9, 10].

Infobox 1 Entstehung des Fasziendistorsionsmodells

Dr. Stephen Philip Typaldos (1957–2006) war ein amerikanischer Notfallmediziner und Osteopath [9]. Durch seine Arbeit auf der Notfallstation begegnete er täglich Patienten mit den unterschiedlichsten Beschwerden am Bewegungsapparat [9]. Die herkömmlichen Interventionsmaßnahmen, wie schmerzlindernde Medikamente und Schonung, führten zu einer gewissen Frustration bei Typaldos, denn die Patienten verließen die Notfallstation häufig mit denselben Beschwerden, mit denen sie kamen [9].

Dies veranlasste Typaldos dazu, insbesondere der Körpersprache und den subjektiven Beschwerden seiner Patienten mehr Beachtung zu schenken [9]. Dadurch entdeckte er immer wiederkehrende Beschwerdegesten, die er in verschiedene Distorsionen (Verformungen des Bindegewebes) einteilte [10]. Typaldos leitete daraus gezielte manuelle Behandlungstechniken ab („Typaldos manual therapy“) und erkannte, dass diese einen sofortigen, positiven Einfluss auf die Beschwerden seiner Patienten hatten [10]. Aus diesen Erkenntnissen konnte Typaldos in der Zeit zwischen 1991 und 1995 6 verschiedene Distorsionen beschreiben ([10]; Tab. 1).

Tab. 1 Zusammenstellung der 6 Fasziendistorsionen mit möglichen Befunden [8,9,10]. (Tabelle modifiziert nach Nagel [8])

Das Alleinstellungsmerkmal des FDM ist, dass die Körpersprache („body language“) des Patienten zur Diagnosestellung miteinbezogen wird [10]. Dabei wird darauf geachtet, wie der Patient seine Beschwerden intuitiv am eigenen Körper zeigt (Beschwerdegestik; [10]). Das Interpretieren dieser Geste ist ein reliables Mittel, um eine FDM-Diagnose zu stellen [11].

Betont werden muss, dass das Modell der Fasziendistorsionen keinem morphologischen Substrat entspricht [9]. Es dient vielmehr als Denkhilfe für den diagnostischen und therapeutischen Prozess im FDM [8, 9].

Diagnostik im FDM

Eine Diagnose nach dem FDM wird generell unter Einbeziehung 4 verschiedener Aspekte gestellt ([10]; Abb. 1). Dazu gehören neben der Beschwerdegestik und der subjektiven Beschwerden auch der Entstehungsmechanismus und die objektiven Befunde (Mobilitätstests und Palpation). Das Ziel des FDM ist, aus den erhobenen Informationen und Befunden eine individuelle Behandlung für jeden Patienten zu generieren [8, 9].

Abb. 1
figure 1

Die 4 Pfeiler der Diagnosestellung im Fasziendistorsionsmodell [10]

Ziel dieser Arbeit

Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, das FDM anhand eines Patienten mit komplexen Beinbeschwerden vorzustellen. Dabei werden im Anschluss an eine detaillierte Patientenbeschreibung der Denkprozess, die Diagnosestellung und die Behandlung nach dem FDM ausführlich beschrieben, erklärt und diskutiert.

In dieser Arbeit geht es nicht darum, das FDM der Schulmedizin gegenüberzustellen, sondern anhand dieses Patientenbeispiels die Möglichkeiten und den Nutzen des FDM hervorzuheben. Aufgezeigt werden soll, wie das FDM die Schulmedizin bereichern und sinnvoll ergänzen kann.

Patientenbeschreibung

Anamnese

Geschichte

Bei dem Patienten handelte es sich um einen 29-jährigen Sozialarbeiter, der seit knapp 1,5 Jahren an persistierenden diffusen beidseitigen Beinbeschwerden litt. Im September 2017 begab er sich auf eine 8‑stündige Bergtour mit Auf- und Abstieg. Danach absolvierte er am gleichen Abend ein Langhanteltraining und führte tiefe Kniebeugen aus. Plötzlich verspürte er einen „zerrenden Schmerz“, den er als „beidseitige Explosion im hinteren Oberschenkel“ beschrieb, als würde „warmes Wasser die Beine hinunterfließen“. Trotz einer 3‑wöchigen Ruhephase blieben seine Beschwerden in beiden Beinen bestehen.

Schulmedizinische Diagnostik

Um die Ursache seiner Beschwerden zu verstehen und Linderung zu erfahren, suchte der Patient seinen Hausarzt auf und wurde für 18 Sitzungen zur Physiotherapie überwiesen. Medizinische Trainingstherapie, Nervenmobilisation und manuelle Triggerpunkttherapie hatten keinen Einfluss auf seine Beschwerden. Einzig „dry needling“ sowie klassische Massage der ischiokruralen und Wadenmuskulatur führten zu einer kurzzeitigen Schmerzabnahme (2–3 Tage), brachten jedoch keine anhaltende Linderung.

Verunsichert durch das Ausbleiben einer Besserung, begab sich der Patient erneut in ärztliche Behandlung. In den folgenden Monaten wurde ein großes Blutbild inkl. Borrelioseabklärung durchgeführt, der Neurostatus (Elektroneurographie N. ischiadicus, N. suralis, N. tibialis, N. peroneus superficialis, N. peroneus profundus) erhoben und die sudomotorische sympathische Reizantwort überprüft.

Des Weiteren wurden eine Ganzkörper-Muskel-Magnetresonanztomographie und eine Muskelbiopsie des M. biceps femoris durchgeführt. Zudem wurden Nahrungsmittelunverträglichkeiten (Zöliakie, Fruktoseintoleranz, Laktoseintoleranz) geprüft, eine Darmspiegelung vorgenommen und eine Abklärung bezüglich mitochondrialer Dysfunktion durchgeführt.

Sämtliche Untersuchungen blieben ohne Befund und es konnte keine den Beschwerden zugrunde liegende Erkrankung ausgemacht werden. So wurde dem Patienten die unspezifische schulmedizinische Diagnose „muskuläre Dysbalance“ gestellt.

Symptomverhalten

Als Hauptproblem nannte der Patient beidseitige intermittierende, diffuse, massive, großflächige Schmerzen an den hinteren Oberschenkeln zwischen der Gesäßfalte und der Kniekehle (Abb. 2). Zudem beschrieb er ziehende, brennende und krampfartige Schmerzen in beiden Waden, die sich teilweise kribbelnd, taub, glasig und zerbrechlich anfühlten (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Bodychart mit Beschreibung der Beschwerden. Die blauen Häkchen weisen darauf hin, dass an den entsprechenden Körperstellen keine Beschwerden angegeben wurden. NRS numerische Ratingskala (0–10; 0 = kein Schmerz, 10 = maximaler Schmerz)

Die Wadenbeschwerden wurden sporadisch begleitet von einem Kälte- und Schweißgefühl an den Füßen. Eine klare Unterscheidung der beiden Schmerzgebiete (Abb. 2) war für den Patienten schwierig, da die Beschwerden meist zusammen auftraten.

Einschränkungen im Alltag verspürte er beim Sitzen (>30 min). Des Weiteren klagte der Patient über Probleme bei körperlicher Betätigung wie beim kürzlichen Wandern mit dem Großvater (>1 h), langsamem Joggen (>1 km), „Stop-and-go-Belastungen“ und Snowboarden (Tab. 2).

Tab. 2 Die wichtigsten Parameter aus der Anamnese in Anlehnung an die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)

Linderung verschafften ihm Dehnung der Oberschenkel- und Wadenmuskulatur, Ruhe, eine weiche Sitzunterlage, Reduktion der provozierenden Aktivitäten sowie Verzicht auf Sport.

Im Tagesverlauf beschrieb der Patient morgens ein Schweregefühl der Beine, als wären diese übersäuert. Das Schweregefühl nahm im Verlauf des Tages ab. Die Beinschmerzen jedoch unterlagen keinem 24 h-Rhythmus und waren tagsüber positions- bzw. haltungsabhängig. In der Nacht war der Patient beschwerdefrei.

Als Ziel nannte er Schmerzfreiheit im Alltag und beim Sport.

Zum Erfassen der Einschränkungen im täglichen Leben wurde die Patient-Specific Functional Scale (PSFS) eingesetzt ([12]; Tab. 2). Die PSFS wurde aufgrund ihrer Reliabilität, Validität und Responsivität (Empfindlichkeit für Veränderung) ausgewählt [12]. Dabei wurde der Patient aufgefordert, seine vorhandenen Einschränkungen bei von ihm ausgewählten Aktivitäten auf einer Skala von 0 bis 10 zu quantifizieren (0 = maximale Einschränkung, 10 = keine Einschränkung).

Infolge der unspezifischen medizinischen Diagnose und der Tatsache, dass seine Beschwerden nur bei ausgewählten Aktivitäten auftraten, wurde kein diagnosespezifischer Fragebogen eingesetzt.

Spezielle Fragen

Der Patient erfreute sich eines guten Allgemeinzustands, Nebendiagnosen waren ihm nicht bekannt, und er gab anamnestisch weder Rückenschmerzen noch Störungen von Miktion, Defäkation, Sensorik oder Motorik an. Husten, Niesen und Pressen waren schmerzfrei möglich. Anamnestisch konnten weder „red flags“ ausgemacht noch Kontraindikationen für eine Behandlung erkannt werden.

Zum Zeitpunkt der Anamnese nahm der Patient keine Medikamente ein. Durch eine frühere, vorübergehende Einnahme von entzündungshemmenden Medikamenten (nichtsteroidale Antirheumatika) konnten seine Beschwerden nicht beeinflusst werden. Im Gespräch erwähnte der Patient, dass er vor 5 Jahren an einer generalisierten Angststörung litt, die mit Escitalopram erfolgreich behandelt werden konnte.

Die Beinbeschwerden des Patienten waren nicht stressabhängig. Um den Einfluss von katastrophisierenden Gedanken und Angstvermeidungsverhalten auf die Beschwerden evaluieren zu können, wurden dem Patienten die Pain Catastrophizing Scale (PCS) und der Fear Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ), zwei valide und reliable Fragebogen, zur Beantwortung vorgelegt und anschließend ausgewertet [13, 14].

In der PCS erreichte der Patient 7 von 52 möglichen Punkten. Das war ein tiefer Wert und konnte als klinisch nicht relevant interpretiert werden [15]. Beim FABQ wurden insgesamt 23 von 96 Punkten angegeben. In beiden Subskalen waren die erreichten Werte deutlich tiefer als die in der Literatur vorgeschlagenen Cut-off-Werte [14, 16]. Zudem konnten im Gespräch keine weiteren „yellow flags“ ausgemacht werden. Dies wies darauf hin, dass der Einfluss von psychosozialen Faktoren auf die Beschwerden des Patienten klein war.

Körperliche Untersuchung

Neurologie

Zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung war der Patient beschwerdefrei. Da er in der Anamnese von Taubheitsgefühlen in den Beinen berichtet hatte, wurde zu Beginn der Untersuchung eine neurologische Testung (Sensorik, Motorik, Reflexe) der unteren Extremität durchgeführt – ohne Befund.

Funktionelle Demonstration

Im Rahmen der funktionellen Demonstration wurde der Patient aufgefordert, Sprünge, Ausfallschritte und einbeinige Kniebeugen auszuführen. Es konnten weder Beschwerden provoziert noch Defizite erkannt werden.

Fersen- und Zehengang waren problemlos möglich, wobei der Fersengang die Schmerzen in den Waden reproduzierte (Tab. 2). Der Finger-Boden-Abstand war null und verursachte keine Beschwerden; die neurodynamische Provokation über Nackenflexion war negativ.

Aktive und passive Untersuchung

Die aktive und passive Untersuchung sowie Provokationstests von Lendenwirbelsäule, Iliosakral‑, Hüft- und Kniegelenken waren unauffällig. Die passive Untersuchung der Brustwirbelsäule in Bauchlage löste weder Beschwerden aus noch ließen sich vergleichbare Zeichen finden.

Durch aktive und passive Dorsalextension des Fußes in Knieextension konnten die Schmerzen in den Waden ausgelöst werden (Abb. 4; Tab. 3).

Tab. 3 Die wichtigsten Parameter aus der körperlichen Untersuchung. Die Intensität der reproduzierten Schmerzen war zum Zeitpunkt der Befundaufnahme seitengleich

Neurodynamik

Die Palpation des N. ischiadicus und dessen Ausläufer waren beidseits ohne Befund. Aufgrund der dorsalen Beinschmerzen wurde auf beiden Seiten eine neurodynamische Untersuchung des N. ischiadicus vorgenommen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Neurodynamische Untersuchung. a Slump-Test, b Straight-Leg-Raise(SLR)-Test

Im Slump- und im Straight-Leg-Raise(SLR)-Test zeigte sich kein Seitenunterschied. Die neurodynamische Differenzierung war negativ und die Beschwerden des Patienten konnten nicht reproduziert werden.

Auch SLR-Betonungen des N. tibialis (Dorsalextension, Eversion), N. peroneus (Plantarflexion, Inversion) und N. suralis (Dorsalextension, Inversion) waren unauffällig.

Palpation

Durch lokale Palpation der ischiokruralen und tiefen Gesäßmuskulatur konnten keine bekannten Schmerzen reproduziert werden. Eine mögliche „Referred-pain-Problematik“ ließ sich dadurch nicht bestätigen.

Die Palpation des lateralen M.gastrocnemius-Kopfs reproduzierte auf beiden Seiten die bekannten Schmerzen des Patienten (Tab. 3).

Die Beschwerden des Patienten konnten sowohl an den dorsalen Oberschenkeln als auch in den Waden durch „pinching“ (Kneifen; [9]) des subkutanen Bindegewebes reproduziert werden (Abb. 4; Tab. 3).

Abb. 4
figure 4

a Dorsalextension des Fußes in Knieextension und b „pinching“ reproduzierten in beiden Beinen die bekannten Beschwerden des Patienten

Denkprozess und Interpretation nach dem FDM

Im Folgenden wird der FDM-Denkprozess vorgestellt und die Beschwerden des Patienten werden nach dem FDM interpretiert. Dies geschieht unter Einbeziehung seiner Beschwerdegestik (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Beschwerdegestik. a Flächiges Streichen am dorsalen Oberschenkel. b Streichen mit mehreren Fingern entlang einer Linie. c Kneten der Wade

Die Beschwerden an den dorsalen Oberschenkeln zeigte der Patient durch wiederholtes flächiges Streichen der betroffenen Körperregion (Abb. 5a). Während des Beschreibens der Wadenbeschwerden strich der Patient intuitiv mit mehreren Fingern entlang einer Linie (Abb. 5b) und knetete das Gewebe (Abb. 5c).

Um eine FDM-Diagnose zu stellen, werden alle 4 Diagnosekriterien – Beschwerdegestik, subjektive Beschwerden, Entstehungsmechanismus, objektive Befunde – auf die Beschwerden des Patienten angewandt (Tab. 45 und 6).

Tab. 4 Anwendung der 4 Diagnosekriterien auf die Beschwerden an den dorsalen Oberschenkeln
Tab. 5 Anwendung der 4 Diagnosekriterien auf die ziehenden Beschwerden in den Waden
Tab. 6 Anwendung der 4 Diagnosekriterien auf die krampfartigen Beschwerden in den Waden

Die Schmerzen an den dorsalen Oberschenkeln wurden nach dem FDM als Zylinderdistorsion [10] diagnostiziert, während die Beschwerden in den Waden als eine Kombination von Triggerband [10] und Zylinderdistorsion [10] interpretiert wurden.

Bei der Beschwerdeinterpretation aus Sicht des FDM deutete die Diskrepanz zwischen kaum objektivierbaren Befunden und dem hohen Leidensdruck des Patienten auf eine Zylinderdistorsion hin [8,9,10]. Die Schmerzen waren weder durch Bewegungen noch durch Dehnungen oder Palpation reproduzierbar, konnten jedoch durch „pinching“ ausgelöst werden [8,9,10].

Typaldos beschrieb in seinen Schriften, dass die Zylinderfaszie der Stoßdämpfer des Gewebes sei und eine Störung in diesen Gewebestrukturen zu deren Funktionsversagen führe [10]. Diese Annahme könnte erklären, warum längeres Sitzen für den Patienten beinahe unerträglich war. Im FDM-Denkprozess werden Zylinderdistorsionen als eine Verwringung bzw. ein Verheddern der Zylinderfaszie gesehen (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

a Zylinderfaszie, b Zylinderdistorsion, c bandartige Faszie, d Triggerband ohne Adhäsionen, e Triggerband mit Adhäsionen nach dem Fasziendistorsionsmodell. (Aus [9], mit freundl. Genehmigung © Archiv EFDMA, www.fdm-europe.com, alle Rechte vorbehalten)

Die Tatsache, dass die Schmerzen in den Waden durch Druckpalpation und Dehnung reproduzierbar waren, kann im FDM durch das Vorhandensein eines Triggerbands erklärt werden [9].

Die bandartige Faszie schützt den Körper vor vertikal einwirkenden Kräften [9]. Laut Typaldos entstehen Triggerbänder durch Scherkräfte, die zu einer Trennung und einer Verdrehung der bandartigen Faszie führen ([9]; Abb. 6).

Bedeutung der FDM-Diagnose für die FDM-Behandlung

Aus den gestellten Diagnosen (Zylinderdistorsion und Triggerband) lassen sich nach dem FDM-Denkprozess spezifische FDM-Behandlungen ableiten.

Zylinderdistorsionen werden entsprechend mit Zylindertechniken behandelt [10]. Deren Ziel ist, die verhedderte Zylinderfaszie zu entwirren ([9]; Abb. 6).

Triggerbänder werden mit der Triggerbandtechnik behandelt, die darauf abzielt, das getrennte und verdrehte Faszienband wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen ([9, 10]; Abb. 6).

Behandlung

Über einen Zeitraum von 3 Monaten wurden 8 halbstündige Behandlungen durchgeführt. Die ersten 5 Behandlungen erfolgten wöchentlich. Im weiteren Verlauf wurde alle 2 Wochen behandelt und von der 7. zur 8. Behandlung eine 4‑wöchige Behandlungspause eingelegt.

Zu Beginn jeder Sitzung wurden in einem Gespräch Veränderungen der subjektiven Beschwerden und der Einschränkungen im Alltag erfasst. Zudem erfolgten eine Überprüfung der objektiven Befunde bzw. Wiederbefunde und eine Interpretation der jeweiligen Beschwerdegestik.

Behandlung 1

Der Patient wurde vor der 1. Behandlung darüber informiert, dass die eingesetzten Behandlungsgriffe während der Durchführung schmerzhaft sein könnten. Zudem wurde ihm mitgeteilt, dass nach der Behandlung eine kurzzeitige Zunahme seiner Beschwerden, Hautrötungen oder Hämatome auftreten könnten [9]. Die Dosierung der Behandlung wurde laufend dem Feedback des Patienten angepasst.

Als subjektives Hauptproblem nannte der Patient beidseitige dorsale Oberschenkelschmerzen. Da diese ihn beim Sitzen stark einschränkten und einen hohen Leidensdruck erzeugten, wurde die Behandlung in der 1. Phase auf diese Problematik ausgerichtet.

Die Beschwerden wurden mit spezifischen Zylindertechniken [10] behandelt. Die durchgeführten Handgriffe in der 1. Sitzung bestanden aus der Pinch-Technik [9] an beiden Oberschenkeln (Abb. 7). Dabei wurde das Gewebe beidhändig zwischen Zeigefingern und Daumen abgehoben und verschoben [9].

Abb. 7
figure 7

Pinch-Technik am dorsalen Oberschenkel

Direkt nach der Behandlung gab der Patient an, dass sich seine Oberschenkel gelöst, leicht und frei anfühlten. Aufgrund der fehlenden Reproduzierbarkeit der Oberschenkelbeschwerden in der körperlichen Untersuchung wurde kein Wiederbefund durchgeführt.

Um die Reaktion auf diese Behandlung evaluieren zu können, wurde der Patient aufgefordert, seinen Alltag wie bisher weiterzuführen. Auf eine Heimübung wurde bewusst verzichtet, um die Reaktion auf die durchgeführte Behandlung nicht zu beeinflussen.

Behandlung 2 und 3

Der Patient hatte gut auf die erste Behandlung angesprochen und berichtete eine Woche später, dass er länger schmerzfrei sitzen konnte. Aufgrund dieser Rückmeldung wurde der Patient während zwei weiterer Sitzungen an den dorsalen Oberschenkeln behandelt.

Die Pinch-Technik wurde intensiviert und durch weitere Zylindertechniken, wie Squeegee- und Schröpftechnik („cupping“; [9]) ergänzt (Abb. 8). Mit der Squeegee-Technik wurden die dorsalen Oberschenkel unter starkem, gleichmäßigem und flächigem Druck mehrmals ausgestrichen [9].

Abb. 8
figure 8

a Squeegee-Technik am rechten dorsalen Oberschenkel. b „Cupping“

Beim „cupping“ wurden mehrere Schröpfgläser während bis zu 5 min gleichzeitig auf das Gewebe appliziert, und der Patient wurde aufgefordert, sich währenddessen zu bewegen („cupping with movement“ [9]). Die ausgeführten Bewegungen beinhalteten unter anderem Hüftflexion und -extension, Gehen und Kniebeugen.

Um die Selbstwirksamkeit des Patienten zu fördern und ihm die Möglichkeit zu geben, seine Beschwerden selbstständig positiv zu beeinflussen, wurde ihm ein Schröpfset zur Selbstbehandlung mit nach Hause gegeben. Er wurde instruiert, mehrere Gläser 2‑ bis 3‑mal pro Woche für mehrere Minuten auf den betroffenen Stellen anzubringen und sich damit zu bewegen (Abb. 9).

Abb. 9
figure 9

Heimübung mit „cupping“ und gleichzeitigen Kniebeugen

Behandlung 4 und 5

Mittlerweile erfreute sich der Patient einer deutlichen Abnahme seiner Beschwerden. Im beruflichen Alltag verspürte er weniger Schmerzen beim Sitzen. Zudem war es für ihn wieder möglich, 2‑mal pro Woche 5 km zu joggen und 2 Tage hintereinander zu snowboarden, ohne Beschwerden an den Oberschenkeln zu verspüren.

Die beidseitigen Wadenschmerzen, die beim Joggen, Snowboarden und Bergaufgehen nach wie vor auftraten, waren für den Patienten noch störend. Ab der 4. Behandlung wurde der Fokus deshalb auf die Beschwerden in den Waden gelegt.

Die Therapie beinhaltete die Triggerbandtechnik und Zylindertechniken dorsal beider Wadenbeine. Bei der Triggerbandtechnik wurde die Daumenspitze unter gleichmäßigem, kräftigem Druck entlang der linienförmigen Schmerzen des Patienten geführt ([9]; Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Triggerbandtechnik an der rechten Wade

Als Wiederbefund wurde der Fersengang getestet, der direkt nach der Intervention deutlich weniger Schmerzen verursachte.

Der Patient wurde instruiert, als Heimprogramm täglich seine Wadenmuskulatur zu dehnen und zu kräftigen, die körperliche Belastung zu steigern und die Waden mit den Schröpfgläsern zu behandeln.

Behandlung 6 und 7

Bei den folgenden Behandlungen wurden die bewährten Interventionen (Triggerbandtechnik und Zylindertechniken) fortgesetzt. Die Dosierung der angewandten Handgriffe konnte kontinuierlich gesteigert werden, da der Patient diese immer besser tolerierte.

Der Patient wurde aufgefordert, die Schröpftherapie weiterhin mehrmals pro Woche selbstständig durchzuführen (hinterer Oberschenkel und Wade beidseits) sowie das Training, bestehend aus Wandern und Joggen, weiter zu steigern.

Behandlung 8

Der Patient berichtete über eine sehr positive Entwicklung im vergangenen Monat. Das gesamte rechte Bein verursachte keine Probleme mehr. Lediglich am linken dorsomedialen Oberschenkel verspürte er noch leichte Schmerzen. Aus diesem Grund wurde diese Körperstelle nochmals intensiv mit der Pinch-Technik behandelt.

Weiteres Vorgehen

Aufgrund des erfreulichen Behandlungsverlaufs waren keine weiteren Sitzungen beim Therapeuten notwendig. Der Patient führte die Schröpfbehandlung zu Hause selbstständig weiter und steigerte sein Training kontinuierlich. Mit ihm wurde vereinbart, dass er sich bei Bedarf für weitere Therapiesitzungen jederzeit melden konnte.

Ergebnisse

Nach 8 halbstündigen Therapiesitzungen über einen Zeitraum von 3 Monaten berichtete der Patient von Verbesserungen in allen Bereichen (Tab. 7). Neben den oben beschriebenen FDM-Behandlungen unterzog sich der Patient in diesem Zeitraum keinen anderen Therapien.

Tab. 7 Veränderung der relevanten Parameter über die Zeit der Behandlung

Die Schmerzen an den Oberschenkeln und in den Waden konnten durch die Therapie maßgeblich reduziert werden. Der Patient war dadurch im Alltag und in der Freizeit kaum noch eingeschränkt. Er konnte seinen sportlichen Aktivitäten wieder nachgehen und diese stetig steigern. Für ihn war es wieder möglich, bis zu 3 h schmerzfrei zu sitzen, Wanderungen uneingeschränkt durchzuführen und Joggingrunden von bis zu 12 km zu absolvieren. Das Kälte- und Schweißgefühl an den Füßen sowie das morgendliche Schweregefühl der Beine traten nicht mehr auf.

Der Patient zeigte eine hohe Adhärenz und führte sein Heimprogramm wie vereinbart durch.

Nach 8 Sitzungen war der Patient nicht vollständig beschwerdefrei. Je nach körperlicher Belastung oder bei langem Sitzen (>3 h) traten gewisse Beschwerden am linken dorsalen Oberschenkel wieder auf.

Drei Monate nach Therapieabschluss wurde der Patient telefonisch kontaktiert und nach dem Verlauf seiner Beschwerden gefragt. Er berichtete, dass er diese gut im Griff habe und seit der letzten Behandlung keine Zunahme der Beschwerden zu verzeichnen sei.

Diskussion

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, das FDM vorzustellen und dessen Anwendung zur Behandlung eines Patienten mit komplexen Beinbeschwerden zu präsentieren. Das FDM ist als eigenständiges Diagnose- und Behandlungskonzept zu verstehen, was jedoch ein konsequentes Screening von „red flags“ und das Erfragen von psychosozialen Faktoren während der Befunderhebung keinesfalls ausschließt.

Möglichkeiten des FDM

Der vorliegende Fall zeigt, dass das FDM die Schulmedizin wertvoll ergänzen kann. Die Beschwerden des Patienten waren vor der FDM-Behandlung schulmedizinisch detailliert abgeklärt worden. Dank dieser umfangreichen schulmedizinischen Diagnostik konnten schwerwiegende Erkrankungen ausgeschlossen werden.

Aufgrund der fehlenden Befunde blieb eine klare medizinische Diagnose aus und die Beschwerden ließen sich schulmedizinisch nicht erklären. Dadurch bestand Unklarheit darüber, welche Therapie eingesetzt werden sollte. Der Patient empfand eine große Diskrepanz zwischen dem Ausbleiben objektiver Befunde und seinem hohen Leidensdruck, was ihn zunehmend verunsicherte.

Die alternative Betrachtungsweise der Beschwerden des Patienten mit dem FDM eröffnete neue und weiterführende Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Insbesondere durch den Einbeziehung der Beschwerdegestik des Patienten konnten seine diffusen Beschwerden interpretiert und kategorisiert werden, was zu einer spezifischen FDM-Diagnose führte. Daraus ergaben sich klare, spezifische und effektive Behandlungsoptionen.

Sicht des Patienten

Der Patient wurde nach Abschluss der FDM-Therapie gefragt, wie er die letzten 3 Monate empfand. Er gab an, dass er nach der lang andauernden schulmedizinischen Diagnostik sowie zahlreichen Therapiesitzungen dankbar war, dass seine Beschwerden aus einem neuen Blickwinkel beurteilt wurden. Er schätzte zudem, dass ihm eine effektive und nachhaltige Behandlungsoption geboten und ihm gezeigt wurde, was er aktiv gegen seine Beschwerden unternehmen konnte. Die Schmerzhaftigkeit der Behandlung sei für ihn kein Kriterium gewesen, die Behandlung abzubrechen. Zum ersten Mal habe er gemerkt, dass die betroffenen Gewebestrukturen mit der nötigen Intensität behandelt wurden.

Forschung und Evidenz gefordert

Das FDM ist ein relativ junges und somit noch wenig evidenzbasiertes Modell. Es wurde bereits in Ambulatorien für physikalische Medizin von Ärzten und Therapeuten auf seine Anwendbarkeit und Effizienz getestet – mit vielversprechenden Resultaten [17, 18]. In den letzten Jahren wurden diverse wissenschaftliche Arbeiten publiziert, die das FDM v. a. auf seine Wirksamkeit bei verschiedenen Beschwerdebildern am Bewegungsapparat überprüften [19]. So zeigte eine randomisierte kontrollierte Studie aus dem Jahr 2012 [20], dass eine Therapie nach dem FDM eine wirksame Intervention zur Behandlung der „frozen shoulder“ sein kann und gegenüber einer herkömmlichen manuellen Therapie sogar bessere Behandlungserfolge brachte [20].

Das Ziel einer modernen und nachhaltigen Medizin soll u. a. sein, eingesetzte Therapiemethoden kritisch auf ihre Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen [1]. Zunehmend wird gefordert, Forschungsarbeiten über Therapiemaßnahmen, die mit weniger Aufwand die gleichen oder bessere Ergebnisse erzielen, durchzuführen [1]. Das FDM wird sich dieser Prüfung weiter stellen müssen, um von Geldgebern, der Gesellschaft und von Fachpersonen als wirksames und effektives medizinisches Konzept anerkannt zu werden.

Schlussfolgerungen

Der Leidensdruck und die Einschränkungen im Alltag eines Patienten mit beidseitigen Beinbeschwerden konnten durch den Einsatz des FDM innerhalb weniger Therapiesitzungen deutlich reduziert werden.

Die angewandten Behandlungstechniken wurden durch das Erfragen subjektiver Veränderungen und durch Wiederbefunde kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit überprüft. Eine ausführliche Anamnese und eine hypothesengesteuerte körperliche Untersuchung, unter Einbeziehung der Beschwerdegestik des Patienten, bildeten die Grundlagen des Behandlungserfolgs.