Frau Prof. Lieselotte Gerhard (Abb. 1), von ihren Mitarbeitern und nahestehenden Kollegen „Madame“ genannt – natürlich nicht in ihrer Anwesenheit –, verstarb im Alter von 84 Jahren am 17.02.2010. Wer sie kannte, kann nur bestätigen, was auf der Todesanzeige stand: „Ein außergewöhnliches Leben hat sich vollendet.“

Abb. 1
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Lieselotte Gerhard

Sie kam am 24.08.1925 auf die Welt, und zwar in Potsdam. Ihr als Bankkaufmann tätiger Vater wurde 1930 versetzt, und so kam Lieselotte Gerhard 1930 nach Krojanke/Westpreußen, wo sie von 1933 bis 1936 die Volksschule besuchte. Eine weitere berufliche Veränderung des Vaters brachte sie über Koblenz in jene Region, der sie bis zu Ihrem Lebensende verbunden blieb, nämlich die Eifel (Darscheid bei Daun). Im Essener Institut wusste jeder, was „Eifel“ bedeutet, nämlich jenes eher bescheidene Anwesen mitten im Dorf, gleich auffällig durch einen üppigen Garten, Begegnungsstätte von Doktoranden, Mitarbeitern, Freunden bzw. Kollegen zum Beispiel anlässlich des jährlichen „Backesfestes“ im August, ihrem Geburtsmonat (und dann ziemlich feucht und fröhlich).

Das Leben von Lieselotte Gerhard ist aber keineswegs immer fröhlich gewesen, das lag schon an den Zeiten und Umständen, in denen sie als junge Frau aufwuchs – Kriegsjahre, die ärmliche Nachkriegszeit, der Vater in Gefangenschaft und danach mit beruflichen Schwierigkeiten, die Mutter krank. Und in den späteren Jahren, mitten im beruflichen Erfolg, bremste eine schwerwiegende Erkrankung den weiteren Fortgang. Zunächst aber: nach Besuch der Oberschulen in Mayen bei Koblenz sowie in Prüm/Eifel, wo am 01.02.1944 das Abitur abgelegt wurde, kam – ganz unakademisch und anders als bei heutigen Karrieren – der „RAD“ (Reichsarbeitsdienst) bis Ende Oktober 1944, dann eine Tätigkeit „in der Landwirtschaft“, zunächst in der Eifel, sodann in Südbaden. Der Bauer des „Markenhofes“ bei Kirchzarten bescheinigte in seinem Zeugnis vom 01.07.1946: „Besondere Geschicklichkeit legte sie in den Gartenarbeiten zu tage …“. Der Garten war ihr Hobby, ihre Leidenschaft, und am liebsten waren „Madame“ Doktoranden „mit fahrbarem Untersatz“, denn es gab in Darscheid immer etwas zu ernten oder zu richten.

Von Kirchzarten ist es nicht weit bis Neustadt/Schwarzwald. Dort wirkte – in einem privaten Hirnforschungsinstitut und zusammen mit seiner ebenfalls forschenden Frau Cécile – Prof. Oskar Vogt, im Nazideutschland als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung in Berlin-Buch sozusagen entfernt, als Neurologe und Psychiater nach wie vor gefragt und als Hirnforscher schon in den 20er-Jahren so renommiert, dass er nach Moskau berufen worden war, um Lenins Hirn zu untersuchen. Gerhard hatte schon als Oberschülerin den Wunsch, Medizin zu studieren. Die momentanen Zeiten und persönlichen, familiären Umstände ließen das nicht zu. Sie ging als Praktikantin – von Juli 1946 bis September 1947 – zu Vogt und lernte von der Pike auf, wie Neurohistologie geht, vor allem auch technisch. Hier konnte ihr keiner etwas vormachen, hier, nämlich im Vogtschen Institut, entdeckte sie ihre Liebe zur Morphologie, insbesondere zur klassischen Neurohistologie, die ihr weiteres Leben bestimmen sollte. Empfehlungsschreiben von Hubert Meessen, der vor der einrückenden russischen Armee von Prag in sein Wochenendhaus im Schwarzwald geflüchtet war und bei den Vogts wissenschaftliche Zuflucht gefunden hatte, führten leider nicht zur Immatrikulation an der nahen Freiburger Universität. Dies gelang aber zum Wintersemester 1947/48 in Tübingen. Dort absolvierte Gerhard das Physikum und setzte dann das Medizinstudium an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf fort, wohin Meessen 1949 den Ruf auf das Ordinariat für Pathologie erhalten hatte. Nach dem Staatsexamen im Sommer 1953 folgte zunächst ein Volontariat, natürlich bei Oskar Vogt in Neustadt, wo wesentliche neurohistologische Arbeiten, unter anderem für die Dissertation, erledigt wurden (Abb. 1). Diese erfolgte im August 1955 in Düsseldorf mit der Schrift: „Kleinhirnveränderungen bei amaurotischer Idiotie“.

Der weitere Werdegang Lieselotte Gerhards wurde nun ganz entscheidend geprägt – es war dies auch später immer wieder Gesprächsthema – durch ein Research-Fellowship bei Wilder Penfield, einem damals wohl weltbekannten Neurochirurgen und Hirnforscher, im „Montreal Neurological Institute“ an der McGill-University (1955 bis 1957). Hier, an dieser großen internationalen Forschungsstätte, gab es nicht nur viel zu sehen und zu lernen, sondern neue Einblicke und persönliche Kontakte zu ganz verschiedenen Wissenschaftlern: zur vergleichenden Neuroanatomie, Neurophysiologie, Neuropathologie, Neurologie und Neurochirurgie und damit auch zur „Klinik“, die „Madame“ ihr Leben lang sehr am Herzen lag, wo sie sich – auch als Morphologin – auskannte und Erfahrung hatte, was seitens der klinischen Kollegen sehr geschätzt und auch nachgefragt wurde. Reichlich wissenschaftliche Ideen und Eindrücke im Gepäck, wurde die Arbeit in Düsseldorf bei Meessen fortgesetzt und mit einem neuroanatomischen Thema am 19.07.1962 die Habilitation für „Allgemeine Pathologie und Neuropathologie“ abgeschlossen. Der bei Springer erschienene Atlas (Format 28×35 cm) trägt den Titel: „Atlas des Mittel- und Zwischenhirns des Kaninchens“, er ist eine klassiche Studie zur „Cyto- und Myeloarchitektonik“. Die großformatigen Abbildungen darin – mit der optischen Bank aufgenommen – sind so scharf, dass man jede einzelne Nervenzelle noch erkennen kann.

Im Düsseldorfer Institut wurde auf breiter Ebene klassische Hirnforschung betrieben – und „gesammelt“ (was bei der damals noch hohen Sektionsfrequenz und einer eigenen Prosektur in Grafenberg, dem großen psychiatrischen Landeskrankenhaus) eine auch für spätere Generationen fruchtbringende Tätigkeit war (auch für den Unterzeichneten). Nach dem Ruf auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Neuropathologie an der Universität/Gesamthochschule Essen (1973) hieß es scherzhaft, „Madame“ habe ein Schiff im Düsseldorfer Hafenbecken geordert, um die umfängliche Paraffinblock- und Schnittsammlung nach Essen zu transportieren. „Gerhardine“ hatte damals schon das Gespür dafür, wie wichtig gerade eine gut organisierte Materialsammlung – einschließlich der ausführlichen Krankengeschichten (!) – für die Erforschung primärer – auch psychiatrischer – Hirnerkrankungen ist, vor allem im Hinblick auf neue Methoden. Der Sektionssaal war ein ganz wesentliches Standbein und Ausganspunkt Gerhardscher Forschung. Die Themen gingen über Degeneration, insbesondere Alzheimer, zu Kreislaufstörungen, Trauma, Epilepsie, Stoffwechsel, und hatten immer einen engen neuroanatomischen und klinischen Bezug. Für Gerhard war eine umfassende, klinisch und pathologisch-anatomisch subtil aufgearbeitete Kasuistik wertvoller und lehrreicher als manche „große Untersuchungsserie“. Und pathologisch-anatomisch ist hier wörtlich zu nehmen. Gerhard hat – Konsequenz ihrer langjährigen Tätigkeit in der Düsseldorfer Pathologie – nie die Hirnuntersuchung allein zu einer abschließenden Beurteilung herangezogen. Das Essener Institut zeichnete sich eben dadurch aus, dass komplette Sektionen durchgeführt wurden, nicht nur im eigenen Haus, sondern vielfach in auch schon weiter entfernt gelegenen Kliniken und Anstalten mit neurologischen und psychiatrischen Patienten. Die ganze Thematik dessen, was heute unter „brain banking“ subsummiert wird, hat Gerhard damals schon im Blick gehabt.

Das Essener Institut für Neuropathologie war wenige Jahre nach seiner Etablierung hoch angesehen, wie auch seine Direktorin, die erste Lehrstuhlinhaberin für Neuropathologie in der BRD. Im Jahr 1979 tagte die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN) in Essen. Gesondert eingeladen waren die Kollegen aus Polen, zu denen Gerhard eine intensive, freundschaftliche Beziehung pflegte. Letzteres traf auch auf die Kollegen in Wuhan/China zu, bei deren Besuch im Institut sich gesprächsweise ergab, dass einige der älteren z. B. in Tübingen ehemals Jahre ihrer Assistenzarztzeit verbracht hatten.

Überschattet wurde diese erfolgreiche Zeit des schon gelungenen Aufbaus und der weiteren Etablierung des Instituts durch eine bösartige Tumorerkrankung, diagnostiziert Ende 1982, von der sich „Madame“ aber – in ihrer eigenen Zähigkeit – für alle überraschend schnell erholte, sodass sie bald wieder im Institut war. Zahlreiche Doktorarbeiten liefen hier nach wie vor durch, von späteren Psychiatern, Neurologen, Neuroradiologen, aber auch Neuropathologen. Habilitiert wurde unter Gerhard aber niemand, jedenfalls nicht für Neuropathologie. Habilitationen von Oberärzten aus der Essener Neurochirurgie – damals unter Wilhelm Grote – wurden in ihrem morphologischen Teil der zumeist experimentellen Studien von Gerhard mitbetreut. Neben Fortbildungsreferaten bei den Neurochirurgen engagierte sich Gerhard in der DGNN – als Schriftführerin und Schatzmeisterin (wobei die Verwaltung des Geldes eher nicht ihr Thema war). Sie war, auch nach ihrer Emeritierung 1993, bis ins hohe Alter (und dann schon von weiteren Leiden gezeichnet und später im Rollstuhl sitzend) regelmäßige und diskutierende Teilnehmerin auf den Jahrestagungen der DGNN. Sie etablierte nach ihrem Abgang in Essen und weiterhin hoch motiviert für ihre „klinische Neuropathologie“ ein kleines Institut bei W. Ischebeck, einem neurochirurgischen Kollegen aus alten Düsseldorfer Zeiten, in Hattingen/Ruhr (Klinik Holthausen). Sie hielt studentischen Unterricht und war konsiliarisch für die Wuppertaler Pathologie unter Störkel tätig, kurzum, sie wollte und konnte nicht aufhören, denn die Neuropathologie war ihr Leben.

Zu Ihrem 80. Geburtstag waren einige ehemalige Weggenossen „in der Eifel“. Madame ging es in dieser Zeit schon wirklich nicht mehr gut. Unterkunft und Pflege fand sie in einem Heim nahe Darscheid. Am 17.02.2010 war das Leben von Frau Prof. Gerhard zu Ende. Zur Trauerfeier in Daun war Musik von Johann Sebastian Bach zu hören. Nach Leipzig ging auch die Asche der Verstorbenen, die jenen, deren Weg sie zu Lebzeiten gekreuzt hatte, als außergewöhnliche Persönlichkeit in Erinnerung bleibt.

Wolfgang Feiden, Trier