Für die Erforschung der ursächlichen Pathomechanismen menschlicher Krankheiten stellen Mausmodelle das Mittel der Wahl dar. Sie können durch Genmanipulation (z. B. „Knock-out“/“Gene trap“) oder mittels Bestrahlung/chemischer Mutagenese erzeugt werden. Ersteres führt durch das Ausschalten eines bestimmten Gens zu einem bestimmten, evtl. unbekannten Phänotyp („backward genetics“), während man bei Letzteren über den Phänotyp auf die kausale Mutation schließt („forward genetics“). Viele Studien zeigen, dass N-ethyl-N-nitrosourea (ENU) für die chemische Mutagenese das Mittel der Wahl darstellt [14].

ENU-Mauslinien als Modelle für menschliche Krankheiten

ENU führt direkt und ohne vorherige Metabolisierung durch Übertragung seiner Ethylgruppe zu einer Alkylierung in allen 4 DNA-Basen. Hierdurch entsteht ein Basenaustausch und somit eine Punktmutation an einer beliebigen Stelle des Genoms, sofern keine DNA-Reparaturmechanismen stattfinden. Vorrangig wirkt ENU auf die DNA von prämeiotischen Stammzellspermatogonien (Abb. 1), aber auch auf eine Vielzahl anderer somatischer Stammzellen. Außer der mutagenen verfügt ENU auch über eine ausgeprägte karzinogene Wirkung. Die so hergestellten Mausmodelle stehen seit mehreren Jahren Wissenschaftlern für Forschungszwecke zur Verfügung. Am Helmholtz Zentrum München wurde das Münchner ENU-Mausmutagenese-Projekt im Jahr 2000 gestartet.

Abb. 1
figure 1

Schematische Darstellung der Spermatogenese und Darstellung der Wirkung von ENU auf prämeiotische Stammzellspermatogonien

Etablierung von ENUMutanten

Im Münchner ENU-Mausmutagenese-Projekt werden Mäusemännchen des Inzuchtstammes C3HeB/FeJ (C3H) mit einer Dosis von 90 mg/kg Körpergewicht (KG) i.p. ENU in 3 wöchentlich auf einander folgenden Injektionen behandelt. Ziel ist die Etablierung neuer dominanter Mausmodelle für menschliche Erbkrankheiten mit dem Schwerpunkt metabolische Erkrankungen. Der C3H-Inzuchtstamm toleriert ENU-Dosierungen von bis zu einmalig 200 mg/kgKG i.p; die behandelten Männchen bleiben zu einem hohen Prozentsatz fertil [9]. In unserem Projekt konnten wir mit der von uns verwendeten Dosierung eine Sterilitätsrate von etwa 52% beobachten. Nach statistischer Kalkulation ist zu erwarten, dass nach einer Injektion von 90 mg ENU/kgKG jedes F1-Tier etwa 20 Mutationen trägt [3].

Infolge der ENU-Behandlung ist eine Sterilitätsdauer von mehreren Wochen bis auch Monaten zu erwarten. Die behandelten Männchen werden 2 Wochen nach der Injektion verpaart, es werden aber nur Nachkommen phänotypisiert (F1-Generation), die mindestens 101 Tage nach der letzten ENU-Injektion geworfen wurden. Der Zyklus der Spermatogenese dauert bei der Maus 35 Tage [1] somit werden 2 vollständige Zyklen der Spermatogenese abgewartet, und es ist gewährleistet, dass diese Nachkommen nur von im Erbgut veränderten Spermien erzeugt wurden.

Wöchentlich werden Tiere der F1-Generation in verschiedenen Altersgruppen in einem standardisierten Arbeitsablauf nach blutbasierten und nichtblutbasierten Merkmalsveränderungen phänotypisiert. Die Blutentnahme erfolgt nach den Richtlinien des Tierschutzgesetztes und unter Genehmigung der Regierung von Oberbayern unter Ätheranästhesie bei 12 Wochen alten Mäusen durch Punktion des retroorbitalen Venenkomplexes. Im Plasma werden das Spektrum der gesamten klinischen Chemie (Olympus AU400, Olympus Hamburg), der Hämatologie, Immunologie und einige Parameter der Endokrinologie gemessen.

F1-Tiere, die im Vergleich zu Wildtyp-Mäusen veränderte Parameter mit mindestens 3 Standardabweichungen zeigen, werden nach 2 Wochen ein zweites Mal getestet. Bei Bestätigung des Phänotyps werden die auffälligen Tiere als so genannte „Founder-Tiere“ mit Wildtyp-Mäusen verpaart. Entsprechend des dominanten Erbgangs sind etwa 50% Mutanten in diesen Bestätigungskreuzungen zu erwarten. Es werden 20 dieser Nachkommen getestet, und im Falle einer bestätigten Penetranz des Phänotyps wird eine Erhaltungszucht der neuen mutanten Linie etabliert (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Zuchtschema zur Bestätigung einer Mutation im dominanten Erbgang

Die Zucht über mindestens 10 Generationen gewährleistet, dass eine Selektion nur nach dem Phänotyp von Interesse geschieht und andere Mutationen herausgekreuzt werden. Die bestätigten Mauslinien erhalten bis zur Sequenzierung der genomischen Lokalisation der Mutation interne Namen. Ausgewählte Modelle werden im Institut für Pathologie am Helmholtz Zentrum München mittels verschiedener Techniken morphologisch und histologisch untersucht.

Kartierung der Mutation

Um eine Mutation genotypisch zu isolieren, erfolgt zunächst eine Rückzucht/Auszucht auf einen anderen Inzuchtstamm. Wir verwenden in unserem Projekt C57BL/6 J-(C57) Mäuse. C3H-Mutanten werden mit Wildtyp-Tieren des C57-Stammes verpaart und die positiven Nachkommen nochmals auf C57 ausgekreuzt. Von den aus diesen zweiten Verpaarungen stammenden Nachkommen werden Schwanzspitzenbiopsien zur DNA-Extraktion genommen (Abb. 3).

Abb. 3
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Auszucht einer Mutation auf einen zweiten Inzuchtstamm. In der zweiten Zuchtphase findet das genomische „Crossing over“ statt

Nach der DNA-Extraktion erfolgt eine Grobkartierung der Lokalisation der Mutation mit einem Panel 158 gleichmäßig über das Genom verteilter SNP-Marker mittels MALDI-TOF-Technologie (Sequenom, San Diego, CA, USA). Es folgt die Kandidatengensuche in der lokalisierten chromosomalen Region und anschließend deren Sequenzierung. Im Institut für Experimentelle Genetik am Helmholtz Zentrum laufen die Strategien der phänotypischen Charakterisierung von ENU-Mausmutanten und der genomischen Kartierung der verursachenden Mutationen parallel im Hochdurchsatzverfahren. Ist der Ort der Mutation am Ende genau bekannt, kann das betroffene Gen mit dem jeweiligen Phänotyp korreliert und auf dessen Funktion geschlossen werden. Viele dieser Mausmodelle wurden wissenschaftlichen Kollaborationen zur Verfügung gestellt und publiziert (z. B. [4, 7, 16]).

Morphologische Untersuchungen ausgewählter Modelle

Das Institut für Pathologie im Helmholtz Zentrum München beschäftigt eine Gruppe von Humanpathologen und Veterinärmedizinern, die langjährige Erfahrung in der morphologischen Phänotypisierung von Tiermodellen für menschliche Erkrankungen haben. Ziel ist es, das Verständnis zu erweitern, wie genetische Veränderungen die menschlichen Krankheiten beeinflussen. Darüber hinaus ist das Institut für Pathologie Teil der Deutschen Mausklinik („German Mouse Clinic“, GMC), die eine einzigartige Institution zur detaillierten Phänotypisierung mutanter Mauslinien in Deutschland darstellt (http://www.mouseclinic.de/).

Das Institut verfügt über eine gute Infrastruktur, die es ermöglicht, alle modernen diagnostischen Techniken, die in der Humanpathologie verwendet werden, auch für die Untersuchung von Nagetiermodellen zu benutzen. Die primäre Untersuchung der ENU-Mauslinien besteht aus einer kompletten morphologischen Untersuchung. Dazu werden 10 männliche (m) und 10 weibliche (w) mutierte Mäuse mit ihren normalen Wurfgeschwistern (10 m und 10 w) verglichen. Tab. 1 gibt einen Überblick über die von uns eingesetzten Methoden und routinemäßig analysierten Organe.

Tab. 1 Methode für detaillierte Phänotypisierung der Mausmodelle im Institut für Pathologie

In den Fällen, in denen die morphologischen Daten allein nicht ausreichen, um zu einer schlüssigen Diagnose zu gelangen, ist die Immunhistochemie (IHC) eine entscheidende technische Hilfe, um Proteinexpressionsprofile auf paraffineingebetteten oder gefrorenen Gewebeschnitten zu bestimmen. Die IHC einzeln oder als Doppelimmunfärbung wird mit einem Färbeautomat (Discovery, Roche Deutschland GmbH) durchgeführt. IHC-Protokolle wurden mit verschiedenen Reagenzien und mehr als 61 spezifischen Antikörpern für Nagetiergewebe etabliert. Die positive Immunfärbung kann dann mit einer Bildanayse-Software kombiniert werden, um die Daten quantitativ zu analysieren. Auch ein Imaging-System für die „virtuelle Mikroskopie“ (Olympus dotslide, Münster, Deutschland), welches Diskussionen und weltweite Konsultationen ermöglicht, ist vorhanden. Ein weiteres von uns häufig benutztes Instrument zur Erkennung der Ultrastruktur einzelner Zellen ist das Transmissionselektronenmikroskop (TEM). Das breite Spektrum an Techniken, die im Institut für Pathologie zur Charakterisierung von Tiermodellen angewendet werden, ist exemplarisch in Abb. 4 a, b, Abb. 5 a–c und Abb. 6 dargestellt.

Abb. 4
figure 4

a Anti-Neurofilament- (NF-) Protein-Immunhistochemie am Gehirn (koronale Abschnitte). Der Antikörper gegen das humane Protein zeigt Kreuzreaktivität mit dem NF-äquivalenten Protein in der Maus und färbt die in der weißen Substanz gelegenen Axone. b Ki-67-Immunhistochemie eines Follikels im zyklischen Ovar zur Berechnung des Proliferationsindexes

Abb. 5
figure 5

Gegenüberstellung von Röntgtenbild (a) und histologischer Darstellung (bc) der Knochenläsion einer Maus

Abb. 6
figure 6

Elektronenoptische Darstellung eines peripheren Nervs (links) und quantitative Daten (rechts) zu Axonkaliber, Myelingehalt (Dichte der Myelinhülle), Anzahl von Schwann-Zellen und Anteil an endoneuralem Bindegewebe

Neurologische Untersuchungen ausgewählter Modelle

Der neurologische Primär-Screen im Institut für Neurologie beinhaltet eine Reihe von Untersuchungen zur Feststellung grundlegender neurologischer Funktionen. Analog zur medizinischen Diagnostik wird anhand eines „SHIRPA-Protokolls“ (http://www.har.mrc.ac.uk/services/phenotyping/neurology/shirpa.html) eine Serie von standardisierten Tests und Beobachtungen durchgeführt, um Auffälligkeiten zu detektieren, Reflexe, Gang, Körpertonus und Aktivitätsparameter zu überprüfen sowie einen Gesamteindruck über den Gesundheitsstatus zu ermöglichen. Zusätzlich wird über eine spezielle Haltevorrichtung für die Vorderextremitäten eine Kraftmessung durchgeführt. Die Bewegungskoordination wird mit einem Rotarod-Test überprüft. Da die Rotationsgeschwindigkeit allmählich zunimmt, müssen die Tiere ihre Bewegung immer neu und mit zunehmender Schwierigkeit anpassen. So kann die Fähigkeit zur Koordination über die Zeit, in der sie entsprechend mitlaufen können, quantifiziert werden [5]. Je nach Protokoll und Wiederholungsmessungen können so auch Ermüdung und/oder motorisches Lernen gemessen werden. Ausgehend von den Ergebnissen dieser Eingangstests können dann gezielt weitergehende Analysen wie z. B. eine automatische Ganganalyse oder elektrophysiologische Messungen (z. B. EMG, evozierte Potenziale, EEG) durchgeführt werden.

Diskussion

Im Laufe des Münchner ENU-Mutagenese-Projekts konnten erfolgreich viele Mausmodelle für menschliche erbliche Erkrankungen etabliert werden (Tab. 2).

Tab. 2 Auswahl von ENU-Mausmodellen für menschliche erbliche Erkrankungen

Zusätzlich bieten Studien an Mausmodellen die Möglichkeit, die Effekte von Punktmutationen auf molekulare Signalwege zu analysieren und Zusammenhänge von Geninteraktionen nachzuvollziehen. Einige der Modelle aus dem Münchner ENU-Mutagenese-Projekt wurden auch in der GMC und im Modul der Pathologie detailliert charakterisiert und phänotypisiert. Gerade hinsichtlich der Pathologie bieten Mausmodelle die unschätzbaren Möglichkeiten, die Auswirkungen von Mutationen auf den gesamten Organismus zu analysieren. Mit Hilfe dieser Strategie war es unlängst u. a. möglich, eine neue Mauslinie mit neurologischem Phänotyp (Kachexie, Ataxie, Tremor) zu etablieren, die als Modell für ein Krankheitsbild entsprechend einer hereditären sensorischen und motorischen Neuropathie (HSMN) dienen könnte. Die SNP-Analyse zeigte eine Lokalisation bei den Markern rs26982471 und rs27041242 auf Chromosom 11 (53.99–98.55 Mb, Build 37.1).

Die hier vorgestellten Beispiele aus dem Münchner ENU-Mausmutagenese-Projekt verdeutlichen, wie die Zusammenarbeit verschiedenster Gruppen des Helmholtz Zentrums zur Identifizierung medizinisch relevanter Phänotypen und der zugrunde liegenden Gene, analog zur Untersuchung von Patienten in der Klinik, beitragen kann.