Jeder Mensch hat seine persönliche, individuelle Form der Angst, die zu ihm und seinem Wesen gehört, wie er seine Form der Liebe hat und seinen eigenen Tod sterben muß. (Riemann 1961)

Hinführung zum Thema

Angst ist etwas Subjektives, eine – wie auch der Tod – persönliche, individuelle Angelegenheit. Weil der Tod jeden als Einzelnen betrifft, „muß jeder ganz von Neuem sich mit dem Tod auseinandersetzen“ (Steinfath 1987). Durch die Konfrontation mit der eigenen Angst vor der eigenen Endlichkeit kann sich der Blick auf das eigene Leben ändern und sogar dazu motivieren, dass eigene Dasein bewusster zu gestalten. Eine zutreffende Formulierung für diesen Aspekt findet sich bei Tugendhat (2006): „Im Verhalten zum Tod – dem Ende meines Lebens – werde ich meines Lebens ansichtig“. Andererseits könnte gerade aber das Bilanzieren des bisherigen Lebens zu der Angst und Sorge um ein Leben nach dem Tod beitragen. Die Reaktionen, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Tod und der daraus resultierenden Angst ergeben, sind also vielfältig: Sie reichen von Verdrängung im Sinne einer „neurotischen Todesverleugnung“ (Fuchs 2003) und Abwehr (z. B. Meyer 1973) bis hin zu absoluter Akzeptanz (Wong und Tomer 2011; Reidick 2013). Wann und in welcher Form welche Mechanismen (supportiv als Coping) eingreifen bzw. in ihrer Funktion versagen, ist weiterhin nicht ausreichend verstanden.

Einleitung

Sehr viel Licht in die Thematik der Todesangst konnten die Terror-Management-Theorie (Becker 1973; Pyszczynski et al. 2015) und die dazugehörigen Befunde bringen. Die Terror-Management-Theorie kann ihr zentrales Postulat immer wieder empirisch gut nachweisen: Um den unaushaltbaren „Terror“ des Bewusstseins der Sterblichkeit zu „managen“, versuchen Menschen, entweder ihren Selbstwert zu stärken oder sich der Zugehörigkeit zu einer als wertvoll erachteten Weltanschauung zu versichern. Die dadurch erreichte „symbolische Unsterblichkeit“ würde einen Puffer gegen die aversive Todesangst und die beiden Strategien würden effektive Coping-Strategien darstellen. Eventuell tragen dazu auch Persönlichkeitseigenschaften bei.

Persönlichkeitseigenschaften wie hoffnungsvoller Optimismus, positive Grundeinstellung usw. scheinen die Todesangst zu verringern. Allerdings finden sich diese Eigenschaften gehäuft bei stärker religiösen Personen, die an ein Leben nach dem Tod bzw. an die Wiedergeburt glauben, sodass eine direkte Kausalität zu diskutieren ist (Abdel-Khalek und Maltby 2008; Hui und Fung 2009; Neimeyer et al. 2011). Auf der anderen Seite scheint das Ausmaß der Angst vor dem Tod darüber hinaus abhängig von der Sicht in Bezug auf eine „sinnvolle Gestaltung der irdischen Existenz“ geprägt zu sein (Dezutter et al. 2009). In dem Kontext ist der Begriff der „Lebensbedeutungen“ wichtig, der als „Ausdrucksmöglichkeiten“ von Handlungen, Zielen, Plänen, denen eine (sinnstiftende) Bedeutung zugeschrieben wird, zu verstehen ist (Schnell und Becker 2007). Dabei sind Sinnerfüllung und Sinnkrise zu unterscheiden und im psychiatrisch-psychotherapeutischen Setting als Ausdruck einer funktionierenden bzw. nichtfunktionierenden Bewältigungsstrategie von z. B. kritischen Lebensereignissen zu betrachten. Gerade bei Patienten mit einer psychischen Erkrankung, die als kritisches Lebensereignis aufgefasst werden sollte, kann vermutet werden, dass neben Persönlichkeitsdimensionen auch eingeschränkte Lebensbedeutungen (z. B. eingeschränkte Sinnerfüllung oder Selbstverwirklichung) eine Rolle bei der Ausprägung der Angst vor dem Tod spielen könnten. Auch liegt die Vermutung nahe, dass ein daraus möglicherweise resultierender niedrigerer Lebenssinn mit einer höheren Angst vor dem Tod und einer eher problematischen Einstellung zum Tod zusammenhängen könnte.

Ziel dieser Pilotstudie mit explorativer Statistik war es daher, den Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen und Lebensbedeutungen, da sie Kernmerkmale der menschlichen Existenz darstellen, auf die Angst vor dem Tod und die individuelle, ggf. geschlechterabhängige Einstellung dazu bei Patienten mit affektiven Störungen in ambulanter Psychotherapie näher zu untersuchen.

Material und Methoden

Patienten

Insgesamt konnten die Daten von 54 Patienten (27 Frauen und 27 Männer; mittleres Alter 43,7 Jahre [Standardabweichung, SD  ± 13,2 Jahre]) in dieser Untersuchung berücksichtigt werden. Die Patienten befanden sich aufgrund einer psychischen Störung nach ICD-10 in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung (Verhaltenstherapie, VT) in der psychologisch-psychotherapeutischen Praxis am Weiltor (Hattingen).

Die unten dargestellten Fragebogen wurde den Patienten nach einer Sitzung zum Ausfüllen mitgegeben und die Ergebnisse in einer nachfolgenden Sitzung nachbesprochen. Angaben zu Biografie und Krankheitsgeschichte konnten die jeweiligen TherapeutInnen aufgrund ihrer Kenntnis der Patienten/Patientinnen selbst eintragen (für Details: Chmielewski et al. 2019).

Ausschlusskriterien waren schwere somatisch-internistische und psychische Erkrankungen (z. B. organische Erkrankungen des Gehirns), eine akute Suizidalität sowie das Nichtvorliegen der Einverständniserklärungen. Eine vorbestehende Medikation bei den Patienten stellte kein Ausschlusskriterium dar. Diese bestand nur bei 17 Patienten (31,5 %) v. a. in Form einer antidepressiven Medikation.

Fragebogen

Der klinische Gesamteindruck und die allgemeine Schwere der psychischen Erkrankungen der Patienten wurden mithilfe des Clinical Impression Score (Clinical Global Impressions, CGI; Guy 1970) und des Global Severity Index (GSI) erfasst. Der GSI ergibt sich aus dem Brief Symptom Inventory, das eine Kurzform der Symptom-Checkliste SCL-90‑R darstellt (Derogatis 1979; deutsche Fassung von Franke 2000) und kann als Ausdruck für die psychische Gesamtbelastung herangezogen werden.

Des Weiteren wurde das Beck-Depressions-Inventar (BDI; Beck et al. 1961) als Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrads der depressiven Symptomatik angewendet.

Die Einstellung zum Tod und die Angst vor dem Tod wurden mithilfe des „Bochumer-Fragebogen zur Erfassung der Angst vor dem Tod und der Einstellung zum Tod“ (BOFRETTA; Juckel und Mavrogiorgou 2018; Chmielewski et al. 2019) erhoben. Die semiquantitative BOFRETTA-Skala beinhaltet 25 Fragen, z. B. „Der Gedanke daran, dass mein Leben auf der Erde begrenzt ist, beunruhigt mich“, „Dass ich irgendwann einmal sterben werde, ist für mich etwas ganz Natürliches“ oder „Dass ich einmal tot sein werde, betrachte ich als einen gewaltsamen Eingriff in mein Leben“. Der Proband kann zwischen den Antwortoptionen „Trifft gar nicht zu“ (ein Punkt), „trifft etwas zu“ (2 Punkte), „trifft überwiegend zu“ (3 Punkte) und „trifft weitestgehend zu“ (4 Punkte) auswählen. Der Fragebogen erlaubt die Bildung einer Gesamtsumme und der Teilsummenwerte der Subskala zur Einschätzung der Angst vor dem Tod und der Subskala zur schwierigen Einstellung zum Tod. Zur qualitativen Analyse dienen 3 Subfragen, die dem Probanden die Möglichkeit geben, seine persönliche Einstellung bzw. Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit dem Tod und der Angst vor dem eigenen Tod frei zu formulieren.

Mithilfe des Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn (LeBe; Schnell und Becker 2007) lassen sich anhand von 151 Items differenziert 26 Lebensbedeutungen (z. B. soziales Engagement, Spiritualität, explizite Religiosität, Tradition, Moral, Liebe usw.) sowie Sinnerfüllung und Sinnkrise erfassen. Die Items können mit 0 (stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (stimme vollkommen zu) beantwortet werden.

Mithilfe des NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI) nach Costa und McCrae (1989; deutsche Version Borkenau und Ostendorf 2008) erfolgte eine Erhebung der 5 verschiedenen Persönlichkeitsmerkmale. Es beinhaltet 60 Items, die sich 5 Dimensionen zuordnen lassen: Neurotizismus (N), Extraversion (E), Offenheit für Erfahrung (O), Verträglichkeit (V) und Gewissenhaftigkeit (G).

Auswertung und Statistik

Zur Auswertung der Statistik wurde das Programm IBM SPSS Statistics 26 genutzt. Zur deskriptiven Analyse erfolgte die Berechnung der Mittelwerte und Standardabweichungen der erhobenen Daten. Zur statistischen Analyse kamen parametrische und/oder nonparametrische Tests (Pearson- bzw. Spearman-Korrelationskoeffizienten sowie Mann-Whitney‑U Tests und t‑Tests) zum Einsatz. Werte von p ≤ 0,05 wurden als statistisch signifikant bzw. Werte von p ≤ 0,01 als statistisch hoch signifikant gewertet.

Ergebnisse

Soziodemografische und klinische Charakteristika

Soziodemografische und der allgemein klinische Merkmale der gesamten Untersuchungspopulation sind in Tab. 1 zusammengefasst.

Tab. 1 Soziodemografische und klinische Charakteristika der Untersuchungspopulation

Insgesamt handelte es sich um eine Gruppe meist akademisch gebildeter, privat und beruflich gut gestellter Patienten. Zwischen den Geschlechtern fanden sich bezüglich der soziodemografischen Merkmale keine signifikanten Unterschiede (Tab. 1). Ebenso fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen Männern und Frauen bezüglich der Dauer der Erkrankung, die über die gesamte Studienpopulation im Mittel ca. 11 Jahren betrug.

Mit 53,7 % (n = 29 Patienten) wurden als Hauptdiagnose eine affektive Störung nach ICD-10 (F3.X) am häufigsten identifiziert. Von den Betroffenen litten 26 Patienten (48,2 %) unter einer unipolaren Depression; lediglich bei einem Patienten (1,9 %) lag eine bipolare Störung (F31) vor; bei 2 Patienten (3,8 %) bestand eine Dysthymie.

Wie Tab. 1 entnommen werden kann, wies die zweitgrößte Gruppe der Patienten (n = 21, 37,5 %) Diagnosen aus dem neurotischen, Belastungs- und somatoformen Erkrankungsspektrum auf. Hier waren die Anpassungsstörungen mit depressiver Reaktion und posttraumatische Störungen (n = 14; 25 %) am häufigsten, gefolgt von den Angststörungen (F40 und F41) bei 6 Patienten (10,7 %) und einer Zwangsstörung (F42) bei einem Patienten (1,9 %).

Während bezüglich der affektiven Erkrankungen das männliche Geschlecht überwog (18 vs. 11) fanden sich die Erkrankungen aus dem F4-Spektrum (nach ICD-10) häufiger bei den Frauen als bei den männlichen Patienten (13 vs. 8).

Eine stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Vorbehandlung wurde von 18 Patienten (33,3 %, jeweils 9 Frauen und 9 Männer) bejaht, wobei 6 von ihnen wiederholt (2- bis 10-mal) stationäre Aufenthalte in der Anamnese aufwiesen.

Bei 55,6 % (n = 30) der Patienten handelte es sich aktuell um die erste Psychotherapiebehandlung überhaupt. Die anderen 21 Patienten (44,4 %) gaben an, bereits mindestens einmal eine Psychotherapie in Anspruch genommen zu haben. Bei 48 hier untersuchten ambulanten Psychotherapiepatienten (88,9 %) handelte es sich aktuell um eine Langzeitpsychotherapie; lediglich bei 6 Patienten (11,1 %) erfolgte eine Kurzzeittherapie. Zum Zeitpunkt der Studienbefragung befand sich der Großteil der Patienten (44,4 %) im Hauptteil der Therapie bzw. in der Endphase (40,7 %), die wenigsten am Beginn der Therapie (7 Patienten ≙ 12,5 %).

Psychometrische Befunde

Mit einem durchschnittlichen CGI-Wert um 5 handelte sich insgesamt um deutlich psychisch erkrankte Menschen. Die depressive Symptomatik, gemessen mithilfe des BDI, war mittelgradig ausgeprägt. Die psychische Belastung war bei einem T‑Wert von 43–49 (nach Franke und Derogatis 2000) und mittleren GSI-Werten 0,8–0,9 unterhalb der klinisch auffälligen Relevanz (psychometrische Befunde: Tab. 2).

Tab. 2 Psychometrische Befunde der Untersuchungspopulation

Die einzelnen durchschnittlichen NEO-FFI-Messwerte sind ebenfalls Tab. 2 zu entnehmen. Insgesamt fanden sich für diese Patientengruppe im Vergleich zur Stichprobe von Borkenau und Ostendorf (2008) höherer Werte für Neurotizismus, Gewissenhaft und auch Verträglichkeit sowie niedrigere Werte für die Dimensionen Offenheit für Erfahrung und Extraversion.

Bezüglich der psychometrischen Befunde waren lediglich signifikante Geschlechterunterschiede in den Dimensionen Extraversion und Verträglichkeit zu verzeichnen; hierbei erzielten die weiblichen Patientinnen höhere Werte (Tab. 2).

Im Hinblick auf das Ausmaß der Angst vor dem Tod und der schwierigen Einstellung dazu erzielten die untersuchten Patienten im Mittel einen Gesamtwert von ca. 43 auf der BOFRETTA-Skala entsprechend einer mäßigen Ausprägung. Eine negative Einstellung zum Tod fiel geschlechterneutral etwas stärker aus als die Angst vor dem Tod (Tab. 2).

Die durch LeBe erfassten 26 Lebensbedeutungen sind mit den entsprechenden Mittelwerten in der Tab. 3 dargestellt. Die Untersuchungsgruppe wies einen im Vergleich zu den von Schnell und Becker (2007) veröffentlichten Mittelwerten ihrer Normierungsstichprobe deutlich erhöhten Wert für die Variable Sinnkrise als Ausmaß des Leidens an empfundener Sinnlosigkeit des eigenen Lebens auf. Die Mittelwerte der anderen in Tab. 3 aufgeführten Lebensbedeutungen waren vergleichsweise niedrig. Deutliche signifikante Unterschiede zwischen den weiblichen und männlichen Patienten fanden sich v. a. in den Dimensionen von „Wir- und Wohlgefühl“ (Eigenschaften zur Bewahrung und Förderung des eigenen und auch fremden Wohlbefindens), aber auch in Bezug auf die Orientierung an Werten und Normen (Moral) sowie verantwortungsbewussten Aspekten zur eigenen Gesundheit.

Tab. 3 Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der LeBe-Subskalen

Allgemeine Korrelationen der psychometrischen Charakteristika

Hier fanden sich positive Korrelationen zwischen dem BDI und der BOFRETTA-Kenngröße Angst (r = 0,363; p = 0,007) sowie dem BOFRETTA-Gesamtwert (r = 0,330; p = 0,015). Auch das Ausmaß der psychischen Gesamtbelastung (GSI) korrelierte mit der Angst vor dem Tod (r = 0,401; p = 0,003) und dem BOFRETTA-Gesamtwert (r = 0,356; p = 0,008).

Neurotizismus wiederum korrelierte hochsignifikant mit der Schwere der Depressivität (r = 0,571; p ≤ 0,000) und dem GSI (r = 0,622; p ≤ 0,000). Schließlich fanden sich beim Ausmaß der Depressivität (BDI) Korrelationen zu den LeBe-Dimensionen Sinnerfüllung (r = −0,531; p ≤ 0,000) und Sinnkrise (r = 0,435; p = 0,001), und auch der GSI zeigte deutliche Zusammenhänge zu diesen beiden Lebensbedeutungen (r = −0,441; p = 0,001, bzw. r = 0,459; p ≤ 0,000).

Korrelationen zwischen Persönlichkeitsdimensionen und Angst vor dem Tod

Lediglich für die Persönlichkeitsdimension Neurotizismus (nach NEO-FFI) ergaben sich signifikante Korrelationen mit den 3 BOFRETTA-Kenngrößen, wobei ein höherer Neurotizismusgrad mit einem höheren BOFRETTA-Gesamtwert (r = 0,496; p ≤ 0,000), höherem Wert der Angst vor dem Tod (r = 0,524; p ≤ 0,000) und einer negativen Einstellung zum Tod (r = 0,401; p = 0,003) korrelierte (Tab. 4).

Tab. 4 Korrelationen LeBe, BOFRETTA und Persönlichkeit über die Gesamtpopulation (n = 54)

Die weitere nach Geschlechtern getrennte Analyse zeigte, dass die korrelativen Zusammenhänge zwischen Neurotizismus und den BOFRETTA-Kenngrößen nicht für die männlichen, sondern nur für die weiblichen Patientinnen bestanden (Angst: r = 0,728; p ≤ 0,000; Einstellung: r = 0,588; p = 0,001, Bo-Gesamt: r = 0,697; p ≤ 0,000).

Lebensbedeutungen und Angst vor dem Tod

Zur Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Lebensbedeutungen wurden aus Kapazitätsgründen nur die übergeordneten Dimensionen wie Sinnerfüllung, Sinnkrise, Selbsttranszendenz (Summe aus vertikaler und horizontaler Selbsttranszendenz), Selbstverwirklichung, Ordnung sowie Wir- und Wohlgefühl betrachtet. Die Zusammenhänge zwischen den LeBe-Dimensionen und der Persönlichkeit sowie Einstellung und Angst und vor dem Tod sind ebenfalls sich in Tab. 4 aufgeführt.

Erwähnenswert sind die Geschlechterunterschiede in Bezug auf die Korrelationen zwischen den BOFRETTA-Werten und den LeBe. So ergab die isolierte Betrachtung der männlichen Patienten Zusammenhänge lediglich für die Dimension Ordnung und BOFRETTA-Angst (r = 0,573; p = 0,002), BOFRETTA-Einstellung (r = 0,697; p ≤ 0,000) und BOFRETTA-Gesamt (r = 0,697; p ≤ 0,000).

Bei den Frauen hingegen korrelierte v. a. die Dimension Sinnkrise mit BOFRETTA-Angst (r = 0,614; p = 0,001), BOFRETTA-Einstellung (r = 0,499; p = 0,008) und BOFRETTA-Gesamt (r = 0,573; p = 0,002). Ebenfalls nur bei den Frauen fand sich ein negativer Zusammenhang zwischen Sinnerfüllung und Angst vor dem Tod (r = −0,433; p = 0,024).

Diskussion

Interpretation der Ergebnisse

Im Rahmen der vorgestellten Untersuchung von 54 ambulanten Psychotherapiepatienten konnte gezeigt werden, dass diese durch einen erhöhten Neurotizismus und Gewissenhaftigkeit bei niedrigeren positiv-assoziierten Eigenschaften wie Offenheit für Erfahrung oder Extraversion charakterisiert waren. Während sich gerade für den Neurotizismus kein Unterschied zwischen den Geschlechtern aufzeigen ließ, zeigten sich die untersuchten Frauen insgesamt deutlich verträglicher und extrovertierter als die männlichen Probanden. Eine schwierige Einstellung und die Angst vor dem Tod waren bei den Patienten beider Geschlechter ähnlich mäßig vorhanden. Insgesamt betrachteten die Patienten ihr Leben als wenig sinnerfüllt und sahen sich in einer deutlichen Lebenskrise. Auch wenn nicht statistisch signifikant, waren die diesbezüglichen Werte für die männlichen Patienten ungünstiger. Viel deutlicher, aber ebenso für die männlichen Therapiepatienten reduzierter, waren die Geschlechterunterschiede bezüglich der Lebensbedeutungen Gesundheit, Bodenständigkeit, Moral sowie Gemeinschaft, Spaß, Liebe und Fürsorge. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass gerade bei den an dieser Untersuchung teilnehmenden Frauen Lebensbedeutungen, die mit dem Fördern und dem Erhalt des eigenen allgemeinen und körperlichen Wohlbefindens einhergehen, stärker zur Sinnerfüllung beitragen. Auch Moral im Sinne einer Orientierung an Werten und Normen scheint, wie Schnell (2008) durch eine repräsentative Studie mit über 600 gesunden deutschen Probanden zeigen konnte, allgemein eine sinnstiftende Quelle zu sein. Dies ist insofern interessant, als dass die LeBe-Dimension „Ordnung“, die neben Moral auch Bodenständigkeit, Tradition und Vernunft beinhaltet und durch das „Festhalten und Bewahren“ von konservativer Weltanschauung, Normen, Werten, Traditionen usw. charakterisiert ist, die einzige Dimension war, die mit allen 3 BOFRETTA-Kenngrößen korrelierte. Dies fand sich v. a. bei den männlichen Patienten, was aber, da die LeBe-Dimension Ordnung bei Männern insgesamt bedeutender zu sein scheint (Schnell und Becker 2007), dementsprechend wenig überraschend und nachvollziehbar erscheint.

Das vorgestellte Ergebnis könnte als Hinweis verstanden werden, dass gerade das Festhalten an „Altbewährtem“ mit einer schwierigen Einstellung zum Tod und einer größeren Angst vor dem Tod einhergeht. Es könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass dieser Befund heißt, dass der Versuch an kultureller „Ordnung“, an Traditionen und bewährten Weltanschauungen festzuhalten bei den Patienten einen nicht gelingenden Versuch des Copings der Todesangst ist i. S. der Theorien und Befunde der Terror-Management Theorie darstellt (TMT; Rosenblatt et al. 1989; Greenberg et al. 1992). In der Studie von Chmielewski et al. (2019) mit der gleichen Stichprobe konnte nachgewiesen, dass Selbstwert tatsächlich signifikant negativ mit Todesangst korrelierte, was in die Richtung weisen könnte, dass die andere von der TMT postulierte Strategie gegen Todesangst – die Steigerung des individuellen „Heldentums“, des Selbstwerts usw. – eine erfolgreichere Strategie als das Hochhalten kultureller Normen darstellt. Ähnlich wie die Bedeutung von Religion für die Angst vor dem Tod, die aufgrund der inkonsistenten Ergebnisse nicht eindeutig ausfällt (Abdel-Khalek und Lester 2009; Beshai und Lester 2013; Henrie und Patrick 2014; Krause et al. 2018), könnte auch für das Hochhalten der eigenen Werte ein Schwellenphänomen angenommen werden. Das würde bedeuten, dass nach Unter- und/oder Überschreiten einer individuell unterschiedlich determinierten Schwelle das Hoch- bzw. Festhalten an den eigenen Werten usw. nicht angstlösend (im Sinne einer Bewältigungsstrategie) ist, sondern zu vermehrter Angst beiträgt. Spekuliert werden kann, dass v. a. Menschen, die sich in einer Lebenskrise befinden (wie z. B. Patienten mit einer psychischen Erkrankung) keine Balance bezüglich verschiedener Lebensbedeutungen aufweisen und auf wenig erfolgreiche Bewältigungsstrategien zurückgreifen können. Diese Annahme wird v. a. durch das vorliegende Ergebnis, dass die Dimension „Moral“ bei den männlichen Patienten bezüglich Angst vor dem Tod am wenigsten bedeutend war, unterstützt.

Des Weiteren fand sich, dass die Patienten im Kontext ihrer psychischen Belastung und Depressivität einer Sinnkrise (Leiden am Fehlen von Sinn im Leben) ausgesetzt sind, die wiederum mit einem erhöhten Neurotizismus und einer erhöhten Angst vor dem Tod assoziiert ist. Dieser Zusammenhang zeigt sich v. a. für die weiblichen Patienten, was nicht unbedingt überraschend ist. Bereits 2004 konnten Goodwin und Gotlib bei über 3032 Studienteilnehmern zeigen, dass Frauen nicht nur einen höheren Neurotizismusgrad aufwiesen, sondern dadurch auch ein höheres Depressionsrisiko hatten. Mittlerweile liegen mehrere Berichte vor, die einen erhöhten Neurotizismus bei Frauen als einen geschlechtsspezifischen depressiogenen Faktor diskutieren (z. B. Parker und Brotchie 2010; Sutin et al. 2010; Desoto und Salinas 2015).

Auf einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsdimensionen wie Neurotizismus und den Lebensbedeutungen wie Sinnkrise oder Sinnerfüllung verweisen bereits die Autoren des LeBe-Fragebogens (Schnell und Becker 2007; Schnell 2016). Die in der vorliegenden Studie erhobenen Ergebnisse bestätigen, dass Neurotizismus mit einem weniger sinnerfüllten Dasein einhergeht und eher mit dem Auftreten von Sinnkrisen assoziiert ist. Ebenso konnten positive Zusammenhänge zwischen Extraversion und der Dimension Wir- und Wohlgefühl sowie zwischen Gewissenhaftigkeit und Ordnung bestätigt werden (Schnell und Becker 2007).

Überraschend hingegen war das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, dass geschlechterabhängige unterschiedliche Lebensbedeutungen mit unterschiedlichen Persönlichkeitsdimensionen und mit der Angst vor dem Tod assoziiert sind. Bei den Männern ergaben im Vergleich zu den Frauen weniger signifikante Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmaßen, Lebensbedeutungen und Angst bzw. Einstellung zum Tod. Es kann vermutet werden, dass Faktoren wie der Neurotizismus-Score bei den Frauen eine größere Rolle spielen, in dem es häufiger zu Sinnkrisen kommt. Dies wiederum bestärkt die Annahme, dass es unterschiedlich gewichtete geschlechterspezifische Krisenbewältigungsstrategien geben muss, die stärkeren Eingang in die psychiatrisch-psychotherapeutischen Bemühungen finden sollten. Hier sollten stärker als bisher Lebensbedeutungen, Persönlichkeitsmerkmale und Angst vor dem Tod systematisch in den probatorischen Sitzungen erhoben sowie ihre Rolle bei der zur Psychotherapie führenden Symptomatik bestimmt und einbezogen werden. Zukünftige Studien sollten mit größerer Fallzahl und mit weiteren, näher begrenzten psychischen Störungsbildern wie z. B. Angst- und Zwangsstörungen durchgeführt werden.

Limitationen

Neben der Tatsache, dass die Studie monozentrisch war, weist die vorgestellte Untersuchung eine Reihe weiterer Limitationen auf. Als Erstes zu nennen ist die kleine Zahl der untersuchten Patienten mit primär affektiven Störungen, die v. a. die Aussagen über nosologieabhängige subgruppenspezifische Unterschiede limitiert. Ein weiterer limitierender Faktor ist, dass die Gruppen insgesamt heterogen waren, da die Patienten beispielsweise hinsichtlich der psychischen Grunderkrankungen oder einer medikamentösen Behandlung Unterschiede aufwiesen. Und es wurden v. a. nur korrelative Berechnungen durchgeführt.

Zudem muss als limitierender Faktor festgehalten werden, dass die Verwendung von Fragebogen kritisch zu betrachten ist. Dies betrifft v. a. den BOFRETTA und den LeBe, da diese bislang v. a. im psychiatrischen Setting noch zu wenig eingesetzt wurden.

Fazit für die Praxis

  • Angst vor dem Tod und Einstellung zum Tod sind geprägt durch Neurotizismus, das Auftreten von Sinnkrisen und Lebensbedeutungen wie „Ordnung“.

  • Es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede.

  • Diese Zusammenhänge sollten im Rahmen von Psychotherapie unabhängig vom jeweiligen Verfahren betrachtet und thematisiert werden.

  • Gezieltes und systematisches Befragen der Patienten v. a. in den probatorischen Sitzungen bezüglich der Angst vor dem Tod im Hinblick auf Lebensbedeutungen und Persönlichkeitsmerkmale ist für die Planung, Zielsetzung und Durchführung einer erfolgreichen Psychotherapie unerlässlich.