Einleitung

Chronologisch betrachtet wurde das Phänomen indirekter Orbitafrakturen – auch wenn ohne heutige wissenschaftliche Präzision – schon von Hippokrates beobachtet und beschrieben [4]. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung neuerer Zeitrechnung geht auf Prof. Gunther Geserick zurück, welcher im Jahr 1980 erstmals im forensischen Kontext indirekte Frakturen der medialen und basalen Orbitawand und des Felsenbeines nach Traumatisierung des okzipitalen Hirnschädels beschrieb [1]. In erster Linie für die Orbitafrakturen etablierte sich in den Folgejahren der Begriff Geserick-Zeichen im deutschen Schrifttum [1, 8]. Hiervon abzugrenzen sind indirekte Frakturen der Orbitadächer, welche bereits deutlich früher beschrieben wurden [1].

Als häufiger Entstehungsmechanismus gilt ein Hinterkopfanprall, nicht selten begleitet von einer okzipitalen Fraktur, Contrecoup-Verletzungen des Gehirns und einem bereits äußerlich sichtbaren Brillen- bzw. Monokelhämatom [1, 4], dass sich dem indirekten Mechanismus folgend streng frei von Schürfungsanteilen zeigen muss.

Während die Phänomenologie und Biomechanik des Geserick-Zeichens im postmortalen Kontext wiederholt beschrieben wurden [1,2,3,4,5, 7, 8], liegt aus dem Bereich der klinischen Rechtsmedizin bislang nur eine isolierte Falldarstellung vor [6].

Falldarstellung

Krankengeschichte

Eine 41 Jahre alt gewordene Frau lebte aufgrund einer geistigen Behinderung in einer betreuten Wohneinrichtung. Neben einer Kurzsichtigkeit und einer nicht näher abgeklärten Thrombozytopenie, welche in der Vergangenheit zu postoperativen Blutungskomplikationen geführt hatte, bestanden keine weiteren bekannten Vorerkrankungen und keine Dauermedikation.

Klinische Befunde

Die Frau wurde in den Morgenstunden von einer Pflegekraft in ihrem Bett liegend aufgefunden. Sie habe in Bauchlage gelegen und sei nicht ansprechbar gewesen. Bei Eintreffen der hinzugezogenen Rettungskräfte bestand ein GCS-Punktwert von 5. Nach Intubation und Transport in ein Krankenhaus wurden im Rahmen der Notfalldiagnostik Knochenbrüche des Hirnschädels (okzipitale Kalottenfraktur) und beider Augenhöhlen, eine beidseitige frontale Subarachnoidalblutung und ein Brillenhämatom festgestellt. Es bestand bei zunehmendem Hirnödem mit beginnender Einklemmung ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit infauster Prognose. Bei zunächst unbekanntem Verletzungsmechanismus und dem aus klinischer Sicht bestehenden Verdacht einer Fremdeinwirkung, bei vermuteten mehrfachen Gewalteinwirkungen gegen den Hinterkopf und den Gesichtsschädel, wurde die Polizei benachrichtigt und durch diese eine rechtsmedizinische Untersuchung veranlasst.

Rechtsmedizinische Untersuchung

Die etwa einen Tag nach der Auffindung durch die Pflegekraft durchgeführte rechtsmedizinische Untersuchung ergab an äußeren Verletzungen lediglich eine frische Schürfung der behaarten Kopfhaut am Hinterkopf, etwas rechts der Mittellinie (Abb. 1). Zudem zeigte sich ein Brillenhämatom fast ausschließlich der Oberlider (Abb. 2) ohne Exkoriationen und mit vollständiger Aussparung des Nasenrückens. Eine unter rechtsmedizinischen Gesichtspunkten durchgeführte ergänzende Auswertung der klinischen kranialen Computertomografie (cCT)-Bilder ergab eine rechts der Mittellinie gelegene okzipitale Kalottenfraktur (Abb. 3), eine Subarachnoidalblutung, ferner beidseitige, linksbetonte frontobasale Kontusionsblutungen (Abb. 4) sowie Frakturen des Orbitadaches links (Abb. 5) und der medialen Orbitawand rechts (Abb. 6).

Abb. 1
figure 1

Frische Exkoriation am Hinterkopf

Abb. 2
figure 2

Brillenhämatom. Beachte die fehlende Schürfungskomponente

Abb. 3
figure 3

Okzipitale Kalottenfraktur (Pfeil)

Abb. 4
figure 4

Frontobasale Kontusionsblutungen, Subarachnoidalblutung

Abb. 5
figure 5

Orbitadachfraktur (links, Pfeil)

Abb. 6
figure 6

Mediale Orbitafraktur (rechts, Pfeil)

Polizeiliches Ermittlungsergebnis

Polizeiliche Befragungen ergaben, dass die betroffene Frau früh morgens gewohnheitsmäßig die Gemeinschaftsküche in ihrem Wohnbereich aufräumte, und dass durch eine Zimmernachbarin kurz vor Auffindung ein lautes Poltern wahrgenommen worden sei. Auf dem Zimmerflur wurden Hausschuhe und die Brille des Opfers aufgefunden. Unfallzeugen konnten nicht ausfindig gemacht werden, seitens der Ermittlungsbehörden ergaben sich jedoch keine Hinweise auf ein Fremdverschulden.

Obduktionsbefunde

Die Frau verstarb nach einem viertägigen Krankenhausaufenthalt an den Folgen des Schädel-Hirn-Traumas. Die staatsanwaltschaftlich in Auftrag gegebene postmortale CT und Obduktion bestätigten im Wesentlichen die in der Auswertung der klinischen cCT erhobenen Befunde. Ergänzend konnten Weichteilblutungen über beiden Ellenbogen und eine beginnende Pneumonie im rechten Unterlappen festgestellt werden. Weitere todesursächlich relevante Erkrankungen oder eine krankhafte innere Ursache als Auslöser für das Sturzereignis fanden sich nicht. Als Todesursache wurde eine zentrale Dysregulation bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma attestiert.

Diskussion

Bei dem vorgestellten Fall handelt es sich um ein repräsentatives Beispiel indirekter Orbitafrakturen im klinisch-rechtsmedizinischen Kontext. Neben einer Orbitadachfraktur links und einer medialen Orbitawandfraktur rechts lag eine charakteristische Kombination von Verletzungen und Befunden vor: eine frische Schürfung am Hinterkopf, eine okzipitale Kalottenfraktur, frontobasale Kontusionsblutungen, eine begleitende Subarachnoidalblutung sowie ein Brillenhämatom bei fehlenden Anzeichen einer direkten Gewalteinwirkung gegen die Orbitalregion.

Setzt man das Verletzungsmuster in den entsprechenden Kontext, lassen sich die Befunde der Orbitae pathophysiologisch als indirekte Frakturen infolge eines Sturzes auf den okzipitalen Hirnschädel interpretieren. In Übereinstimmung hierzu liegt die äußerlich sichtbare, etwas rechts der Mittellinie gelegene Schürfung im Bereich der Kalottenfraktur. Die Ausprägung der frontobasalen Hirnkontusionsblutungen stellt sich im Sinne eines Contrecoup-Mechanismus links stärker als rechts dar, und das Brillenhämatom ist als Folge der Orbitafrakturen anzusehen. Im Rahmen der rechtsmedizinischen Untersuchung ließen sich keine weiteren Verletzungen abgrenzen, die für eine mehrfache oder von beiden Richtungen kommende Gewalteinwirkung Anhalt hätten geben können, wie dies initial klinischerseits vermutet wurde. Im Rahmen der Obduktion fanden sich Weichteilblutungen über beiden Ellenbogen, die den nach der rechtsmedizinischen Untersuchung anzunehmenden Sturzmechanismus plausibel erscheinen lassen. Die vorbestehende Thrombozytopenie kann im vorliegenden Fall als begünstigend für die Intensität der aufgetretenen subarachnoidalen und kontusionellen Blutungen gewirkt haben.

Die biomechanischen Grundlagen der indirekten Frakturen gehen auf wissenschaftliche Untersuchungen von Gunther Geserick und Otto Prokop ab 1980 zurück [1,2,3]. In ihrer Erstbeschreibung betrachten Geserick, Prokop und Kruse 9 Obduktionsfälle nach stumpfem Schädel-Hirn-Trauma mit überwiegend okzipitalem Anprall und können in 6 Fällen (66,7 %) Frakturen der medialen und basalen Orbitawand und in 5 Fällen (55,6 %) Orbitadachfrakturen nachweisen [1]. In einer Serie von 30 Obduktionsfällen (Einschlusskriterium: stumpfes Schädel-Hirn-Trauma) geben Reimann und Klein in 24 Fällen eine Gewalteinwirkung auf den frei beweglichen Hinterkopf an, in 20 Fällen (83,3 %) begleitet von Frakturen der medialen und basalen Orbita und in 12 Fällen (50,0 %) mit dem Auftreten von Orbitadachfrakturen [7].

Neben der Analyse von Obduktionsfällen (überwiegender Mechanismus: Aufprall des bewegten Schädels) wurden experimentelle Versuchsreihen durchgeführt (u. a. postmortale Simulation von Sturzverletzungen nach Entfernung der Augäpfel bzw. Aufhebung der Flüssigkeitskopplung des Gehirns) [8]. Im Ergebnis wurde ein Coup-Mechanismus der Augäpfel als trägheitsbedingte Verlagerung der Augäpfel in Richtung der Anstoßstelle (beim Hinterkopfanprall demnach von vorne nach hinten, unter Ausübung von Druck auf die Orbitae) herausgestellt, welcher für die Entstehung der medialen und basalen Orbitafrakturen als führend anzusehen ist [1, 3, 8]. Die Fallsammlungen, welche später durch weitere Arbeiten ergänzt wurden [7], zeigten, dass die Orbitafrakturen meist bilateral und, wenn nur einseitig feststellbar, eher kontralateral zu dem Hinterkopfanprall auftraten. Seltener konnten indirekte Frakturen auch ohne begleitende Contre-Coup-Hirnverletzungen und ohne primäre Schädelfrakturen festgestellt werden [3, 7].

In einer Arbeit von Hein und Schulz [4] finden sich Zahlen zur Häufigkeit der Vergesellschaftung von Hirnkontusionen mit indirekten Orbitafrakturen sowie Brillen- bzw. Monokelhämatomen. Bei Fällen mit einer Gewalteinwirkung gegen den Hinterkopf konnten in 20 von 21 Fällen (95,2 %) Contre-Coup Hirnverletzungen und in 13 von 21 Fällen (61,9 %) Brillen- oder Monokelhämatome festgestellt werden. In der zitierten Arbeit [4] wird das Alter der eingeschlossenen Verstorbenen nicht mitgeteilt. Bei anderen biomechanischen Parametern und noch nicht ossifizierten Schädelnähten würde es nicht verwundern, wenn das Geserick-Zeichen mit indirekten Orbitafrakturen bei pädiatrischen Kollektiven faktisch nicht angetroffen wird.

Der vorliegend berichtete Fall zeigt, dass das Geserick-Zeichen neben seiner Rolle im forensisch-pathologischen Bereich auch im klinisch-rechtsmedizinischen Kontext von Bedeutung ist. Bislang wurde lediglich ein entsprechender Fall in der Literatur mitgeteilt [6]. Es fällt auf, dass eine sehr enge Definition des Zeichens bisher in der Literatur nicht vorliegt und eher Befundmuster und ein Traumamechanismus mittels eines Eponyms beschrieben werden und nicht ein exakt definiertes Frakturbild ohne Variationsmöglichkeiten.

Durch die klinisch-rechtsmedizinische Untersuchung, die rechtsmedizinische Bewertung der klinischen cCT sowie die Integration der polizeilichen Erkenntnisse in die gutachterliche Beurteilung konnten der klinisch geäußerte Verdacht auf eine mehrfache Gewalteinwirkung gegen den Hirn- und Gesichtsschädel ausgeräumt und das Vorliegen eines sturzbedingten Verletzungsmechanismus vor dem Hintergrund des charakteristischen Verletzungsbildes plausibel erklärt werden. Sämtliche Befunde wurden autoptisch bestätigt.

Limitierend bleibt zu erwähnen, dass die hier präsentierte Einzelfallbetrachtung die diskutierte Unschärfe in der Definition des Geserick-Zeichens nicht weiter zu präzisieren vermag. Hierzu notwendige größere Fallsammlungen müssten prospektiv gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet werden. Die Kürze des Beitrags erlaubt zudem keine ausführlichere Diskussion zu ähnlichen Zeichen im Kontext eines Schädel-Hirn-Traumas (z. B. „racoon sign“, „battle’s sign“).

Fazit für die Praxis

  • Der wesentliche Mechanismus indirekter Orbitafrakturen ist ein Coup-Mechanismus der Augäpfel i. S. der trägheitsbedingten Verlagerung in Richtung Anstoß.

  • Die häufigste Ursache ist ein Sturz auf den Hinterkopf, häufig begleitet von Monokel- und Brillenhämatomen ohne fasziale Schürfungskomponente, Contrecoup-Hirnverletzungen und einer Primärfraktur.

  • Eine Auswertung zugehöriger CT-Bilder und eine sorgfältige klinisch-rechtsmedizinische Untersuchung sind Voraussetzungen für eine sichere Interpretation.

  • Indirekte Frakturen können wesentlich zu einer Geschehensrekonstruktion (Schlag oder Sturz) beitragen.