Schädigungen des zentralen Nervensystems führen zur neurogenen Funktionsstörung des unteren Harntraktes („neurogenic lower urinary tract dysfunction“, NLUTD). Die medikamentöse Therapie der NLUTD hat einen hohen Stellenwert in der Therapie v. a. bei der neurogenen Detrusorüberaktivität (NDO), häufig in Verbindung mit dem intermittierenden Katheterismus (IK). Die Leitlinie bildet einen Entscheidungskorridor für die Entwicklung der Behandlungskonzepte. Im Konsensverfahren wurde u. a. die Therapie der NDO mittels antimuskarinerger Therapie (AMT), β3-Adrenozeptoragonisten oder Onabotulinumtoxin-Injektionen in den Detrusor erarbeitet. Besonderheiten bei Kindern, Jugendlichen und älteren Patienten werden benannt. Die Empfehlungen werden mit dem Grad des Konsens dargestellt.

Problemstellung

Die nervale Kontrolle der Harnblasenfunktion unterscheidet sich von allen anderen inneren Organen durch ihre sowohl autonome als auch willentliche Steuerung, um somit die zunächst unbemerkt verlaufende Speicherfunktion und die bewusst steuerbare Entleerungsfunktion zu ermöglichen [29, 30].

Das periphere System der Harnblasensteuerung besteht aus dem sympathischen Plexus hypogastricus (T10-L2), dem aus dem Sakralmark (S2–S5) vermittelten N. pudendus (somatosensorisch, somatomotorisch) und dem N. pelvicus (parasympathisch). Die spinalen Zentren kommunizieren über die langen Bahnen des Rückenmarks mit den pontinen Zentren sowie über Zentren des Mittelhirns und des Zwischenhirns. Über allem steht die willentliche Kontrolle durch das Großhirn. Wenn nur in einem der verschiedenen Steuerungsebenen durch Krankheit, Verletzung oder Fehlbildung eine Beeinträchtigung entsteht, kommt es zu Funktionsstörungen der Harnblasensteuerung, einschließlich der Sphinkteren, was sich durch eine Detrusorüberaktivität (Speicherversagen mit Reflexinkontinenz, Dranginkontinenz), Detrusorunteraktivität (Entleerungsversagen) oder durch eine Kombination aus beidem äußern kann. Besonders gefährdet sind Menschen mit suprasakralen Rückenmarkverletzungen oder Erkrankungen, da hier zusätzlich durch die Enthemmung des sakralen Schutzreflexes eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) hinzutritt.

Unbehandelt können die verschiedenen Formen der NLUTD, insbesondere die NDO mit DSD, neben der Harninkontinenz zu rezidivierenden Harnwegsinfektionen bis hin zur Sepsis und zu Folgeschäden am unteren (UHT) und oberen Harntrakt (OHT) führen.

Ziel der Leitlinie

Die Leitlinie wurde für die medikamentöse Therapie von Patient*innen entwickelt, die an neurogener Dysfunktion des UHT leiden. Die neurogene Dysfunktion des UHT betrifft in Deutschland ca. 1 Mio. Menschen. All den Ärzten, die sich mit der Behandlung und Nachsorge der betroffenen Menschen befassen, sollen mit dieser Leitlinie ein wichtiges Werkzeug an die Hand bekommen, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können. Betroffene und Angehörige sowie Mitarbeiter anderer Berufsgruppen wie Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Psychologie u. a. m. können aus dieser Leitlinie Informationen gewinnen, die für die Beratung und Führung der gelähmten Menschen, die einer lebenslangen Versorgung und Nachsorge bedürfen, hilfreich sind (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/043-053.html [72]).

Methoden

Konsensusverfahren

Die Leitlinie wurde im Konsensusverfahren erstellt und durchlief drei Online-Reviews durch die Mandatsträger der beteiligten Fachgesellschaften (FG). Die in der Leitlinie formulierten Empfehlungen wurden aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen in Online-Konsensus-Meetings unter neutraler Moderation abgestimmt. Bei den Empfehlungen wurde auf die bekannten Empfehlungsstärken „soll/soll nicht“, „sollte/sollte nicht“ und „kann“ zurückgegriffen. Die Konsensusstärke wurde in Prozent angegeben, entsprechend der Kriterien „starker Konsens“ (> 95 % Zustimmung), „Konsens“ (> 75–95 % Zustimmung), „mehrheitliche Zustimmung“ (> 50–75 % Zustimmung) und „kein Konsens“ (< 50 % Zustimmung).

Ergebnisse

Diagnostik

Voraussetzung für die Entwicklung eines Therapiekonzepts ist die genaue Kenntnis der zugrunde liegenden neurologischen Störung mit den daraus resultierenden physischen, psychischen und sozialen Einschränkungen sowie eine exakte Klassifikation der Funktionsstörung des UHT. Neben der detaillierten Anamnese, der Harndiagnostik und der klinischen Untersuchung mit Überprüfung der Sensibilität (insbesondere der sakralen Segmente) und des sakralen Reflexstatus ist die videourodynamische Untersuchung ein unentbehrliches Werkzeug, wodurch sich in der Regel die Art der NLUTD exakt diagnostizieren lässt [16].

Therapie der NDO

Die medikamentöse Therapie mit Antimuskarinika stellt die Basis für die Behandlung der NDO dar. Das Ziel ist die Wiederherstellung einer Niederdruckreservoirfunktion durch Unterdrückung der NDO.

Antimuskarinika (AM, Muskarinrezeptorantagonisten) hemmen kompetitiv die Muskarinrezeptoren und reduzieren und/oder unterdrücken die durch M3-Rezeptoren vermittelte und durch M2-Rezeptoren modulierte Überaktivität des Detrusors. Aufgrund der Präsenz von muskarinergen Acetylcholinrezeptoren in anderen Organen als die Harnblase (M1–M5) können bei Anwendung der AM zentrale und periphere Nebenwirkungen auftreten [72].

Eine alternative Option ist eine Therapie mit β3-Adrenozeptoragonisten, wobei durch Stimulation des Sympathikus eine Beeinflussung der NDO erreicht werden soll. Es liegen dazu aber nur begrenzte Erfahrungen für die Therapie der NDO bei Querschnittlähmung (QSL) vor [72, S. 35].

Für die Beeinflussung der NDO können in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Lähmungssituation zwei grundsätzliche Zielrichtungen verfolgt werden:

  • Bei kompletter oder inkompletter QSL oder anderen neurogenen Ursachen der NDO, bei denen die Harnblase willentlich oder getriggert entleert werden kann:

    Für diese Patienten kann eine Steigerung des Reflexievolumens (RV) mit Abmilderung des Harndrangs, Erhalt der Fähigkeit zur getriggerten oder willentlichen Blasenentleerung mit kalkulierbarer Kontinenz angestrebt werden. Für diese Patienten wird bei Therapiestart eher eine niedrige Dosierung des AM zu wählen sein. Sofern sich eine erhöhte Restharnbildung zeigt, kann je nach dessen Ausmaß der intermittierende Katheterismus (IK) erforderlich werden.

  • Bei Patienten, die den regelmäßigen IK anwenden:

    Bei diesen Patienten wird eine vollständige Unterdrückung der NDO mit einer Niederdruckreservoirfunktion bis 400–500 ml mit verlässlicher Harnkontinenz angestrebt.

Erwachsene

In Deutschland stehen mindestens 7 antimuskarinerge Wirkstoffe für die Therapie der NDO zur Verfügung, allerdings sind nur 3 AM für die Therapie der NDO infolge QSL oder Myelomeningozele (MMC) zugelassen (Oxybutynin, Propiverin und Trospium). Für diese Substanzen sind die Wirksamkeit und die Toleranz gegenüber unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) in der Therapie der NDO gut untersucht. Die Auswahl richtet sich nach dem Lebensalter und den Begleiterkrankungen und berücksichtigt eine mögliche Leber- oder Niereninsuffizienz. Die individuelle Dosierung wird primär an die erwünschte Wirkung angepasst und kontrolliert mittels Blasenentleerungsprotokoll und/oder Zystomanometrie.

Studien Oxybutynin, Propiverin und Trospium

In einem Review wurden Placebo und aktiv kontrollierte Studien vorgestellt, die für Oxybutynin IR, Propiverin IR, Propiverin ER und Trospium IR einen signifikanten Abfall des maximalen Detrusordruckes und einen signifikanten Anstieg der maximalen zystometrischen Kapazität (MZK) um 30–40 % zeigten [36, 77].

Unter Propiverin beklagten 37 % der Verumgruppe eine Mundtrockenheit und 28 % eine Akkommodationsstörung [112]. Bei einem Vergleich von Propiverin (3 × 15 mg) gegen Oxybutynin (3 × 5 mg) ergaben sich bei den oben genannten urodynamischen Parametern keine Unterschiede. Jedoch war die Rate der Mundtrockenheit bei Oxybutynin signifikant höher als bei Propiverin (67 %:47 %; [114]). Zwischen Trospium und Oxybutynin war bezüglich der urodynamischen Parameter ebenfalls kein Unterschied feststellbar, die Rate der Mundtrockenheit stand im Vergleich von Trospium (2 × 20 mg) zu Oxybutynin (3 × 5 mg) aber im Verhältnis 4:23 % [78]. Im Vergleich von Propiverin IR und Propiverin ER unterschieden sich die urodynamischen Parameter nicht signifikant, aber die Anzahl der Patienten mit Harninkontinenz reduzierte sich signifikant um 14 % in der IR-Gruppe gegenüber 39 % in der ER-Gruppe, was auf den gleichmäßigeren Serumspiegel zurückgeführt wurde [113]. Auswirkungen auf den OHT und die Morphologie des UHT wurden nicht beschrieben [9, 77, 115]. Die Effizienz, die Tolerabilität und die Sicherheit dieser Substanzen können als erwiesen gelten, und spiegeln sich in den Empfehlungen nationaler und internationaler Leitlinien für die Therapie der NDO wider.

Studien zu Darifenacin, Fesoterodin, Solifenacin, Tolterodin

Darifenacin, Fesoterodin, Solifenacin und Tolterodin sind für die Therapie des „overactive bladder syndroms“ (OAB) oder der nichtneurogenen Detrusorüberaktivität (NNDO) zugelassen und gut untersucht. Die Untersuchungsergebnisse für diese funktionellen Störungen bezüglich der Verträglichkeit können auf den Einsatz bei NDO übertragen werden. Die Dosierungen müssen in der Regel an die Indikation NDO angepasst werden.

Darifenacin.

Eine randomisierte, doppelblind Crossover-Studie mit 8 querschnittgelähmten Männern zeigte, dass Darifenacin nach einmaliger, intravenöser Applikation eine provozierte NDO unterdrücken konnte [19]. Darifenacin wird in der Therapie der NDO eher selten eingesetzt [126]. Die Substanz ist bisher für diese Indikation nicht untersucht [3, 9].

Fesoterodin.

In einer klinischen Studie mit 4 mg Fesoterodin (aktives Enantiomer Desfesoterodin) und Erhöhung der Dosierung nach 4 Wochen auf 8 mg ergab sich in der Patientengruppe mit NDO (n = 51) eine Steigerung der MZB von 256 auf 330 ml (p < 0,001), des Reflexievolumens (RV) von 204 auf 289 ml (p < 0,001) und der Compliance von 32 auf 58 ml/cmH2O (p = 0,016; [58]).

In einer prospektiven Studie mit 8 mg Fesoterodin über 3 Monate wurden Patienten mit urodynamisch nachgewiesener NDO eingeschlossen (95 Querschnittgelähmte, 29 an MS-Erkrankte). Die Änderungen des maximalen Detrusordruckes, der MZB und der Compliance waren in den Einzelgruppen (Paraplegiker, Tetraplegiker, MS) signifikant (p < 0,001; [66]).

Beide Studien schätzten ein, dass Fesoterodin für die Therapie der NDO infolge QSL und MS geeignet ist.

Solifenacin.

Eine klinische Studie mit 5 mg Solifenacin (4 Wochen) und einer Steigerung der Dosis auf 10 mg (weitere 4 Wochen) zeigte bei 28 auswertbaren Patienten eine Abnahme der Tagesmiktionsfrequenz (TMF −2,2/24 h), der Drangsymptomatik (−12), der Anzahl der Vorlagen (−1 Pads/24 h) und eine Steigerung des mittleren Miktionsvolumens (+33 ml). Solifenacin wurde zusammenfassend für die Behandlung der OAB-Symptome bei MS als effizient beurteilt [118].

Eine retrospektive Studie mit 35 Querschnittgelähmten mit Solifenacin-Medikation (Dosierung 10 mg, 2 Patienten nur 5 mg) zeigte eine signifikante Steigerung der Blasenkapazität, des RV, der Compliance sowie eine Senkung des maximalen Detrusordruckes [69].

Die internationale Multicenterstudie SONIC („solifenacin in neurogenic detrusor overactivity“) mit Patienten mit MS (n = 95) und QSL (n = 81) zeigte für Solifenacin 10 mg eine Steigerung der MZB und des RV im Vergleich zu Placebo. Die Steigerung der Lebensqualität war bei Anwendung von Solifenacin 10 mg gegenüber Placebo signifikant [4].

Eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie (Pilotstudie) mit Erweiterung in eine klinische placebokontrollierte Studie zeigte bei OAB infolge Parkinson-Syndrom (n = 23) eine Abnahme der Inkontinenzepisoden und der Nykturie unter Solifenacin. Urodynamische Untersuchungsbefunde spielten keine Rolle [127].

Tolterodin.

In manchen Ländern ist Tolterodin für die Therapie der NDO zugelassen, nicht so in Deutschland. In einer randomisierten, doppelblinden und parallel placebokontrollierten Multicenterstudie zur Therapie der OAB zeigte sich nach 12 Wochen ein signifikanter Abfall der mittleren TMF für alle Gruppen [39]. Bei 63 % der Tolterodin-Gruppe und 65 % der Oxybutynin-Gruppe kam es zu einer Abnahme der Inkontinenzepisoden um mindestens 50 %. 21 % bzw. 22 % dokumentierten Kontinenz. Die am häufigsten vertretene UAW Mundtrockenheit trat im Verhältnis Placebo zu Tolterodin zu Oxybutynin in 15 % zu 30 % zu 60 % auf [39], was sich durch die unterschiedliche Selektivität zu den M3-Rezeptoren der Harnblase erklärt [30, 90]. Im Vergleich der Effektivität waren Tolterodin und Oxybutynin gleichwertig, die Tolerabilität von Tolterodin war größer (weniger UAW; [39, 79]).

Eine prospektive, doppelblinde, placebokontrollierte Crossover-Studie (2004) (Tolterodin vs. Placebo) mit Probanden mit einer NDO zeigte eine signifikante Erhöhung des Katheterisierungsvolumens und eine Abnahme der Inkontinenzepisoden [42].

In einer Studie von 2006 zeigte sich nach Verdopplung der Dosis für Tolterodin auf 2 × 4 mg eine signifikante Steigerung des RV auf 350 ml und einen Abfall des maximalen Detrusordruckes von 54 auf 43 cmH2O [53].

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen

Die häufigsten UAW von AM sind Mundtrockenheit, Obstipation, Einschränkungen der Kognition und Wahrnehmungsstörungen, Akkommodationsstörungen und eine Verlängerung der QT-Zeit. Die UAW unterliegen individuellen Schwankungen und sind individuell dosisabhängig [80]. Die Art der Applikation (oral, transdermal oder intravesikal) kann ebenfalls Einfluss nehmen. Besonders die orale Form der Oxybutynin-Anwendung steht im Verdacht, kognitive Störungen zu verursachen (tertiäres Amin, Überwindung der Blut-Hirn-Schranke und Metabolisierung zu N‑Desethyloxybutynin; [85, 122]) während der Wirkstoff Trospium als quartäres Amin die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren soll und deshalb kognitive Einschränkungen nicht zu befürchten sind [85].

Wechselwirkungen und Dosierungen

Bei der Dosierung der AMT sollten die pharmakokinetischen Eigenschaften und evtl. vorliegende Nieren- und Leberfunktionsstörungen sowie die Begleitmedikation berücksichtigt werden, die Einfluss über das Cytochrom P450 nehmen. Je nach Begleitmedikation muss mit Wechselwirkungen gerechnet werden [95]. Für den nicht selten auftretenden Wirkungsverlust der AMT (Tachyphylaxie) könnte eine Überexpression von P2X2-Rezeptoren im Detrusorgewebe eine Rolle spielen [51, 93]. Zu Details wird auf die tabellarische Darstellung in der LL-Langversion Tab. 6a und 6b verwiesen ([72] S. 21–23).

Dosiseskalation und Kombinationen

Um eine ausreichende Unterdrückung der NDO zu erreichen, kann es erforderlich sein, die von den Herstellern empfohlene Höchstdosierung nach eingehender Aufklärung zu überschreiten [14, 25, 53, 77].

Oxybutynin.

Eine Tagesdosis von bis zu 30 mg Oxybutynin wird bei Erwachsenen gut toleriert und sei sicher [14, 91]. Mit einer Steigerung der zystometrischen Blasenkapazität fiel die Rate der Inkontinenzepisoden von 13 auf 6 pro Woche [91]. Oxybutynin ER ist in Deutschland nicht im Handel.

Trospium und Tolterodin.

Das Anpassen der Dosis von Trospium an das Körpergewicht von Erwachsenen hat keinen Einfluss auf die Anzahl der Inkontinenzepisoden und verringert die UAW nicht [83].

Eine Verdopplung der Tagesdosis auf 90 mg Trospium oder von Tolterodin auf 2 × 4 mg führte zu einer deutlichen Steigerung der maximalen zystometrischen Blasenkapazität, zu einem Abfall der maximalen Detrusordruckes und zu einer Reduktion der Harninkontinenzrate von 8–12 Inkontinenzepisoden/Tag auf 0–2 Inkontinenzepisoden/Tag [53].

Entscheidungshinweise für die Auswahl der detrusordämpfenden Therapie und Alternativen

Die Therapieentscheidung und die Dosis richten sich nach der Wirksamkeit und Verträglichkeit.

Ein ideales AM existiert nicht. In einer Metaanalyse schien die Wirkung aller Präparate vergleichbar, wobei das Hauptaugenmerk dieser Metaanalyse mehr auf den Vergleich der Wirkung der Antimuskarinika (Oxybutynin, Tolterodin, Propiverin, FlavoxatFootnote 1, Trospium und Darifenacin) mit Placebo gerichtet war, als auf den Vergleich der AM untereinander [80]. Ein Wechsel von einem AM auf ein anderes ist wegen der individuell beklagten Nebenwirkungen oder Nichtwirkung möglich, es besteht aber keine Präferenz für bestimmte AM.

Sofern nach Dosiseskalation der AMT die erforderliche Unterdrückung der NDO nicht gelingt, kann eine Kombination verschiedener AM [5, 67], auch mit unterschiedlicher Anwendung (oral, Pflaster, Instillation), eine Kombinationstherapie von zwei sich in der Affinität zu den muskarinergen Rezeptoren unterscheidenden AM [5, 62] oder die Kombination eines AM mit einem trizyklischen Antidepressivum [10] bzw. eines AM mit einem β3-Sympathomimetikum die Effizienz steigern [5, 10, 67], um das Therapieziel der Unterdrückung der NDO und evtl. auch eine Minderung von UAW zu erreichen. Eine besonders enge, regelmäßige Nachsorge durch die behandelnden Ärzt*innen mit urodynamischer Kontrolle und intensive Aufklärung sind erforderlich („off-label use“; s. Empfehlung 1).

Wenn die AMT selbst nach hoher und höchster Dosierung oder nach Kombinationen versagt, können nachfolgende Alternativen hilfreich sein:

  1. 1.

    Für die Patienten mit NDO, die ohnehin den IK anwenden, kann die intravesikale Therapie mit der Instillation von Oxybutynin-Lösung eine Alternative sein.

  2. 2.

    Sowohl bei NNDO [44] als auch bei NDO infolge QSL oder MS wird die Injektionstherapie mit Onabotulinumtoxin A in den Detrusor empfohlen (minimalinvasiver Eingriff: Cave autonome Dysreflexie, Narkose kann erforderlich sein; [25, 49]). Die zu erwartende Wirkung ist vergleichbar mit der der AMT (OAB; [38, 104, 119]), die Kosten sind ähnlich [120].

  3. 3.

    Es existieren einige chirurgische Verfahren zur Therapie der NDO, wie die sakrale Deafferentation und Implantation eines Vorderwurzelstimulators (bei Vorliegen einer QSL), die permanente sakrale Neuromodulation oder eine intestinale Augmentation.

Empfehlungen

Die Konsensusstärke ist jeweils in „%“ in Klammern angegeben.

Empfehlung 1

Orale AMT bei neurogener Detrusorüberaktivität (NDO; [72]).

  1. a)

    Eine (video)urodynamische Klassifikation der NLUTD soll vor dem Einsatz von AM erfolgt sein (84,2 %).

  2. b)

    Der neurologische Status soll vor Therapie geklärt sein (Ätiologie, Lähmungshöhe, Selbstständigkeit, Grad der Abhängigkeit von fremder Hilfe, u. a.); (100 %).

  3. c)

    Bei Therapiebeginn der NDO sollen zugelassene, orale AM als 1. Wahl eingesetzt werden: Oxybutynin, Propiverin, Trospium (Nennung in alphabetischer Reihenfolge). Dabei sind die Kontraindikationen zu beachten (100 %).

  4. d)

    Die individuelle Dosierung der AM soll sich nach Wirksamkeit und Verträglichkeit richten (100 %).

  5. e)

    Die individuell erforderliche Dosierung kann die empfohlenen Dosierungen überschreiten (100 %).

  6. f)

    Eine urodynamische Kontrolle der Wirksamkeit der Therapie sollte durchgeführt werden (89,5 %).

  7. g)

    Bei unzureichender Wirksamkeit oder bei UAW können für die Therapie der NDO nicht zugelassene AM eingesetzt werden (100 %).

  8. h)

    Kombinationen von AM (orale Gabe, transdermale und intravesikale Applikation, [s. unten]) können in Erwägung gezogen werden (100 %).

Instillation von Oxybutynin bei NDO

Im März 2019 wurde die Darreichungsform von Oxybutynin-Lösung in Deutschland als Arzneimittel in einer Fertigspritze zugelassenFootnote 2. Außerdem finden Rezepturen verschiedener Apotheken Verwendung. Die zugelassene Indikation ist die Therapie der neurogenen Detrusorüberaktivität aufgrund einer Rückenmarksverletzung oder einer Meningomyelozele bei Kindern ab 6 Jahren und bei Erwachsenen, die ihre Blase mittels des IK entleeren und mit oralen AM nicht adäquat behandelt werden können.

Die Wirkung des intravesikal verabreichten Oxybutynins wird auf einen mehrfachen, lokalen Effekt in der Blasenwand zurückgeführt: Oxybutynin hemmt postsynaptisch die M2- und M3-Rezeptoren des Detrusors und präsynaptisch durch Hemmung der M1-Rezeptoren die Ausschüttung von Acetylcholin [23, 86]. Durch seinen calciumantagonistischen Effekt wirkt es spasmolytisch auf den Detrusor [23, 86] und durch die Inhibition der C‑Fasern am Urothel kommt der lokalanästhetische Effekt zustande [23, 32, 65]. Vorübergehend auftretende zentralnervöse Störungen nach der intravesikalen Applikation (Schwindel, Müdigkeit, Teilnahmslosigkeit und leichte Bewusstseinsstörungen sowie Konzentrationsstörungen) sind ernst zu nehmen (Verkehrstüchtigkeit, Bedienung von Maschinen), systemische UAW wie bei oraler Applikation sind auch hier möglich, wenn auch meist weniger ausgeprägt [103], was auf die Umgehung des First-pass-Effekts und damit geringerer Konzentration des aktiven Metaboliten N‑Desethyloxybutynin zurückgeführt werden kann [18]. Zur Dosierung und möglichen Kombinationstherapien muss auf die ausführlichen Darstellungen der LL verwiesen werden (s. Empfehlung 2).

Empfehlung 2

Intravesikale Instillation von Oxybutynin-Lösung bei NDO [72].

  1. a)

    Indikation bei Therapieversagen und/oder nicht tolerablen UAW der oralen Gabe von AM. In dieser Situation sollte die Instillation von Oxybutynin-Lösung intravesikal angeboten werden, der ISK/IFK ist dabei obligat (83,3 %).

  2. b)

    Die Dosierung soll sich nach der klinisch (z. B. Blasenentleerungsprotokoll) und/oder urodynamisch überprüften Wirksamkeit und der individuellen Verträglichkeit richten (88,9 %).

  3. c)

    Höhere Dosierungen können erforderlich werden (88,9 %).

  4. d)

    Kombinationen von Instillation und oraler AMT können sich als effektiv erweisen und weniger UAW zeigen (88,9 %).

Sympathomimetika am UHT

β3-Adrenozeptoragonisten.

Mittels selektiver β3-Adrenozeptoragonisten erscheint eine Beeinflussung der NDO möglich. Mirabegron ist in Deutschland für die symptomatische Therapie bei imperativem Harndrang, erhöhter Miktionsfrequenz und/oder Dranginkontinenz bei Erwachsenen mit OAB zugelassen, aber nicht für die Therapie der NDO infolge NLUTD bei QSL. Sofern Mirabegron zum Einsatz kommen soll, als Monotherapie [70, 123] oder als Kombinationstherapie mit einem AM [37, 61], geschieht dies im „off-label use“. Bei spinaler NDO wurde die Wirksamkeit von Mirabegron in einer Kombination mit Solifenacin belegt [2, 107, 125].

Unter den nachfolgend genannten Kriterien kann ein primärer Einsatz von Mirabegron sinnvoll sein:

  • unkontrolliertes Engwinkelglaukom,

  • Myasthenia gravis,

  • Einnahme von Cholinesterasehemmern (z. B. bei Morbus Parkinson, Demenz),

  • schwere infravesikale Obstruktion,

  • nicht tolerierbare Nebenwirkungen durch antimuskarinerge Medikation,

  • schwere Obstipation,

  • hoher anticholinerger Preload (Polypharmazie).

Trizyklische Antidepressiva.

Trizyklische Antidepressiva entfalten eine Nebenwirkung (α-sympathomimetisch am Blasenhals und β‑sympathomimetisch am Detrusor) am UHT, da sie potente Inhibitoren von muskarinergen und Histamin‑H1-Rezeptoren und als Agonisten an α1-Adrenozeptoren sind [7, 63]. Für die Anwendung trizyklischer Antidepressiva zur Therapie von Störungen am UHT besteht keine Zulassung. Die Nebenwirkungen dieser Antidepressiva am UHT können aber für Kombinationstherapien mit einem AM genutzt werden, z. B. um den maximalen Detrusordruck zu senken [21]. Der gebräuchlichste Wirkstoff ist Imipramin. Die Tachykardie/Tachyarrhythmie und das Risiko der Kardiotoxizität (insbesondere bei Kindern) sind der häufigste Grund, die Therapie zu beenden ([7, 89]; s. Empfehlung 3).

Empfehlung 3

Anwendung von sympathomimetisch wirksamen Medikamenten [72].

  1. a)

    Bei Versagen oder bei UAW von AM kann das β3-Sympathomimetikum Mirabegron für die Therapie der NDO eingesetzt werden („off-label use“; 100 %).

  2. b)

    Es können Kombinationen wie orales oder/und intravesikales AM + trizyklisches Antidepressivum, orales oder/und intravesikales AM + β3-Sympathomimetikum erprobt werden („off-label-use“; 89,5 %).

  3. c)

    Der Erfolg dieser Therapie soll klinisch (z. B. Blasenenentleerungsprotokoll) und/oder (video)urodynamisch kontrolliert werden (100 %).

  4. d)

    Bei Therapieversagen/nicht tolerablen UAW soll die Onabotulinumtoxin-Injektion angeboten werden (100 %).

  5. e)

    Bei Therapieversagen/nicht tolerablen UAW können chirurgische Therapiealternativen in Erwägung gezogen werden (100 %).

Onabotulinumtoxin-Injektion bei NDO

Der Wirkstoff Onabotulinumneurotoxin (OBoNT) ist seit 2011 unter folgenden Voraussetzungen für die Therapie der NDO zugelassen [17]:

  1. 1.

    stabile QSL unterhalb C8 oder MS mit einem EDSS ≤ 6,5,

  2. 2.

    Alter ≥ 18 Jahre,

  3. 3.

    urodynamisch gesicherte neurogene Detrusorüberaktivität,

  4. 4.

    bestehende Harninkontinenz,

  5. 5.

    Injektion des Präparats Onabotulinumtoxin bis zu einer Dosierung von 200 AE.

Eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie [28] und eine Phase-III-Studie zur Anwendung von Onabotulinumtoxin bei NDO [47] beeinflussten die Zulassung von OBoTN entscheidend. Beide Studien kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass bezüglich der Effizienz und der Wirkungsdauer zwischen den Dosierungen 200 und 300 AE kein signifikanter Unterschied und für 200 AE ein zu bevorzugendes Sicherheitsprofil besteht (HWI-Rate, de novo IK; [28, 47]).

Weicht man von den oben genannten Zulassungskriterien ab, bewegt man sich im „off-label use“. Gleiches gilt beim Einsatz höherer Dosierungen wie 300 oder 400 AE, die mitunter zur Anwendung kommen [17]. Die Wirksamkeit von OBoNT wurde in vielen Studien belegt, UAW traten selten auf [52, 73]. Die Wirkdauer liegt im Durchschnitt bei 8–11 Monaten [11, 96, 97]. Sehr belastende systemische UAW wie vorübergehende Muskelschwäche im Bereich des Schultergürtels, Gangstörungen und Obstipationen können vereinzelt bis zu 3 Monaten auftreten ([34, 117, 124]; s. Empfehlung 4).

Empfehlung 4

Anwendung von Onabotulinumtoxin [72].

  1. a)

    Indikation „first line“: Bei QSL unterhalb C8 oder MS bis zu einem EDSS von ≤ 6,5 kann die OBoNT-Injektion mit bis zu 200 AE als Alternative zu anderen medikamentösen Therapien angeboten werden, sofern es Gründe gegen eine primäre medikamentöse Therapie gibt (89,5 %).

  2. b)

    Indikation „second line“: Bei erfolgloser Therapie der NDO mit AM im zugelassenen Rahmen bzw. bei nicht tolerablen UAW sollte die OBoNT-Injektion angeboten werden (94,8 %).

  3. c)

    Bei erfolgloser Therapie mit antimuskarinergen oder β‑adrenergen Präparaten im „off-label use“ bzw. bei intolerablen UAW dieser Anwendungen sollte die OBoNT-Injektion als Alternative angeboten werden (89,5 %).

  4. d)

    Bei unzureichender Wirkung von 200 AE OBoNT kann eine höhere Dosis erwogen werden („off-label use“; 84,2 %).

  5. e)

    Bei Anwendung von OBoNT soll darüber aufgeklärt werden, dass der IK notwendig werden kann oder unvermeidbar ist, sofern dieser nicht ohnehin regelmäßig angewandt wird (89,5 %).

  6. f)

    Bei Versagen der OBoNT-Injektion in den Detrusor vesicae und der medikamentösen Therapie sollten chirurgische Therapiealternativen angeboten werden (78,9 %).

Kinder

Die häufigste Ursache der NLUTD im Kindesalter ist die spinale Dysraphie (MMC, Spina bifida), seltener die erworbene QSL [71, 111]. Die AMT ist meist alternativlos. Aufgrund der Beschränkungen durch die Zulassung bewegt man sich gerade im Säuglings- und Kleinkindalter überwiegend im „off-label use“.

Orales Oxybutynin ist in Deutschland ab einem Alter von 5 Jahren zugelassen, Trospium ab 12 Jahren, Oxybutynin zur intravesikalen Instillation für Kinder über 6 Jahre zur Unterdrückung der NDO. Propiverin darf nach Vollendung des 1. Lebensjahres eingesetzt werden, die Solifenacin-Suspension für Kinder ab 2 Jahre in Österreich und Deutschland und Trospium für Kinder ab 12 Jahren. Tolterodin und Fesoterodin sind für Kinder nicht zugelassen, werden aber im „off-label use“ eingesetzt. Mehrere Studien für Tolterodin [26, 41, 50, 82, 98, 106] und Fesoterodin [81, 88] belegen die Wirksamkeit und Verträglichkeit bei Kindern.

Mirabegron ist bei Kindern nicht zugelassen, wird aber zur Therapie der NDO, ggf. auch in Kombination mit einem AM, eingesetzt. Hinweise zu den Dosierungen finden sich in der Langversion der Leitlinie ([72], S. 69; s. Empfehlung 5).

Empfehlung 5

Medikamentöse Therapie der NDO bei Kindern und Jugendlichen [72].

  1. a)

    Die medikamentöse Therapie soll bei Neugeborenen/jungen Säuglingen frühzeitig begonnen werden (84,2 %).

  2. b)

    Vor Beginn soll eine Zystomanometrie mit MCU, besser eine Videourodynamik durchgeführt werden, die bis zur 12. Lebenswoche erfolgt sein soll (84,2 %).

  3. c)

    Der IK soll als wichtiger Baustein einer neurourologischen Therapie im medikamentösen Therapiekonzept von Kindern mit NLUTD berücksichtigt werden (89,5 %).

  4. d)

    Bei überaktivem Detrusor und überaktivem Sphinkter/inadäquater Blasenentleerung soll eine AMT in Kombination mit dem IK zeitnah begonnen werden (94,7 %).

  5. e)

    Ziel der AMT soll die Absenkung des Detrusordruckes deutlich unter 40 cmH2O, Verbesserung der Compliance und weitgehende Normalisierung der dem Lebensalter des Kindes entsprechenden Blasenkapazität sein (89,5 %).

  6. f)

    Eine urodynamische Kontrolle sollte spätestens 3 Monate nach Beginn der antimuskarinergen Behandlung, im weiteren Verlauf in jährlichen Abständen, bzw. risikoadaptiert bei Änderung neurologischer Befunde oder bei klinischen Ereignissen (z. B. rez. HWI) auch eher durchgeführt werden (89,5 %).

  7. g)

    Als Mittel der ersten Wahl bei NDO sollten Antimuskarinika gemäß der Altersgrenze der Zulassung eingesetzt werden, (Propiverin ab dem Alter von 1 Jahr, Solifenacin-Suspension ab dem Alter von 2 Jahren, Oxybutynin ab dem Alter von 5 Jahren sowie Trospium ab dem Alter von 12 Jahren; 89,5 %).

  8. h)

    Oxybutynin und Propiverin sollen bereits im Säuglingsalter eingesetzt werden, wenn die antimuskarinerge Behandlung eindeutig indiziert ist und keine in diesem Alter zugelassenen AM verfügbar sind („off-label use“; 88,9 %)

  9. i)

    Wenn die orale Gabe von Oxybutynin, Propiverin oder Solifenacin-Suspension bei empfohlener Höchstdosis keine ausreichende Wirkung zeigt, soll die intravesikale Applikation von Oxybutynin (Zulassung für Kinder ab 6 Jahren) angeboten werden (83,3 %).

  10. j)

    Die intravesikale Applikation von Oxybutynin-Lösung kann bei Kindern als First-line-Therapie eingesetzt werden, sofern der IK fester Bestandteil der Therapie ist (Zulassung für Kinder ab 6 Jahren; 77,8 %).

  11. k)

    Oral/orale oder oral/intravesikale Kombinationen können angewandt werden, um die Wirkung zu optimieren und/oder UAW zu reduzieren (83,3 %).

  12. l)

    Bei unzureichender Wirksamkeit der im Kindesalter zugelassenen AM kann die Anwendung anderer AM (z. B. Tolterodin, Fesoterodin) oder eine Behandlung mit dem β3-Sympathomimetikum Mirabegron oder auch die Kombination von Mirabegron mit einem AM in Erwägung gezogen werden („off-label use“; 78,9 %).

  13. m)

    Bei Versagen der AMT-Möglichkeiten sollte zum Schutz der Nierenfunktion die Indikation zur endoskopischen Injektionstherapie mit OBoNT erwogen werden („off-label use“; 89,5 %).

  14. n)

    Bei regelmäßigem IK in Verbindung mit einer AMT bei NDO sollte auf die Behandlung mit einem α‑Adrenozeptorantagonisten zur Senkung des Blasenauslasswiderstands verzichtet werden (78,9 %).

  15. o)

    Bei Versagen aller konservativen Behandlungsmöglichkeiten und drohender Schädigung des Nierenparenchyms sollen chirurgische Therapiemaßnahmen rechtzeitig angeboten werden (94,7 %).

Ältere Patienten

Ältere Menschen (nach WHO > 65 Jahre) und Hochbetagte (> 80, > 85 Jahre, unterschiedliche Definitionen, [72, 110]) werden häufig neben der neurologischen Grunderkrankung durch eine Multimorbidität und Polymedikation (hohe anticholinerge Last) beeinträchtigt. Eine zusätzliche Rolle spielen die sog. geriatrischen „I’s“ (Immobilität, Irritabilität/Intelligenzabbau, Instabilität, Inkontinenz; [33]). Weltweit steigt die Lebenserwartung aufgrund effizienterer Therapien auch bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen [55].

Wenn die kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen schon vor der Einnahme von AM eingeschränkt sind, können diese Einschränkungen durch die Gabe von AM exazerbieren [55].

Die orale Gabe von Oxybutynin ist nicht ratsam, da dieser Wirkstoff zur deutlichen Minderung der Kognition führen kann [20, 48, 56, 59, 64, 85]. Ähnliches gilt für Propiverin [92].

Trospium passiert die Blut-Hirn-Schranke nicht, weshalb kognitive Einschränkungen eher nicht zu befürchten sind [45, 68, 108, 109]. Trospium gilt als Mittel der ersten Wahl bei der Notwendigkeit zur AMT im Lebensalter > 65 Jahren, sofern die Nierenfunktion nicht eingeschränkt ist (Trospium wird durch die Nieren eliminiert, im Gegensatz zu allen anderen AM, die in der Leber abgebaut werden). Interaktionen mit Substanzen, die in der Leber verstoffwechselt werden (keine Cytochrom-P-Interaktionen), sind nicht zu erwarten [22, 35].

Darifenacin und (Des‑)Fesoterodin können als Alternativen in Erwägung gezogen werden [43, 60, 85], wenn Trospium nicht anwendbar ist. Der Einsatz von Darifenacin bei NDÜ erfolgt im „off-label use“ [43], ist aber gerade bei Patienten mit IPS oder MS aufgrund des geringen Risikos der Beeinträchtigung von kognitiven Funktionen sinnvoll [60].

Auch die sympathomimetische Therapie mit Mirabegron allein und in Kombination mit einem AM kann sinnvoll sein („off-label use“; [121]).

Da die AMT bei älteren und geriatrischen Patienten begrenzt anwendbar ist, sollte frühzeitig als Alternative die Onabotulinumtoxin-Injektion angeboten werden [72]. Bei allen Therapiemaßnahmen muss die Blasenentleerung sichergestellt werden (s. Empfehlung 6).

Empfehlung 6

Medikamentöse Therapie der NDO bei älteren Patienten [72].

  1. a)

    a) Bei älteren Patienten mit NLUTD sollte die konservative, nicht-medikamentöse Therapie mit Verhaltensinterventionen wie z. B. Toilettentraining, Anpassung des Trinkverhaltens in Erwägung gezogen werden, sofern eine zumindest partielle Kooperation gegeben ist und dies die Art der Funktionsstörung des UHT zulässt (94,7 %).

  2. b)

    Bei Indikationsstellung für eine medikamentöse Therapie soll die Abwägung der individuellen Risikofaktoren vorgenommen werden (94,7 %).

  3. c)

    Als AM der ersten Wahl soll bei älteren Patienten (ab 65 Jahren, gemäß WHO und s. oben) Trospium unter Kenntnis der Nierenfunktion eingesetzt werden (94,7 %).

  4. d)

    Darifenacin oder (Des‑)Fesoterodin sollten bei älteren Patienten als Alternativen erwogen werden, wenn Trospium unwirksam ist oder nicht in Betracht kommt (z. B. Niereninsuffizienz) („off-label use“; 89,5 %).

  5. e)

    Mirabegron kann eine Alternative darstellen, wenn keine Kontraindikationen vorliegen („off-label use“; 84,2 %).

  6. f)

    Bei älteren Patienten sollte eine engmaschige Überwachung und Therapiekontrolle mit geriatrischem Assessment (z. B. MMST, Uhrentest; [72]) gewährleistet sein (89,5 %).

  7. g)

    Bei älteren Patienten sollte frühzeitig als Alternative zur medikamentösen Therapie die OBoNT-Injektion angeboten werden (94,7 %).

  8. h)

    Auf eine adäquate Blasenentleerung soll geachtet werden (idealerweise willentlich, reflektorisch oder IK, sonst SPBF oder DK; 94,7 %).

  9. i)

    Chirurgische Alternativen sollten bei dieser Patientengruppe nur als individuelle, sorgfältig alle Lebensumstände abwägende Maßnahme in Betracht gezogen werden. Eine ausreichende Selbsthilfefähigkeit muss vorliegen (94,7 %).

Therapie der funktionellen Obstruktion

Beeinflussung des Blasenauslasswiderstandes

Bei NDO infolge spinaler Schädigung führt die DSD und mitunter die Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie zu einer erschwerten Blasenentleerung mit erhöhtem Miktionsdruck und der Gefahr der Schädigung der Nierenfunktion. Rezidivierende Harnwegsinfektionen sind häufig das erste Warnsignal.

Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie.

Die Relaxation des glattmuskulären Anteils des Kontinenzapparats und damit die Verbesserung der Blasenentleerung ist das Hauptziel der α1-Blockade (α1-Adrenozeptorantagonisten; [15, 27]). Die zugelassene Indikation bei allen Präparaten ist die symptomatische Behandlung der funktionellen Störungen des benignen Prostatasyndroms bei Männern, so dass der Einsatz bei QSL im „off-label use“ erfolgt, ebenso der Einsatz bei Frauen mit NLUTD, wenngleich in Studien bei Männern und Frauen die Effizienz und die Sicherheit beschrieben wird [1, 84, 102]. Bei Neigung zur autonomen Dysreflexie kann der Einsatz von α1-Blockern im Sinne der Prophylaxe sinnvoll sein aber nicht für eine Akuttherapie [1]. Eine chirurgische Therapie mit Blasenhalsinzision kann in Erwägung gezogen werden.

Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie.

Die orale medikamentöse Behandlung der DSD ist wenig effektiv. Nur exzessiv hohe Dosierungen von 140–160 mg Baclofen pro Tag konnten bei 20 % eines Patientenkollektivs eine Minderung des intravesikalen Druckes bewirken. Die wesentlichen UAW waren Somnolenz bei Tetraplegikern und Schwäche in den oberen Extremitäten bei Paraplegikern [74]. Hohe Dosen (> 80 mg) können zu psychotischen Zuständen führen [101]. Plötzliches Absetzen der Medikation kann Anfallsleiden, Halluzinationen, Angstzustände und Tachykardie provozieren [99]. Einzelne Fallbeschreibungen zeigen eine Milderung der DSD nach intrathekaler Applikation von Baclofen mittels Medikamentenpumpe [87, 116].

Die Sphinkterotomie ist die wirksamste Therapie der DSD, sofern die reflektorische Blasenentleerung erhalten bleiben soll [76]. Mittels Injektion von Botulinumneurotoxin A in den externen Sphinkter kann eine Milderung der DSD erreicht und somit eine ausreichend widerstandsarme Reflexentleerung ermöglicht werden („off-label use“), wie in mehreren Studien gezeigt werden konnte [31, 94, 105]. Nachteilig ist, dass die Reinjektion in relativ kurzen Abständen von 3–6 Monaten wiederholt werden muss [24, 40, 105].

Eine Alternative besteht in der möglichst vollständigen Unterdrückung der NDO (AMT) und dem IK (s. Empfehlung 7).

Empfehlung 7

Funktionelle Behinderung der Blasenentleerung bei NLUTD [72].

Indikation: Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie und/oder autonome Dysreflexie

  1. a)

    Es können selektive α1-Adrenozeptor-Antagonisten zur Absenkung des Entleerungswiderstandes bei Männern eingesetzt werden („off-label use“; 78,9 %).

  2. b)

    Es können selektive α1-Adrenozeptorantagonisten bei Frauen im „off-label use“ eingesetzt werden. Cave: Belastungsharninkontinenz möglich (89,5 %).

  3. c)

    Bei Detrusor-Blasenhals-Dyssynergie mit und ohne autonome Dysreflexie sollen alternative Therapien wie die AMT und der IK angeboten werden (94,7 %).

  4. d)

    Bei Versagen der Therapie mit α1-Adrenozeptorantagonisten sollte bei Männern die Indikation zur chirurgischen Therapie geprüft werden (89,5 %).

Indikation: Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie

  1. e)

    Die Indikation zur chirurgischen Therapie sollte geprüft werden, insbesondere wenn der IK nicht in Betracht kommt (100 %).

  2. f)

    Die AMT in Verbindung mit dem IK, sofern anwendbar, sollte angeboten werden (100 %).

  3. g)

    Die OBoNT-Injektion in den externen Sphinkter kann erwogen werden („off-label use“; 100 %).

Therapie der NDU

Bei neurogener Detrusorunteraktivität (NDU) ist die Niederdruckspeicherfunktion in der Regel erhalten, so dass hier lediglich das Entleerungsversagen überwunden werden muss (z. B. durch den intermittierenden Katheterismus). Bei Ausfall des unteren motorischen Neurons ist die medikamentöse Auslösung einer Detrusorkontraktion für eine koordinierte Blasenentleerung nicht möglich [13]. Die Analyse randomisierter kontrollierter Studien, 7 zu Bethanechol, eine zu Carbachol und 3 zu dem Cholinesterasehemmer Distigmin mit einem sehr heterogenen Feld von Indikationen dokumentierte keinen oder allenfalls einen geringen Benefit bei der Behandlung der unteraktiven Blase (s. Empfehlung 8).

Empfehlung 8

Parasympathikomimetika – Entleerungsversagen der Harnblase [72].

  1. a)

    Für die Therapie der NDU soll keine parasympathomimetische Therapie eingesetzt werden (94,7 %).

  2. b)

    Bei neurogener Detrusorunteraktivität/Detrusorakontraktilität soll als Therapie der Wahl der IK eingesetzt werden, sofern möglich (94,7 %).

Therapie der neurogenen Belastungsharninkontinenz

Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer

Duloxetin.

Nach gegenwärtigem Stand gibt es keine randomisierte, kontrollierte Studie zur medikamentösen Therapie der Belastungsharninkontinenz/neurogenen Sphinkterinsuffizienz und es steht kein ausdrücklich dafür geeigneter Wirkstoff zur Verfügung [9].

Duloxetin ist zur Therapie der mittelschweren bis schweren Belastungsharninkontinenz der erwachsenen Frau zugelassen [8]. Bei Männern erfolgt der urologische Einsatz als „off-label use“, wenn eine Belastungsharninkontinenz behandelt werden soll.

Imipramin (s. oben).

Das seit den 1950er-Jahren eingesetzte Antidepressivum Imipramin setzt komplexe pharmakologische Mechanismen in Gang, die sich theoretisch für die Behandlung der Harninkontinenz nutzen lassen [54]. Zwei prospektive offene Studien mit 40 und 30 Frauen mit nicht neurogener Belastungsharninkontinenz zeigten nach einer Tagesdosis von 75 mg über 3 Monate [75] und über 4 Wochen [46] eine Verbesserung der Inkontinenz in 60–71 % (Pad-Test, Uroflowmetrie, Urodynamik). Die beschränkte Studienlage und ernst zu nehmende kardiovaskuläre Nebenwirkungen mit besonderer Sensitivität bei Kindern lassen zur Vorsicht raten [6, 12, 100]. Die Anwendung von Imipramin erfolgt ausschließlich im „off-label use“.

Lokale Östrogenpräparate

Die lokale Östrogenwirkung bei der (postmenopausalen) querschnittgelähmten Frau wurde bisher nicht untersucht. Bei der nicht gelähmten Frau gibt es Untersuchungen, dass bei der Ausbildung der Symptome einer OAB Durchblutungsstörungen (z. B. prolongierte Ischämie während der Miktion) im Bereich der Muskulatur von Blase und Harnröhre bzw. des urethralen Sphinkters eine Rolle spielen (Verringerung des urethralen Verschlussdruckes; [57]; s. Empfehlung 9).

Empfehlung 9

Neurogene Belastungsharninkontinenz [72].

  1. a)

    Ein medikamentöser Therapieversuch zur Erhöhung des Blasenauslasswiderstands kann bei leichten Formen der neurogenen Belastungsharninkontinenz unter Beachtung der Einschränkungen in Einzelfällen hilfreich sein (100 %).

  2. b)

    Bei Versagen der konservativen Therapie sollen chirurgische Therapien angeboten werden (94,7 %).

Fazit für die Praxis

  • Die genaue Kenntnis der neurologischen Grunderkrankung/Traumafolge und die exakte Klassifikation der neurogenen Funktionsstörung des unteren Harntraktes (NLUTD) sind Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines individuellen Therapiekonzepts.

  • Die Behandlung der NLUTD ist eine Domäne der konservativen medikamentösen Therapie.

  • Als Therapie der Wahl bei neurogener Detrusorüberaktivität (NDO) gilt die antimuskarinerge Therapie (AMT) und ggf. der IK. Alternativen bestehen in der sympathomimetischen Therapie mit Mirabegron, der Instillation von Oxybutynin und mit der Onabotulinumneurotoxin (OBoNT)-Injektion.

  • Bei Behinderung der Blasenentleerung durch eine funktionelle Obstruktion sollte bevorzugt die NDO behandelt werden, wann immer möglich.

  • Es gibt keine medikamentöse Therapie der NDU, Therapie der Wahl ist der intermittierende Katheterismus (IK)/intermittierende Selbstkatheterismus (ISK).

  • Eine Empfehlung zur medikamentösen Therapie der neurogenen Belastungsharninkontinenz ist nicht möglich.

  • Über chirurgische Therapiealternativen soll bei Versagen der konservativen Therapien rechtzeitig aufgeklärt werden.