Anamnese

Ein 17 Monate alter Junge wurde bei kombinierter Entwicklungsverzögerung, Z. n. niedrigem Geburtsgewicht (SGA), Kleinwuchs, Mikrozephalie und milden fazialen Auffälligkeiten vorgestellt. Er ist das 1. Kind gesunder, nichtkonsanguiner, kaukasischer Eltern. Die Schwangerschaft sei bis zur Diagnose einer Wachstumsverzögerung (SGA) unmittelbar pränatal unauffällig verlaufen, Geburt nach 39 + 4 SSW spontan (Geburtsmaße: Gewicht 2680 g (−2,02 z), Länge 47 cm (−2,28 z), Kopfumfang 33,5 cm (−1,65 z)). Postnatal zeigte der Junge eine gute Adaptation und einen guten Saugreflex und war bis zum 8. Lebensmonat gestillt worden. Die Gewichtszunahme war zögerlich; das Wachstum verlief entlang der 3. Perzentile, von der er zuletzt abgefallen war. Die motorische Entwicklung verlief von Beginn an verzögert: zögerliche Kopfkontrolle mit ca. 5 Monaten, Drehen auf eine Seite mit ca. 6 Monaten, Robben mit ca. 12 Monaten, Ziehen in den Stand mit 16 Monaten. Bei Erstvorstellung im Alter von 17 Monaten sprach der Junge noch nicht.

Klinischer Befund

Wir sahen einen freundlichen Jungen in gutem Allgemein- und schlankem Ernährungszustand mit sehr heller (nichtfamiliärer) Komplexion: blasser Teint, hellblonde Haare und hellblaue Augen. Er wies ein relativ flaches Hinterhaupt, eine hohe und breite, leicht vorstehende („frontal bossing“) Stirn und halonierte Augen mit angedeuteten Augenschatten auf. Zudem bestanden eine beidseitige Ptosis sowie Knick-Senk-Füße und eine Syndaktylie der Zehen II/III bds. Der Muskeltonus war mild hypoton, die übrige neurologische Untersuchung unauffällig. Das Kind konnte frei sitzen und sich in den Stand ziehen, jedoch noch nicht laufen. Der interne körperliche Untersuchungsbefund war ebenfalls unauffällig. Körpermaße: Gewicht 8,64 kg (−2,1 z), Länge 73,5 cm (−2,81 z), Kopfumfang 45,9 cm (−2,15 z). Einer Veröffentlichung von Fotos stimmten die Eltern des Kindes nicht zu.

Diagnostik

Die apparative Diagnostik zeigte sonographisch eine milde Hepatomegalie sowie eine fokale Hypoechogenität im apikalen Nierendrittel links. Ein EEG, eine cMRT sowie erweiterte Stoffwechseluntersuchungen, inkl. Liquordiagnostik, und eine augenärztliche Kontrolle fielen unauffällig aus.

Die primäre genetische Diagnostik erfolgte mittels „whole exome sequencing“ (WES), welches bei dem Indexpatienten und seinen biologischen Eltern an aus EDTA-Blut gewonnener DNA durchgeführt wurde (Trio-WES). Die Exomsequenzierung erfolgte am Institut für Humangenetik des Helmholtz Zentrum München. Hier wurden alle bekannten kodierenden DNA-Fragmente des Patienten und seiner biologischen Eltern mit dem SureSelect Human All Exon 50 Mb V5 Kit (Fa. Agilent, Santa Clara, CA, USA) angereichert und mithilfe des HiSeq2500 System (Fa. Illumina, San Diego, CA, USA) sequenziert. Die ausgelesenen Sequenzfragmente („reads“) wurden unter Zuhilfenahme des Burrows-Wheeler Aligner (BWA, v.0.5.87.5) dem Referenzgenom „human genome assembly hg19“ (UCSC Genome Browser) zugeordnet. Die Aufdeckung genetischer Varianten (Abweichungen von der Referenz) erfolgte mit SAMtools (v0.1.18), PINDEL (v 0.2.4t), und ExomeDepth (v1.0.0). 95–99 % der exomischen Sequenzen wurden dabei mindestens 20-fach abgedeckt. Die Auswertung der mittels Exomsequenzierung generierten genetischen Daten wurde von Mitarbeitern des Instituts für Humangenetik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vorgenommen [7]. Damit wurde eine ca. 5 Mb umfassende heterozygote Mikrodeletion im Bereich 20q11.23–q12 (langer Arm des Chromosoms 20) identifiziert. Diese konnte bei den gesunden Eltern nicht nachgewiesen werden; es ist somit a.e. von einer De-novo-Genese auszugehen. Die Deletion umfasst die OMIM-Gene: EPB41L1, SAMHD1, SRC, MAFB und TOP1 (UCSC). Heterozygote Deletionen in diesem Bereich wurden – in gering abweichender Größe – bereits mehrfach beschrieben und sind mit dem seltenen, aber rekurrenten Mikrodeletionssyndrom 20q11–q12 assoziiert.

Therapie und Verlauf

Unter allgemeiner Entwicklungsförderung sowie Physiotherapie war die Entwicklung stetig fortschreitend: Gehen an der Hand mit 20 Monaten, freies Laufen mit 22 Monaten. Die Fußhaltung sei ungelenk, es wurden sensomotorische Einlagen angepasst. Die Entwicklung der aktiven Sprache verlief verzögert, erste Worte mit ca. 18 Monaten. Zum Zeitpunkt der letzten Vorstellung im Alter von 26 Monaten nutzte er ca. 20 Einzelworte gerichtet; die Aussprache war undeutlich, das Sprachverständnis eingeschränkt. Bei beidseitigen Paukenergüssen war die Einlage von Paukenröhrchen geplant. Der Junge war aktiv und bewegungsfreudig, wies eine gute Feinmotorik und körperliche Koordination auf und konnte selbstständig mit Löffel und Gabel essen. Ein Gefahrenbewusstsein war nicht vorhanden. Die Gewichtsentwicklung besserte sich (zuletzt −1,69 z) bei anhaltendem Kleinwuchs (zuletzt −2,56 z) und unveränderter Mikrozephalie (zuletzt −2,23 z). Der Beginn einer Frühförderung ist geplant.

Diskussion

Mikrodeletionssyndrome werden seit den 1980er-Jahren mit syndromalen Formen der Entwicklungsverzögerung und mentaler Retardierung assoziiert [10]. Die diagnostische Methode der Wahl zur Detektion dieser ist die Array-Analyse, welche zumeist bei Kindern mit einer Kombination aus Entwicklungsverzögerung und fazialen Dysmorphiezeichen ohne spezifische Verdachtsdiagnose als Basisdiagnostik durchgeführt wird. In den meisten Fällen sind dabei detektierte „copy number variations“ (CNV) höchst variabel und mit einem variablen Phänotyp assoziiert. Zudem werden in vielen Fällen gesunde Träger, z. B. gesunde Eltern, beschrieben, sodass eine abschließende Interpretation der klinischen Relevanz der erhobenen Befunde schwerfällt. Es sind jedoch einige rekurrente Mikrodeletionssyndrome mit charakteristischem Phänotyp bekannt, wie z. B. die Mikrodeletion 20q11–q12.

Seit der Erstbeschreibung durch Petersen et al. 1987 [8] sind nur wenige weitere Fälle beschrieben worden, in der Datenbank DECIPHER [2] finden sich aktuell 38 Patienten mit unterschiedlich großen Deletionen im chromosomalen Bereich 20q11–q12. Die betroffenen Patienten zeigen charakteristischerweise eine Entwicklungsverzögerung, eine muskuläre Hypotonie, eine prä- und postnatale Gedeihstörung, welche häufig in einem Kleinwuchs resultiert, und eine Fütterstörung, insbesondere neonatal. Ossäre Auffälligkeiten werden v. a. an Händen und Füßen beschrieben (Brachydaktylie, Kamptodaktylie, Klinodaktylie, Fußfehlstellungen). Als klassische kraniofaziale Auffälligkeiten werden eine hohe breite Stirn/Frontal bossing, tief liegende, halonierte Augen bzw. Enophthalmus, ein Hypertelorismus und hypoplastische Nasenflügel beschrieben; zuweilen liegt eine Mikrozephalie vor. Im Säuglings- und im frühem Kleinkindalter besteht häufig eine Mikroretrognathie, die sich mit der weiteren Entwicklung zurückbildet, dann fällt typischerweise eine Mittelgesichtshypoplasie auf. Die faziale Gestalt der vorbeschriebenen Patienten entspricht der des in diesem Casus geschilderten Patienten eindrücklich [6].

Die Entwicklung ist in allen Bereichen verzögert, jedoch erlernten die meisten Betroffenen das Laufen und Sprechen. Autistische Züge mit autoaggressivem Verhalten werden vereinzelt, die meisten Patienten jedoch als sehr freundlich beschrieben [1, 4, 5].

Häufige assoziierte Probleme betreffen die Augen (z. B. retinale Dysplasie), eine Hörstörung sowie kardiale Fehlbildungen (z. B. ASD, hypertrophe Kardiomyopathie, pulmonale Hypertonie). In der zerebralen Bildgebung zeigen sich keine charakteristischen Fehlbildungen.

Die ältesten beschriebenen Patienten waren bei Beschreibung 15 und 20 Jahre alt, sodass über den Langzeitverlauf derzeit keine Aussage gemacht werden kann [9]. Spezifische therapeutische Ansätze gibt es nicht; im Vordergrund stehen Fördermaßnahmen.

Mikroduplikationen im Bereich von 20q11 wurden bislang nicht rekurrent identifiziert. Einzelne Patienten mit Mikroduplikationen in der oben genannten Region sind beschrieben, wobei diese deutlich kleiner oder größer als die in diesem Casus identifizierte Mikrodeletion waren ([2]; Abfrage: 12.07.20). Einige der Patienten mit einer Mikroduplikation in 20q11.2 zeigten klinisch eine globale Entwicklungsstörung sowie Dysmorphiezeichen, z. B. im Sinne eines Kleinwuchses, eines Trigonozephalus oder Brachyzephalus, eines Hypertelorismus mit/ohne Epikanthus, tief angesetzter, nach hinten rotierter Ohren, Hernien, eines Kryptorchismus und einer Brachydaktylie.

Die kritische Region 20q11.2 enthält mehrere bekannte, mit einem humanen Phänotyp assoziierte OMIM-Gene: Mutationen in EPB41L1 werden als Ursache für die autosomal-dominante mentale Retardierung Typ 11 (MIM#602879) gewertet, bisher ist jedoch lediglich ein Patient mit einer Mutation in EPB41L1 und mentaler Retardierung beschrieben [3]. In der Region 20q11.2 liegt zudem das MAFB-Gen, was mit dem autosomal-dominant vererbten Duane-Syndrom (MIM#617041) bzw. dem Syndrom der multizentralen Osteolysen, Arthralgien mit oder ohne begleitende Nephropathie assoziiert ist (MIM#166300). Je nach Größe und Lage der Deletion wäre bei betroffenen Patienten insofern auch eine entsprechende Augenbewegungsstörung vorstellbar und ist in der Literatur auch bei einigen Patienten vorbeschrieben. Pathogene Veränderungen im Bereich des SAMHD1-Gens sind mit der autosomal-dominanten Form des Chilblain-Lupus, einer dermatologisch-vaskulitischen Erkrankung, assoziiert (MIM#614415). Zusätzlich sind biallelische SAMHD1-Varianten mit dem Aicardi-Goutieres-Syndrom Typ 5 (MIM#612952) vergesellschaftet. Betroffene Patienten weisen eine Kombination aus Chilblain-Lupus mit Mikrozephalie, Entwicklungsstörung, muskulärer Hypotonie, Leukenzephalopathie, Athropathien, Kontrakturen und (seltener) eine Thrombozytopenie auf (MIM#612952).

Heterozygote Mutationen im GDF5-Gen, welches bei multiplen der vorbeschriebenen 20q11-CNV deletiert war, sind mit ossären Veränderungen von Händen und Füßen, u. a. Synostosen, vertebralen Fusionen, Madelung-Deformität, Brachydaktylie, Klinodaktylie, assoziiert (MIM#601146). Die bei unserem Patienten vorliegende Deletion beinhaltet das GDF5-Gen (zytogenetische Position 20q11.22) nicht, was die milde Ausprägung der ossären Veränderungen erklären könnte.

Jedraszak et al. [6] hatten die minimale kritische Region für das hier beschriebene Mikrodeletionssyndrom auf eine 1,62 Mb große, die Gene GDF5, EPB41L1 und SAMHD1 umfassende Region eingegrenzt. Unter Berücksichtigung des hier beschriebenen Casus könnte für die für das Mikrodeletionssyndrom 20q11–q12 charakteristische Region potenziell eine Eingrenzung auf die Gene EPB41L1 und SAMHD1 vorgenommen werden.

Fazit

Wir bestätigen mit unserer Fallbeschreibung das seltene, rekurrente Mikrodeletionssyndrom 20q11–q12 mit einem wiedererkennbaren (fazialen) Phänotyp. Retrospektiv entspricht insbesondere der faziale Phänotyp exakt dem vormals beschriebenen; der Fall hätte ggf. mittels syndromologischer Verdachtsdiagnose und Array-Analyse gelöst werden können.