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Charles Lafarge aß ein Stück Kuchen – kurze Zeit später bekam er starke Bauchkrämpfe und musste erbrechen. Sein Zustand verschlechterte sich in den kommenden Wochen so, dass die Ärzte ihm nicht mehr helfen konnten. Er verstarb unter Qualen im Januar 1840. Seine Familie und die Polizei verdächtigten seine Ehefrau Marie Lafarge, die dabei beobachtet worden war, wie sie mit einem weißen Pulver hantiert hatte. Der nachfolgende Prozess führte zu einem Urteil, das zum ersten Mal auf Grundlage eines toxikologisch-chemischen Beweises erfolgte. Ein Apotheker bezeugte, dass mit der „Marsh’schen Probe“ Arsen in dem verzehrten Kuchenstück gefunden wurde. Marie Lafarge war damit des Mordes überführt.

Seit jeher haben solche arglistigen Vergiftungen die Menschen fasziniert. Sie sind aber nicht nur ein Thema für Kriminalfälle, sondern auch für die notfallmedizinische Praxis. Zudem spornten sie die Wissenschaft an, dem Geheimnis der Gifte auf die Spur zu kommen.

Dieser Bericht illustriert einen seinerzeit entscheidenden Durchbruch bei der Aufklärung von Vergiftungen. Bei der apparativen Analytik als Mittel zur Vergiftungsdiagnostik wie auch bei der Therapie und der Prävention von Vergiftungen hat sich seit jener Zeit vieles zum Besseren entwickelt – besonders erheblich in den vergangenen drei Jahrzehnten. Hierüber soll im vorliegenden Heft berichtet werden.

Bis zur Mitte der 1990er-Jahre wurden fast alle oralen Vergiftungen regelmäßig mit Giftentfernungsmaßnahmen behandelt. Die Spülung des Magens und das Auslösen von Erbrechen galten als die wichtigsten Behandlungen. Heute wissen wir es besser: Die Komplikationsrisiken dieser Maßnahmen sind in den Blick gerückt und führten zu einer veränderten Risikobewertung. Routinemäßige Magenentleerungsmaßnahmen haben zum Wohle vieler Patientinnen und Patienten damit ausgedient. Spezifische Therapiemaßnahmen wie die Gabe von stoffspezifisch wirkenden Antidoten entwickeln sich weiter – wenn auch langsam. Ein großer Teil der Vergiftungen kann heute jedoch allein durch leistungsfähige, symptomorientierte notfall- und intensivmedizinische Maßnahmen erfolgreich behandelt werden. Der Erkenntniszuwachs bei der Vergiftungsdiagnostik und -therapie wird mit maßgeblicher Vermittlung durch die Giftinformationszentren der Länder laufend und zügig in die klinische Praxis umgesetzt. Sie stellen das aktuelle klinisch-toxikologische Fachwissen rund um die Uhr für Ärztinnen und Ärzte wie auch in Vergiftungsverdachtsfällen für Betroffene selbst bereit. Noch mehr in den Fokus rücken die Giftinformationszentren in jüngster Zeit aus einem zweiten Grund: Sie dokumentieren fachkompetent alle Fälle und können so aktuelle Veränderungen im Vergiftungsgeschehen erkennen und darüber berichten. Allerdings sind sie für diese wichtige Aufgabe bisher noch nicht umfassend ausgestattet, ein Mangel, den es in der nahen Zukunft durch politische Entscheidungen zu beheben gilt.

Das Themenheft gliedert sich in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Der einleitende Beitrag (Desel) legt die Dokumentation und Berichterstattung von Vergiftungen in Deutschland dar. Alkoholische Getränke, Arzneimittel und Drogen verursachen die meisten Vergiftungen. Um in Deutschland eine einheitliche Datengrundlage zu schaffen, wird ein nationales Register von Vergiftungen mit harmonisierten Daten der Giftinformationszentren und des Bundesinstituts für Risikobewertung etabliert. Der Artikel von Hahn et al. erläutert nicht nur die Bedeutung dieses Registers, sondern vergleicht auch den Stand des Vergiftungsmonitorings mit dem anderer Länder. Das System der Giftinformationszentren, inklusive deren Historie, Arbeitsweise und Bedeutung, wird in einem weiteren Beitrag von Hahn et al. erklärt. Trotz der Fortschritte in der Prävention und der medizinischen Versorgung von Vergiftungen sind weitere Maßnahmen, insbesondere bei der Risikokommunikation, zu diskutieren. So zeigt eine aktuelle Studie zur Risikowahrnehmung von toxischen Substanzen in der deutschen Bevölkerung (Jungnickel et al.), dass für Kinder bedeutsame Gefahren, wie beispielsweise Knopfzellenbatterien, Lampenöle oder Flüssigkeiten in E‑Zigaretten, vielen Menschen kaum bekannt sind. Auch Informationen können Gegengifte sein.

Der spezielle Teil des Themenhefts befasst sich mit bedeutsamen akuten Vergiftungen. Tschirdewahn et al. geben einen Überblick über klinisch relevante Arzneimittelvergiftungen. Wie sich das Spektrum der Suchtmittel innerhalb der vergangenen Jahre sowohl in klinischen als auch in forensischen Vergiftungsfällen gewandelt hat, zeigt der Beitrag von Iwersen-Bergmann et al. Auch die Zahl der Verletzungen mit exotischen Gifttieren ist gestiegen. Schaper et al. erklären, dass alle schweren Vergiftungen durch Giftschlangenbisse verursacht wurden, während Bisse oder Stiche von Giftspinnen, Skorpionen oder Meerestieren in der Regel nur zu leichten Symptomen führten. Hermanns-Clausen et al. haben die Giftigkeit von Pflanzen neu bewertet. Eine Übersicht über die häufigsten Produktgruppen, die zu Vergiftungen führen, wurde von Begemann et al. erstellt. So können Unfälle im Haushalt durch Lacke, Farben, Baustoffe und Desinfektions- oder Wasch- und Reinigungsmittel entstehen. Beim Verschlucken von Knopfzellen können diese in der Speiseröhre stecken bleiben und die Schleimhaut in lebensbedrohlicher Weise verletzen (Gerner et al.). Der Beitrag von Wille et al. stellt chemische Kampfstoffe und verwandte neue chemische Bedrohungen vor. Neben konkreten Behandlungsempfehlungen für die einzelnen Substanzgruppen werden Parallelen zu bekannteren Vergiftungen gezogen.

Alles in allem zeigt sich: Akute Vergiftungsgefahren sind auch in der Gegenwart noch nicht gebannt.

Ein Themenheft im Bundesgesundheitsblatt ist zwar kein Kriminalroman, kann aber dennoch spannend sein. Unser Dank gilt der „BfR-Kommission zur Bewertung von Vergiftungen“ am Bundesinstitut für Risikobewertung, die dieses Heft konzeptionell und inhaltlich unterstützt hat. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und verbleiben mit herzlichen Grüßen.

Dr. Suzan Fiack

Dr. Herbert Desel