1 Einleitung

Acetaldehyd (Ethanal; CAS No. 75-07-0) kommt natürlicherweise in zahlreichen Lebensmitteln vor. Als Nebenprodukt der alkoholischen Gärung gelangt Acetaldehyd in alkoholhaltige Getränke. Aufgrund seines fruchtigen Aromas wird Acetaldehyd auch als Aromastoff eingesetzt. In der EU ist Acetaldehyd in der Liste von Aromastoffen aufgeführt, die in oder auf Lebensmitteln verwendet werden dürfen, in den USA besitzt die Substanz den Status “Generally Recognized as Safe” (GRAS). Das Joint FAO/WHO Expert Committee on Food Additives (JECFA) kam 1997 zu dem Schluss, dass es hinsichtlich der Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff keine gesundheitlichen Bedenken gibt (JECFA 1998). Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) stufte Acetaldehyd 2009 als möglicherweise krebserregend („possibly carcinogenic to humans“, Gruppe 2B) sowie in Verbindung mit der oralen Aufnahme über alkoholhaltige Getränke als humanes Kanzerogen (Gruppe 1) ein (Secretan et al. 2009). Im weltweit harmonisierten GHS-System (Globally Harmonized System) wird Acetaldehyd als Carc. 1BFootnote 1 und Muta. 2Footnote 2 eingestuft. Im Hinblick auf die Klassifizierung durch IARC hat die Kommission für Lebensmittelzusatzstoffe, Aromastoffe und Verarbeitungshilfsstoffe (LAV Kommission) des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) bereits 2010 die Frage diskutiert, ob die Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff weiterhin vertretbar ist (BfR 2010a). Basierend auf der verfügbaren Datenlage war es zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht möglich, die Sicherheit von Acetaldehyd als Aromastoff abschließend zu bewerten (BfR 2010a). Die DFG-Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln (SKLM) hat die aktuelle Datenlage zur Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff diskutiert und geprüft, ob inzwischen neue Erkenntnisse vorliegen, die eine Bewertung des gesundheitlichen Risikos der Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff ermöglichen. Vor diesem Hintergrund hat die SKLM den aktuellen Kenntnisstand zu Entstehung, Vorkommen, Exposition und Biotransformation sowie zu Gentoxizität und Kanzerogenität von Acetaldehyd zusammengefasst. Dabei wurden insbesondere Gesichtspunkte systemischer und lokaler Effekte nach oraler Aufnahme von Acetaldehyd und ein möglicher Einfluss von Polymorphismen fremdstoffmetabolisierender Enzyme diskutiert sowie hinterfragt, welchen Beitrag der Einsatz von Acetaldehyd als Aromastoff zur Gesamtexposition gegenüber Acetaldehyd leistet. Ziel war es, Kenntnislücken zu identifizieren, die für eine wissenschaftlich fundierte Risikobewertung geschlossen werden müssen. Das Ergebnis der Beratungen wurde in einer Stellungnahme zusammengefasst und online veröffentlicht.Footnote 3

2 Vorkommen

Acetaldehyd kommt sowohl aus natürlichen als auch anthropogenen Quellen ubiquitär in der Umwelt vor (Lachenmeier et al. 2010). In alkoholhaltigen Getränken ist Acetaldehyd als ein Nebenprodukt der alkoholischen Gärung in z. T. erheblichen Konzentrationen enthalten [bis zu 211 bzw. 1.159 mg/L in Wein bzw. Spirituosen (Lachenmeier und Sohnius 2008)]. Zum anderen entsteht Acetaldehyd im menschlichen Körper beim Abbau von Ethanol. Zu den wichtigsten Quellen der Exposition gegenüber Acetaldehyd zählen Tabakrauch, alkoholhaltige und alkoholfreie Getränke sowie Lebensmittel wie Kaffee, Brot, Früchte oder Joghurt (Uebelacker und Lachenmeier 2011).

2.1 Endogene Entstehung

Acetaldehyd entsteht endogen im Intermediärstoffwechsel des Organismus und wird auch durch Mikroorganismen gebildet (MAK 2008). Für die Bewertung durch die MAK (2008) und LAV Kommission (BfR 2010a) wurde eine lebenslange endogene Belastung mit Acetaldehyd im Blut in Höhe von 2,2 ± 1,1 μmol/L angenommen. In der Literatur wird allerdings ein relativ breiter endogener Konzentrationsbereich im Blut von < 0,5 bis zu 3,6 µmol/L angegeben [u.a. 3,6 ± 1,0 µmol/L Blut (Helander and Curvall 1991); > 2,5 µmol/L Blut (Helander et al. 1993); < 0.5 µmol/L (Eriksson 2007)]. Frühere Daten zur endogenen Bildung sind insbesondere vor dem Hintergrund einer Artefaktbildung von Acetaldehyd bei der Probenvorbereitung oder im gaschromatographischen System kritisch zu hinterfragen (Eriksson 2007; Eriksson und Fukunaga 1993). Neuere Daten sind nicht verfügbar.

Studien zur endogenen Hintergrundbelastung an DNA-Addukten, die für Acetaldehyd spezifisch sind [vor allem N2-Ethyliden-Desoxyguanosin (dG)], unterstützen die Annahme, dass eine endogene Acetaldehyd-Bildung im Organismus stattfindet, die bei der Bewertung einbezogen werden sollte (Hartwig et al. 2020). Der endogene Hintergrund an DNA-Addukten beim Menschen bewegt sich im Bereich von 13 bis 150 Addukten pro 108 Nukleotiden, was auf erhebliche interindividuelle Unterschiede hinweist (Hartwig et al. 2020). Nach Ansicht der SKLM ist die Datenlage zur endogenen Acetaldehydbildung weiterhin stark limitiert, so dass derzeit keine gesicherte Abschätzung der endogenen Exposition gegenüber Acetaldehyd vorgenommen werden kann.

3 Gehalte und Exposition

Zu Acetaldehyd gibt es keine detaillierten und aktuellen Expositionsbetrachtungen, die z. B. anhand systematischer chemischer Analysen und Verzehrstudien erstellt worden wären. Abgesehen von alkoholhaltigen Getränken stehen keine normierten Methoden zur Bestimmung von Acetaldehyd in Lebensmitteln zur Verfügung. Nicht repräsentative Daten des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) aus der amtlichen Lebensmittelüberwachung der Jahre 2000 bis 2020 zeigen, dass z.B. in PET-Flaschen (PET = Polyethylenterephthalat) abgefüllten Mineral- und Tafelwässern oder alkoholfreien Getränken wie aromatisiertem Mineralwasser die Gehalte an Acetaldehyd in der Regel unterhalb des Migrationsgrenzwertes von 6 mg/L lagen. Vereinzelt wurden aber hohe Acetaldehydgehalte gefunden, wobei ein systematischer Fehler durch die angewandte Methode oder ein Übertragungsfehler nicht ausgeschlossen werden kann. Aktuelle Daten aus der Industrie weisen darauf hin, dass die Acetaldehydgehalte in Wässern aus PET-Flaschen eher im ein- bis zweistelligen µg/L-Bereich oder in vielen Proben auch unterhalb der Nachweisgrenze (10 µg/L) liegen.

Grundsätzlich erlauben analytische Daten keine Unterscheidung, ob die gemessenen Acetaldehydgehalte auf den Einsatz als Aromastoff, auf den Übergang aus Verpackungsmaterialien oder auf ein natürliches Vorkommen zurückzuführen sind. Auch anhand der Deklaration der Lebensmittel ist keine quantitative Abschätzung möglich, da Acetaldehyd unter die Zutat “Aroma” als Sammelbezeichnung fällt und nicht separat kennzeichnungspflichtig ist. Daraus ergibt sich eine große Wissenslücke, die eine systematische Erfassung des Acetaldehydgehaltes in den wichtigsten Lebensmittelgruppen erforderlich macht. Auch existieren keine Biomarker für Acetaldehyd, die eine Unterscheidung zwischen mit Lebensmitteln aufgenommenem Acetaldehyd und aus Ethanol gebildetem Acetaldehyd ermöglichen.

Die Acetaldehydexposition der Bevölkerung kann daher derzeit bestenfalls anhand von begrenzten Literaturdaten grob abgeschätzt werden. Die Exposition, die aus der Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff resultiert, wurde anhand des jährlichen Produktionsvolumens und der Einwohnerzahl von verschiedenen Gremien für Europa und die USA auf 9,6–19,2 mg pro Person und Tag (0,14–0,27 mg/kg KG/Tag) (JECFA 1998; Burdock 2004; FSC 2005) und von der LAV Kommission auf 12,9–15,4 mg/Person/Tag (0,18–0,22 mg/kg KG/Tag) geschätzt (BfR 2010a). Die Exposition über Lebensmittel insgesamt wurde anhand von begrenzten Literaturdaten und unter Einbeziehung typischer Verzehrmengen auf 2–112 mg/Person/Tag geschätzt (0,03–1,6 mg/kg KG/Tag) (FSC 2005; Lachenmeier et al. 2010). Insgesamt kommt die SKLM zu dem Schluss, dass die Datenlage für eine gesicherte Beurteilung der menschlichen Exposition gegenüber Acetaldehyd unzureichend ist.

3.1 Biomarker für Exposition

Grundsätzlich können zur Bestimmung der endogenen und exogenen Exposition des Menschen gegenüber Acetaldehyd die Messung von Acetaldehyd im Blut oder Speichel sowie der Nachweis von Acetaldehyd-abhängigen DNA-Addukten in Blut- oder Gewebeproben herangezogen werden. Da Acetaldehyd nach oraler Aufnahme jedoch rasch und effizient abgebaut wird, scheint die Bestimmung von Acetaldehyd im Blut als Biomarker für die Exposition gegenüber Acetaldehyd aus Lebensmitteln wenig geeignet.

Als Marker für die lokale Acetaldehydexposition der Mundhöhle (und des oberen Verdauungstraktes) wird die Bestimmung von Acetaldehyd im Speichel herangezogen. Erhöhte Acetaldehydkonzentrationen im Speichel lassen sich nach Aufnahme alkoholischer Getränke und Verwendung alkoholhaltiger Mundspülungen sowie nach Rauchen nachweisen (Lachenmeier et al. 2009). Ob der Verzehr Acetaldehyd-haltiger Lebensmittel ebenfalls zu einem Anstieg von Acetaldehyd im Speichel führt, ist bislang kaum untersucht. Die ermittelten Spitzenkonzentrationen im Speichel nach schlückchenweisem Trinken von Acetaldehyd-haltigen alkoholischen Getränken weisen jedoch auf eine erhöhte lokale Acetaldehydexposition der Mundhöhle und des oberen Verdauungstraktes bei Konsum von Lebensmitteln mit hohem Acetaldehydgehalt hin (Lachenmeier und Monakhova 2011; Linderborg et al. 2011).

Acetaldehyd-abhängige DNA-Addukte (z.B. N2-Ethyliden-dG) können als Biomarker der Exposition dienen. Nach Einnahme einer moderaten Dosis Alkohol (Ethanol) durch freiwillige Probanden wurde in der Mundhöhle ein signifikanter Anstieg an N2-Ethyliden-dG-Addukten (bis zu 100-fach des Ausgangswertes) gefunden (Balbo et al. 2012a), während die Ergebnisse zur Bildung von N2-Ethyliden-dG in peripheren Leukozyten widersprüchlich waren (Balbo et al. 2012b; Singh et al. 2012). In tierexperimentellen Studien an Rhesusaffen und Mäusen zeigte sich nach Ethanolgabe ein signifikanter Anstieg an N2-Ethyliden-dG-Addukten in der Mundschleimhaut sowie in der Leber, nicht aber in der Brustdrüse (Matsuda et al. 2007; Balbo et al. 2016). In vitro-Studien an humanen Lymphoblasten-Zellen (TK6) mit isotopenmarkiertem [13C2]-Acetaldehyd (50 nM–2 mM), in denen die Dosis-Wirkungsbeziehung für N2-Ethyliden-dG als Biomarker der Exposition sowie als Effektbiomarker für Zytotoxizität und Mikrokernbildung untersucht wurde (Moeller et al. 2013), weisen auf eine nichtlineare Dosisabhängigkeit der DNA-Adduktbildung hin. Dies stellt für die Risikobewertung eine lineare Extrapolation zu niedrigen exogenen Acetaldehyd-Aufnahmemengen in Frage. In vivo-Studien, die die o.g. in vitro Befunde bestätigen, liegen derzeit nicht vor.

Nahezu alle Erkenntnisse zu potenziellen Biomarkern der Acetaldehydexposition beruhen auf der Bildung von Acetaldehyd aus Ethanol. Es fehlen Biomarker der Exposition gegenüber Acetaldehyd aus Lebensmitteln, um den Beitrag der Aufnahme über Lebensmittel von der Acetaldehydexposition durch Alkoholaufnahme sowie der endogenen Bildung abgrenzen zu können.

4 Metabolismus und Toxikokinetik

Daten zur Toxikokinetik zeigen, dass Acetaldehyd nach inhalativer und oraler Aufnahme in der Regel schnell und effizient metabolisiert wird (ECHA 2016; Mizumoto et al. 2017). Bei Nagern liegt die Halbwertszeit im Blut bei ca. 3 min (ECHA 2016). Acetaldehyd wird über die Enzymsysteme Alkoholdehydrogenase (ADH) zu Ethanol und durch Aldehyddehydrogenase 2 (ALDH2) zu Essigsäure umgewandelt. Die Gene der Isoenzyme ADH1B und ADH1C werden polymorph exprimiert und codieren für Enzyme, die unterschiedliche Mengen an Acetaldehyd aus Ethanol produzieren können (Seitz und Stickel 2010). Hauptverantwortlich für den Abbau von Acetaldehyd ist die ALDH2. Für das ALDH2-Gen sind zwei verschiedene Allele, ALDH2*1 und ALDH2*2, bekannt. Das ALDH2*2-Allel codiert für ein weitgehend inaktives ALDH-Enzym (Seitz und Stickel 2010). Polymorphismen Fremdstoff-metabolisierender Enzyme können zu interindividuellen Unterschieden in Bildung und Abbau von Acetaldehyd führen.

5 Gentoxizität und Mutagenität

Die Gentoxizität und Mutagenität von Acetaldehyd wurde bereits in einer aktuellen Stellungnahme einer Arbeitsgruppe der DFG-Senatskommissionen MAK und SKLM zur Risikobewertung von gentoxischen Kanzerogenen auf der Basis von Wirkmechanismen eingehend diskutiert (Hartwig et al. 2020). Acetaldehyd wirkt gentoxisch in vitro und in vivo. In Säugetierzellen wurden ohne metabolische Aktivierung in allen Tests Schwesterchromatidaustausche, DNA-Strangbrüche (Comet-Assay), DNA-Addukte [insb. N2-Ethyliden-dG und Methyl-γ-hydroxy-N2-propano-dG (CrPdG)], DNA-Protein-Crosslinks und DNA-DNA-Crosslinks nachgewiesen (MAK 2013). In bakteriellen Mutagenitätstests wurden uneinheitliche Ergebnisse erhalten, während in Gentoxizitäts- und Mutationstests an Säugerzellen ohne metabolische Aktivierung Schäden bzw. Mutationen ausgelöst wurden (MAK 2013). Im Chromosomenaberrationstest an Säugerzellen wurde eine klastogene Wirkung beobachtet (MAK 2013). In Drosophila melanogaster wurden nach Injektion von Acetaldehyd letale Mutationen beobachtet, nicht jedoch nach Gabe über das Futter (Woodruff et al. 1985). Nach einmaliger intraperitonealer Gabe verursachte Acetaldehyd den Austausch von Schwesterchromatiden und die Bildung von Mikrokernen im Knochenmark von Maus und Hamster (Korte et al. 1981; Morita et al. 1997). Inhalative und orale Acetaldehydgabe über 2 Wochen induzierte Mikrokerne (Retikulozyten) und Genmutationen (T-Lymphozyten) in ALDH2-knock-out Mäusen, nicht aber in Wildtyp-Mäusen (Kunugita et al. 2008).

Acetaldehyd bildet in vitro DNA-Addukte mit dG (MAK 2013; Hartwig et al. 2020). Das Hauptaddukt stellt hierbei N2-Ethyliden-dG dar, das als Nukleosid instabil ist (Chen et al. 2007). Für den analytischen Nachweis kann N2-Ethyliden-dG durch chemische Reduktion in das stabile N2-Ethyl-dG überführt werden (Brooks und Zakhari 2014). Da die basalen endogenen Gehalte an N2-Ethyl-dG gering sind (Fang und Vaca 1995), kann dieses Nukleosid als Biomarker genutzt werden. Human- sowie Tierstudien belegen einen lokalen Anstieg der N2-Ethyl-dG-Adduktzahl in der Mundschleimhaut nach Exposition gegenüber Alkohol und Tabakrauch (Balbo et al. 2008, 2012a, 2016; Chen et al. 2007). Systemisch (Lymphozyten und Granulozyten) wurden bei Alkoholikern erhöhte N2-Ethyl-dG-Adduktlevel beobachtet (Balbo et al. 2012a, b). Obwohl DNA-Reparatur in vivo eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint, ist das mutagene Potential von N2-Ethyliden-dG in vivo noch unklar (Brooks und Zakhari 2014).

Nach Addition von zwei Molekülen Acetaldehyd an dG können das zyklische oder offenkettige α-S- und α-R-konfigurierte Methyl-γ-hydroxy-N2-propano-dG (CrPdG) sowie intra- und intermolekulare DNA-DNA-Crosslinks entstehen (MAK 2013). Die Bildung und somit die toxikologische Bedeutung dieses DNA-Addukts ist aus kinetischen Überlegungen (Beteiligung von zwei Molekülen Acetaldehyd) fraglich (MAK 2013).

Nach oraler Ethanolexposition und inhalativer und intraperitonealer Acetaldehydexposition kann eine systemische gentoxische Wirkung von Acetaldehyd in vivo nicht ausgeschlossen werden. In verschiedenen in vitro- und in vivo-Studien wurde ein dosisabhängiger Anstieg der DNA-Adduktspiegel beobachtet. Die biologische Bedeutung der identifizierten DNA-Addukte für Mutagenität und Kanzerogenität von Ethanol und Acetaldehyd ist derzeit noch nicht vollständig aufgeklärt.

6 Kanzerogenität

Die einzige auswertbare Langzeitstudie mit lebenslanger oraler Acetaldehydgabe (Trinkwasser), die in Ratten durchgeführt wurde, berichtete über erhöhte Tumorraten in mehreren Organen einschließlich der Mundhöhle (Soffritti et al. 2002). In Pharynx und Larynx trat insgesamt nur ein Tumor bei einer mittleren Dosisgruppe auf. Bei den für die Fragestellung relevanten Tumoren in der Mundhöhle gab es in der höchsten Dosisgruppe (2500 mg Acetaldehyd/L Trinkwasser entsprechend ca. 125 mg/kg KG/Tag) begrenzte Hinweise auf eine kanzerogene Wirkung. Nach Einschätzung verschiedener Gremien waren die berichteten Effekte nicht dosisabhängig und ohne statistische Aussagekraft, und die Studie zudem nicht konform mit OECD Richtlinien, so dass sie für die Bewertung des Krebsrisikos nach oraler Aufnahme nicht herangezogen werden kann (BfR 2010a, b; MAK 2008, 2013; ECHA 2016; Health Council NL 2014). Die SKLM schließt sich den Beurteilungen an. Es sind keine neuen Studien verfügbar.

Im Zusammenhang mit Alkoholkonsum wurde Acetaldehyd mehrfach durch die IARC bewertet. Im Tierversuch wurde ein Zusammenhang zwischen der oralen Aufnahme von Ethanol und dem Auftreten von Krebs in verschiedenen Spezies und Organsystemen beobachtet (IARC 2012; Secretan et al. 2009). Insgesamt wurde Acetaldehyd in Verbindung mit oraler Aufnahme über alkoholhaltige Getränke durch die IARC in die Kanzerogenitätsgruppe 1Footnote 4 eingestuft (IARC 2012).

Neben den für die Aufnahme über Lebensmittel maßgeblichen oralen Toxizitätsstudien gibt es eine Reihe von inhalativen Kanzerogenitätsstudien, bei denen erhöhte Tumorinzidenzen beobachtet wurden (BfR 2010a, b). Zielorgane nach inhalativer Aufnahme von Acetaldehyd waren das olfaktorische und respiratorische Epithel (Ratte) sowie Nase und Larynx (Hamster) (BfR 2010a, b). Insgesamt kommt die SKLM zu dem Schluss, dass die Datenlage zur Kanzerogenität von Acetaldehyd nach oraler Aufnahme auch weiterhin limitiert ist.

6.1 Lokale Effekte

Bei hoher inhalativer Exposition steht die lokale Reizwirkung im Vordergrund. Verantwortlich für die Entstehung der Tumoren an der Nasenschleimhaut sind – analog zu Formaldehyd – chronisch lokale Gewebsschädigungen, verursacht durch die zytotoxische Wirkung von Acetaldehyd (MAK 2008). Basierend auf der Vermeidung von Reizwirkungen nach inhalativer Aufnahme wird bei Einhaltung des MAK Wertes von 50 mL/m3 und der Annahme, dass retiniertes Acetaldehyd vollständig systemisch verfügbar ist, eine lebenslange Zusatzbelastung von 1,0 µmol/L Blut angenommen. Dieser Worst-Case-Beitrag der beruflichen Acetaldehydexposition liegt nach MAK im Bereich der Standardabweichung der endogenen Acetaldehydbelastung im Blut (2,2 ± 1,1 µmol/L; MAK 2008). Nach diesen Annahmen bleibt die zusätzliche systemische Exposition bei inhalativer Aufnahme von Konzentrationen, die unterhalb des Schwellenwertes lokaler Reizwirkung liegen, innerhalb der Standardabweichung der endogenen Exposition.

Die oben erwähnte begrenzte Datenlage zur endogenen Belastung erschwert die Sicherheitsbewertung ebenso wie eine ausschließliche Berücksichtigung der systemischen Verfügbarkeit nach oraler oder inhalativer Aufnahme, bei der mögliche lokale Effekte von Acetaldehyd im Nasen-Rachenraum sowie im Gastrointestinaltrakt (einschließlich Mundhöhle und Ösophagus) unberücksichtigt bleiben (Lachenmeier and Monakhova 2011). Darüber hinaus erfolgt im oberen Verdauungstrakt eine lokale Bildung von Acetaldehyd aus Ethanol, sowohl in den Mukosazellen als auch durch die Mikroflora im oberen Verdauungstrakt. Da dieser Körperbereich eine andere Enzymausstattung besitzt als die übrigen Organsysteme (charakterisiert durch eine sehr geringe ALDH2-Aktivität), kommt es zu einer Akkumulation von Acetaldehyd in Speichel und Magensaft (Yokoyama et al. 2008; Maejima et al. 2015).

Für eine Risikobewertung ist die Betrachtung der systemischen Exposition gegenüber Acetaldehyd alleine als nicht ausreichend anzusehen. Vielmehr muss das lokale Geschehen in Mundhöhle und Speiseröhre zusätzlich berücksichtigt werden.

6.2 Einfluss von Polymorphismen fremdstoffmetabolisierender Enzyme

Polymorphismen der beiden relevanten Enzymsysteme ADH1B und ALDH2 können zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Acetaldehydabbaus führen. So besteht bei Personen mit dem wenig aktiven Genotyp ADH1B*1/*1 sowie bei solchen mit dem inaktiven Genotyp ALDH2*2/*2 ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko im oberen Verdauungstrakt (Mizumoto et al. 2017). Bei ALDH2-defizienten Personen kommt es nach Ethanolaufnahme zu einer etwa 2-fach erhöhten Acetaldehydkonzentration im Speichel und zu einer etwa 5-fach erhöhten Konzentration im Magensaft im Vergleich zu Personen mit aktiver ALDH2 (Maejima et al. 2015; Yokoyama et al. 2008). Untersuchungen an ALDH2-knock-out-Mäusen zeigten nach oraler/inhalativer Acetaldehydgabe ebenfalls ein vermehrtes Auftreten gentoxischer Effekte (Induktion von Genmutationen und Mikronuklei) in Retikulozyten (ECHA 2016). Sie weisen darauf hin, dass das Auftreten von DNA-Addukten mit dem ALDH-Genotyp korreliert. Besonders die lokale metabolische bzw. mikrobielle Bildung von Acetaldehyd in der Mundhöhle kann bei ALDH2-defizienten Individuen ins Gewicht fallen, bei denen eine vergleichsweise geringe Detoxifizierung des Acetaldehyds über ALDH2 zu erwarten ist.

Risikobewertungen von oral appliziertem Acetaldehyd sollten daher unter Einbeziehung neuer genetisch-epidemiologischer Erkenntnisse und Methoden, insbesondere hinsichtlich eines lokal erhöhten Krebsrisikos für Mundhöhle und Speiseröhre, überprüft und ergänzt werden.

7 Schlussfolgerungen und Bewertung

Die Frage, ob Acetaldehyd nach oraler Exposition in vivo gentoxisch und mutagen wirkt, kann nach wie vor nicht abschließend beantwortet werden. Da Acetaldehyd nach oraler Aufnahme im Darm und in der Leber effizient metabolisiert wird, erscheint es unwahrscheinlich, dass Acetaldehyd in höheren Konzentrationen systemisch verfügbar wird. Allerdings kann eine gentoxische und kanzerogene Wirkung auf direkt exponierte Gewebe (obere Luftwege, Mundhöhle, Gastrointestinaltrakt, insbesondere Speiseröhre) – analog zu Formaldehyd – nach derzeitigem Wissensstand nicht sicher ausgeschlossen werden.

Nach Ansicht der SKLM ist es auch nach Berücksichtigung neuerer Daten weiterhin nicht möglich, wissenschaftlich zuverlässig abzuschätzen, welchen Beitrag zur Gesamtexposition die Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff im Vergleich zur Aufnahme über das natürliche Vorkommen in Lebensmitteln und im Vergleich zur endogenen Hintergrundbelastung an Acetaldehyd im Organismus leistet. Eine vollständige wissenschaftliche Bewertung des gesundheitlichen Risikos der Verwendung von Acetaldehyd als Aromastoff ist daher weiterhin nicht möglich.

Die SKLM weist darauf hin, dass auf der Grundlage aller verfügbaren Daten Bedenken hinsichtlich eines gentoxischen Gefährdungspotentials von Acetaldehyd nach oraler Aufnahme nicht ausgeschlossen werden können. Angesichts der noch vorhandenen Datenlücken, die für eine vollständige Risikobewertung geschlossen werden müssen, und den sich daraus ergebenden Unsicherheiten kommt die Kommission zu dem Schluss, dass Zweifel an der Sicherheit von Acetaldehyd als Aromastoff bestehen. Vor diesem Hintergrund und aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes sollte der gezielte Zusatz zu Lebensmitteln als Aromastoff neu beurteilt werden.

8 Forschungsbedarf

Für eine vollständige Risikobewertung sind aus Sicht der SKLM weitere Untersuchungen erforderlich:

  • Standardisierung und Normierung von analytischen Methoden zur Bestimmung von Acetaldehyd in Lebensmitteln

  • Systematische chemische Analysen der Acetaldehydgehalte in den wichtigsten Lebensmittelgruppen, einschließlich aromatisierter Lebensmittel

  • Etablierung von spezifischen Biomarkern zur Erfassung der Exposition gegenüber Acetaldehyd aus Lebensmitteln, insbesondere im oberen Gastrointestinaltrakt, um lokale Effekte zu erfassen und den Beitrag der Aufnahme von Acetaldehyd über Lebensmittel von der Acetaldehydbelastung durch Alkohol und endogenen Bildung abgrenzen zu können

  • Biomarkergestützte kontrollierte und randomisierte Interventionsstudien zur Erfassung der endogenen Hintergrundexposition gegenüber Acetaldehyd

  • Studien zur Dosisabhängigkeit von DNA-Adduktbildung und Mutagenität

  • Experimentelle in vivo-Studien zur Gentoxizität, Mutagenität und Kanzerogenität nach oraler Aufnahme