Zusammenfassung
In diesem Aufsatz versuchen wir die formale und physikalische Doppelnatur des Raumes zu erklären. Im ersten Teil konzentrieren wir uns auf die Entstehung des Begriffes dern-fachen ausgedehnten Größe (oderMannigfaltigkeit) und auf die Transformation der Geometrie, die ihr folgte. Anhand einer genauen Untersuchung von Bernhard Riemanns Habilitationsvortrag von 1854 versuchen wir aufzuzeigen, daß die Einführung dieses Begriffs es erlaubte, die verschiedenen geometrischen Strukturen des Raumes in einem neuen Licht zu sehen. Ein weiterer grundlegender Schritt in Richtung auf die mathematische Formalisierung des Raumbegriffs war die Aufstellung der Transformationsgruppentheorie, deren allgemeine Konzeption von Felix Klein 1872 eingeführt worden ist und die von S. Lie, W. Killing, H. Poincaré, H. Weyl und E. Cartan mathematisch ausgearbeitet wurde. Der Begriff der Mannigfaltigkeit ermöglichte es, die physikalische Bedeutung des Raumes zu erfassen. Auf diese Weise zeigt sich dieser Begriff asl das „natürliche” mathematische Modell auf, durch das einige grundlegende physikalische Phänomene interpretiert werden können.
Literatur
Riemann, B.: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (Habil.-Vortrag, 1854), in: Bernhard Riemann Gesammelte Mathematische Werke, Wissenschaftlicher Nachlass und Nachträge. Collected Papers, nach der Ausgabe von Heinrich Weber und Richard Dedekind, neu herausgegeben von Raghavan Narasimhan, Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg, und BSB B. G. Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig, 1990, S. 273
Lie, S.: Theorie der Transformationsgruppen, Bd. 3, Vorrede, Leipzig, 1893, S. X.
Weyl, H.: Riemanns geometrische Ideen, ihre Auswirkung und ihre Verknüpfung mit der Gruppentheorie, S. 2–3. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1988
Ibid
Riemann, B. (1854): Aufl. 1990, zitiert, S. 275
Libois, P.: Quelques applications des idées de Riemann sur l’espace, in: Der Begriff des Raumes in der Geometrie, Riemann-Tagung, S. 196 und w. Berlin: Akademie 1957
In: Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis Recentiores. tomus VI, S. 99–146. Göttingen: 1828
Vgl. Weyl, H.: Raum-Zeit-Materie, S. 85–86 (Erste Auflage: 1918). Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1988
Levi-Civita, T.: Nozione di parallelismo in una varietà qualunque. Rend. Circ. Mat. Palermo42, 173–205 (1917)
Bereits bei Riemann kann man die ersten Anfänge dieser Theorie finden: „Endlich könnte man drittens, anstatt die Länge der Linien als unabhängig von Ort und Richtung anzunehmen, auch eine Unabhängigkeit ihrer Länge und Richtung vom Ort voraussetzen.”; (1854), zitiert, S. 256
Gravitation und Elektrizität. Sitzungsberichte der Königl. Preuss. Akad. der Wiss., Bd. XXVI, S. 466–467
(Das Messen besteht in einem Aufeinanderlegen der zu vergleichenden Grössen; zum Messen wird also ein Mittel erfordert, die eine Grösse als Massstab für die andere fortzutragen.); B. Riemann (1854), zitiert; S. 256
in: Das Kontinuum und andere Monographien, S. 25–26, New York: Chelsea 1973
Dieses Ergebnis findet sich in: Saggio di interpretazione della geometria non-euclidea. Giornale Mat.6, 284–312 (1868)
The foundations of differential geometry, S. 17–18. Cambridge: Cambridge University Press 1932
Vgl. (1854), zitiert, S. 267
Vgl. Gauss, C.F.: Disquisitiones generales…(1828), zitiert. Er schreibt: „Falls man nämlich die Flächen nicht als Grenzen von Körpern, sondem als Körper, deren eine Dimension verschwindend klein ist, und zugleich als biegsam, aber nicht als dehnbar betrachtet, hängen die Eigenschaften einer Fläche theils von der Form ab, weiche dieselbe gerade angenommen hat, theils aber sind sie absolute und bleiben ungeändert, in weiche Form jene auch gebogen wird. Zu den letzteren Eigenschaften, deren Untersuchung der Geometrie em neues und fruchtbares Feld eröffnet, gehört das Krümmungsmaass und die Gesammtkrümmung in dem Sinne, wie diese Ausdrücke von uns aufgefasst sind […].; S. 123–124
Vgl. Weyl, H.: Raum — Zeit — Materie, S. 118–119, 7. Aufl., herausgegeben und ergänzt von Jürgen Ehlers, Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1988
Gesammelte Mathematische Werke und Wissenschaftlicher Nachlass. (Auflage 1876, zitiert, S. 370–399
Vgl. Böhm, J., Reichardt, H.: Kommentierender Anhang, in: Gausssche Flächentheorie, Riemannsche Räume und Minkowski-Welt, Teubner-Archiv zur Mathematik, Bd. I, S. 137–142. Leipzig: Teubner 1984
Vgl. (1854), zitiert, S. 261–262
Ibid Vgl. (1854), zitiert, S. 261–262
Vgl. Cartan, E.: Sur les variétés à connexion affine et la théorie de la relativité généralisée. Ann. Ec. Norm.40, 325–412 (1923)
Vgl. Mathematische Analyse des Raumproblems (1. Aufl.: Berlin: Springer 1923), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963
Theorie des Transformationsgruppen, Bd. III, Abteilung V: Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie, S. 397 und w. Leipzig: Teubner 1893
Wolf, J.A.: Spaces of Constant Curvature, S. 88–90, 366–369. San Francisco, McGraw-Hill 1967
Vgl. Chern, S.-S.: Elie Cartan and his mathematical work, Selected Papers, Vol. II, S. 267–300. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1989
Siehe dazu Schröder, K.: Riemanns Habilitationsvortrag und seine Auswirkungen in Mathematik und Physik — ein historischer Überblick, in: Der Begriff des Raumes in der Geometrie, Riemann-Tagung, zitiert, S. 23–25; und Pauli, W.: Relativitätstheorie, in: Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften, Bd. V, Leipzig: Teubner, 1921
(1854), zitiert, S. 267
Vgl. Weyl, H.: Erläuterungen zu der dritte Auflage der Dissertation B. Riemanns: Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1923), in: Das Kontinuum und andere Monographien, S. 47–48. New York: Chelsea 1973. Vgl. dazu Kanitscheider, B.: Geometrie und Wirklichkeit, S. 155–168. Berlin: Duncker & Humblot 1971
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Dieser Aufsatz beruht auf einem Vortrag, welcher am 9. Juli 1991 im Rahmen desSommersemester-Forschungskolloquiums zur Wissenschafts-und Technikgeschichte am Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin gehalten wurde. Ich danke besonders Herrn Prof. Dr. Eberhard Knobloch für die Vortragsmöglichkeit sowie für seine Mühe, meinen Text zu korrigieren, und den anderen Teilnehmern am Forschungskolloquium, die interessante Fragen aufgeworfen haben. Vor allem danke ich derAlexander von Humboldt-Stiftung die mir den Forschungsaufenthalt in Deutschland ermöglichte.
Mitglied desSéminaire d’Epistémologie des Mathématiques, an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris; und zur Zeit Stipendiat derAlexander von Humboldt-Stiftung, c/oInstitut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte, Technische Universität Berlin.
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Boi, L. Mannigfaltigkeit und Gruppenbegriff. Math. Semesterber. 41, 1–16 (1994). https://doi.org/10.1007/BF03186495
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