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Sitte, Gesetz und Bedeutung Eine semiotisch-logische Denkfigur bei Ferdinand Tönnies und Ludwig Wittgenstein

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Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“

Zusammenfassung

Den nicht an Tönnies’ Werk geschulten Leser wird es sicherlich verwundern, daß der Titel des Beitrages die Begriffe „Sitte“ und „Gesetz“ in einem Atemzuge mit dem Grundbegriff der Semantik nennt. Die Verwunderung mag sogar in Befremden übergehen, da der Untertitel zwei vermeintlich weit voneinander entfernte Protagonisten der theoretischen Moderne durch ein suggestives „und“ in unmittelbare Nähe rückt. Dieses „und“ ist in der Tat gewagt, ohne jedoch tollkühn zu sein. Wenn im folgenden der Versuch unternommen wird, Wittgenstein von Tönnies her zu lesen, so ist dies zugleich die Zumutung an die Tönniesianer, die Interpretation der Tönniesschen Zeichentheorie mit Hilfe von Wittgensteins Spätwerk zu radikalisieren. Es gilt nicht nur, die Nähe zu entdecken, sondern auch, sie in deutender Aneignung herzustellen — mit Mut zu jener minimalen Gewaltsamkeit, ohne die eine Interpretation nicht sein könnte.

Für etliche Anregungen zur Unterscheidung von Sitte und Gesetz als zwei ‚bedeutenden‘ Formen sozialer Verbundenheit danke ich den Herren Prof. Dr. Alexander Deichsel und Prof. Dr. Otthein Rammstedt. Besonderer Dank gebührt Frau Gudrun Facklam für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

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Literatur

  1. Der Begriff „Sitte“ nimmt in der Tönniesschen Charakterisierung von Gemeinschaft als einer Ordnung des Zusammenlebens die gleiche Position ein wie der Begriff „Gesetzgebung“ in der Charakterisierung von Gesellschaft als einer strukturell anderen Ordnung des Zusammenlebens: Eintracht — Sitte — Religion versus Konvention — (politische) Gesetzgebung — öffentliche Meinung (vgl. Ferdinand Tönnies, 1979, S. 207 ff.).

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  2. Sobald man sich auf die Sitte beruft, um eine Handlung zu begründen, hat man die Domäne der Sitte bereits verlassen und bewegt sich auf dem Felde des Gewohnheitsrechts, das nur wirksam sein kann, wenn man sich darüber verständigt hat, was als ‚Sitte‘ gelten soll.

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  3. Indem „Sitte“ und „gesetzesgemäßes Handeln“ unter „Regel“ oder „regelgeleitetes Handeln“ subsumiert werden (als ‚gewohnte‘ versus ‚gesetzte‘ Regel), wird zugleich der Gegensatz von Gewohntem und Gesetztem abgeschwächt, der doch für die Tönniessche Theorie bis zuletzt bestimmend bleibt (vgl. Ferdinand Tönnies, 1981, S. 189 ff.).

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  4. Der Dialektiker Tönnies kennt keine eindimensionalen Begründungsverhältnisse. So ist es zwar richtig, daß die Sprachgebrauchstheorie der Zeichenbedeutung in der Theorie der Sitte gründet; doch zugleich gilt, daß die Sprachgebrauchstheorie die Theorie der Sitte erst vollendet und ihr ‚Grund gibt‘. Nur als ein sprechendes Tier ist der Mensch zur Sitte fähig.

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  5. Die Verwendung des Ausdrucks „Gepflogenheit“ weist bei Wittgenstein allerdings eine Doppeldeutigkeit auf, die seine Argumentation verundeutlicht. „Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)“ (Ludwig Wittgenstein, 1967, S.105).Mit Tönnies müssen wir gerade zwischen Gepflogenheiten, die Gebräuche sind, und solchen, die institutionell geregelt sind, kategorial unterscheiden. In seinen materialen Analysen macht Wittgenstein von dieser Unterscheidung latenten Gebrauch, manifest wird sie bei ihm nicht.

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  6. Eine Passage mag als Hinweis genügen: „Denken wir doch daran, in was für Fällen wir sagen, ein Spiel werde nach einer bestimmten Regel gespielt! Die Regel kann ein Behelf des Unterrichts im Spiel sein. Sie wird dem Lernenden mitgeteilt und ihre Anwendung eingeübt. — Oder sie ist ein Werkzeug des Spieles selbst. — Oder: Eine Regel findet weder im Unterricht noch im Spiel selbst Verwendung; noch ist sie in einem Regelverzeichnis niedergelegt. Man lernt das Spiel, indem man zusieht, wie Andere es spielen. Aber wir sagen, es werde nach den und den Regeln gespielt, weil ein Beobachter diese Regeln aus der Praxis des Spiels ablesen kann, — wie ein Naturgesetz, dem die Spielhandlungen folgen. Wie aber unterscheidet der Beobachter in diesem Fall zwischen einem Fehler der Spielenden und einer richtigen Spielhandlung? — Es gibt dafür Merkmale im Benehmen der Spieler. Denke an das charakteristische Benehmen dessen, der ein Versprechen korrigiert.“ (Ludwig Wittgenstein, 1967, S. 42 f.).

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  7. Die unlösbaren Schwierigkeiten, in die eine Wittgenstein-Interpretation gerät, . die sich von der Regeltheorie der Bedeutung leiten läßt, werden z.B. in dem Deutungsversuch von Kutscheras deutlich. Wegen der zentralen Wichtigkeit dieser Schwierigkeiten sei sehr ausführlich zitiert: „Auf die Frage nach der richtigen Fortsetzung eines Prädikats über eine endliche Beispielsklasse hinaus findet sich in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ nur die Antwort, daß die richtige Fortsetzung diejenige sei, die im Einklang steht mit dem Gebrauch des Prädikats durch die Sprachgemeinschaft. Diese Aussage ist soweit sicher richtig: Sprachliche Ausdrücke haben eine Bedeutung nur kraft Konvention, die sich für die umgangssprachlichen Wörter im allgemeinen (korrekten) Sprachgebrauch ausdrückt. Wenn man also fragt, ob man das Prädikat F auf einen Gegenstand a anwenden kann, so wird man zunächst einmal auf die Regel für den Gebrauch von F als Sprachkonvention zurückgehen müssen, die ein Anwendungskriterium RF liefert, dessen Erfülltsein im Falle von a dann eine Tatsachenfrage ist. Wir wollen annehmen, daß eine Gebrauchsregel für F die einfache Gestalt hat: I) F darf auf einen Gegenstand a angewendet werden genau dann, wenn RF(a). Diese Aussage gibt uns aber auf unsere Frage keine Antwort, denn diese Frage ist ja: Vorausgesetzt, es gibt eine allgemeine Regel für den Gebrauch von F, wie läßt sich diese Regel, speziell: wie läßt sich das Anwendungskriterium RF aus dem Gebrauch von F in Einzelfällen erkennen? Viele Äußerungen Wittgensteins in den ‚Philosophischen Untersuchungen‘ deuten nun aber darauf hin, daß Wittgenstein im allgemeinen Sprachgebrauch mehr sieht als nur die Bedingung der korrekten Verwendung eines Wortes, wie z.B. (I), daß er nämlich den allgemeinen Sprachgebrauch auch als Anwendungskriterium versteht, daß also z.B. RF ein Kriterium ist, das sich auf den Sprachgebrauch bezieht... Wittgenstein scheint .. oft anstelle der durch eine generelle Regel festgelegten Art und Weise des Gebrauchs von F den instantiellen Gebrauch von F für eine große Klasse von Beispielen im Auge zu haben und in ihm den ‚Sprachgebrauch‘ zu erblicken“ (Franz von Kutschera, o.J. [1971], S. 242 f.). In der Tat: Wittgenstein versteht den Sprachgebrauch auch als Anwendungskriterium — aber gerade nicht im Sinne einer ‚Abstimmung‘ (vgl. Franz von Kutschera, o.J. [1971],

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Lars Clausen Carsten Schlüter

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© 1991 Leske + Budrich, Opladen

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Frerichs, K. (1991). Sitte, Gesetz und Bedeutung Eine semiotisch-logische Denkfigur bei Ferdinand Tönnies und Ludwig Wittgenstein. In: Clausen, L., Schlüter, C. (eds) Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01367-9_11

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-01367-9_11

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-663-01368-6

  • Online ISBN: 978-3-663-01367-9

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