12.1 Ausgangslage, Zielsetzung und Partner im Projekt SerWiss

12.1.1 Ausgangslage in der Investitionsgüterindustrie

Der Maschinen- und Anlagenbau steht im Mittelpunkt der Investitionsgüterindustrie, welche gemessen an Umsatz und Anzahl der Beschäftigten einer der größten Wirtschaftszweige Deutschlands ist (VDMA, 2022).

Um nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben, rücken seit einigen Jahren neben dem herkömmlichen Erfolgsrezept, regelmäßig Produktinnovationen voranzutreiben, vermehrt produktbegleitende Dienstleistungen in den Fokus. Ziel ist es, aus den Primärprodukten und begleitenden Dienstleistungen Komplettlösungen für Kunden anzubieten, welche für diese den größtmöglichen Nutzen stiften und den Investitionsgüterherstellern ermöglichen, sich vom Wettbewerb zu differenzieren.

Gleichzeitig eröffnen die fortschreitende Wissensintensivierung, Digitalisierung und Vernetzung den Unternehmen der Investitionsgüterindustrie die Chance, Lösungen bereitzustellen, die in der Vergangenheit nicht realisierbar waren. So können heutzutage beispielsweise Monitoring- und Analysetools sowie Lösungen für einen Customer-Self-Service angeboten werden. Diese neuen und auf Dienstleistungen basierenden Angebote haben zum Ziel, Anlagenstillstände zu minimieren, Verfügbarkeiten zu erhöhen und auf diese Weise einen weitgehend störungsfreien Betrieb auf hohem Niveau zu ermöglichen. Durch die Variantenvielfalt sowie Komplexität von Investitionsgütern spielen ein stetiges Erweitern und Aktualisieren des Wissens über die jeweiligen Produkte, Prozesse und Lösungsstrategien eine wichtige Rolle.

Durch die zunehmende Internationalisierung und den hohen Exportanteil deutscher Investitionsgüterhersteller ist der technische Service gefordert, weltweit zu agieren. Die internationale Entsendung von Servicetechniker:innen ist dabei in der Regel zeitintensiv, kostenaufwendig und verursacht längere Anlagenstillstände. Vor diesem Hintergrund sind Anbieter und Kunden an digitalen Lösungen zur Optimierung der Servicearbeit interessiert. Lösungen wie Self-Services, bei denen der Kunde selbstständig Probleme löst, sowie Remote-Services, bei denen der Hersteller die Lösungsfindung aus der Ferne übernimmt bzw. moderiert, rücken dabei in den Fokus.

Das vermehrt international nachgefragte Servicegeschäft stellt viele kleine und mittelständische Investitionsgüterhersteller vor große Herausforderungen, die sich in Mitarbeiterengpässen, hohen Prozesskosten, unvollständiger Verfügbarkeit von Service-relevantem Fachwissen am Point-of-Service sowie unzureichender IT-Unterstützung zeigen. So ist beispielsweise bei jedem vierten bis zehnten Servicefall ein Mehrfachbesuch aufgrund unzureichender Informationen bzw. falscher Analysen erforderlich (Walter, 2009). Da qualifizierte Servicetechniker:innen einen zentralen Engpass und somit für das Service- und teilweise auch das Primärproduktgeschäft eine erhebliche Wachstumsbremse darstellen, müssen Lösungen gefunden werden, die sie von unproduktiver Informationsbeschaffung sowie vermeidbaren Reisetätigkeiten entlasten und hierdurch einen Beitrag zur Verringerung des Fachkräftemangels im Service leisten. Relevantes Produkt- und Prozesswissen für die Lösung von Problemen sollte den Servicemitarbeiter:innen zu jeder Zeit und an jedem Ort zur Verfügung gestellt werden, um diese während ihres Einsatzes bestmöglich zu unterstützen. Außerdem sollten Partnerunternehmen und das Instandhaltungspersonal der Kunden gezielt mit in den Problemlösungsprozess einbezogen werden.

12.1.2 Zielsetzung im Projekt SerWiss

Das übergeordnete Ziel des Projekts war die Entwicklung eines integrierten Ansatzes, der kleine und mittelständische Investitionsgüterhersteller dazu befähigt, Servicewissen (welches z. B. in Form von Maschinenhistorien, audio-visueller Prozessunterstützung, 3D-Modellen, Wartungsroutinen, Serviceberichten, Hilfetexten oder Workarounds „materialisiert“ werden kann) auf der Grundlage eines digitalen Lösungskonzeptes unter Gewährleistung einer humanen Arbeitsgestaltung effizient zu generieren und international bereitzustellen und zu vermarkten. Dieser integrierte Ansatz umfasst nachfolgende Teilziele:

  • Die wissenszentrierte Arbeitsgestaltung in den Serviceprozessen, welche die Entwicklung und Pflege von Servicewissen in den Dienstleistungserbringungs- und Problemlösungsprozess des technischen Service integriert. Grundlage hierfür ist die Methode Knowledge-Centered Service.

  • Die Entwicklung und bedarfsgerechte Anwendung digitaler Werkzeuge zur Konzeption und prototypischen Umsetzung einer digitalen Lösung, die sowohl die Hardware- (z. B. über Tablets oder Datenbrillen) als auch die Software-seitige Unterstützung der Servicearbeit beinhaltet.

  • Die Entwicklung wissensbasierter Geschäftsmodelle, die den Wert von Servicewissen zur Grundlage haben und auf die Bedürfnisse von kleinen und mittelständischen Investitionsgüterherstellern und ihren Kunden abgestimmt sind.

  • Die betriebliche Umsetzung, bei welcher in Pilotprojekten bis hin zu finalen Lösungen bei den beiden Anwendungspartnern Geschäftsmodelle und Referenzprozesse umgesetzt werden, um hierdurch die Wettbewerbsfähigkeit der KMU zu erhöhen.

Durch die Erreichung der beschriebenen Teilziele können kleine und mittelständische Investitionsgüterhersteller Servicewissen in einer verbesserten Weise festhalten und es nutzen, um ihr Leistungsspektrum zu erweitern und neue Serviceleistungen weltweit anbieten zu können. Im Ergebnis werden sie strategisch, arbeitsorganisatorisch und technisch in die Lage versetzt, mit vertretbarem Aufwand Service-relevantes Wissen zu generieren und es eigenen Servicetechniker:innen, externen Partnerunternehmen oder Instandhaltungspersonal der Kunden am Point-of-Service zur Verfügung zu stellen. Durch die zu erwartende Reduktion von Reisetätigkeiten und die Steigerung der Lösungsqualität erfolgt eine Effizienzsteigerung in Bezug auf Serviceeinsätze, die einen nennenswerten Beitrag zur zeitlichen Entlastung der Engpassressource Servicepersonal leistet. Zudem kann das erfasste Servicewissen in neue Dienstleistungen überführt und den Kunden im Rahmen neuer wissensbasierter Geschäftsmodelle angeboten werden. Auf diese Weise wird die bestehende Servicearbeit für die mittelständischen Investitionsgüterhersteller effizienter gestaltet und zudem zusätzliche Erlöse aus der Vermarktung des Servicewissens generiert.

12.1.3 Projektpartner

Zur Erreichung der Zielsetzung wurde ein Konsortium aus insgesamt sechs Partnern, die aus verschiedensten Bereichen Wissen, Erfahrungen und Leistungen in das Projekt einbringen konnten, gebildet.

  1. 1.

    Wissenschaftspartner:

    • Die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz hat federführend die betriebliche Umsetzung, Dissemination sowie das gesamte Projektmanagement übernommen und bei der wissenszentrierten Arbeitsgestaltung und Implementierung digitaler Werkzeuge mitgewirkt.

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    • Die Ruhr-Universität Bochum war im Projektverlauf führend bei der Entwicklung von wissensbasierten Geschäftsmodellen, Referenzprozessen, der Implementierung digitaler Werkzeuge sowie der Dissemination aktiv.

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  2. 2.

    Entwicklungspartner:

    • Die pro accessio GmbH & Co. KG verantwortete die Inhalte und Methoden rund um Wissensmanagement sowie die wissenszentrierte Arbeitsgestaltung. Dabei wurde an zahlreichen Schnittstellen zu Referenzprozessen, digitalen Werkzeugen, Geschäftsmodellen und Dissemination mitgewirkt.

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    • Die TeamViewer Germany GmbH war im Bereich der digitalen Unterstützung des technischen Service verantwortlich für die Entwicklung einer prototypischen Remote-Lösung zur Erfassung und Bereitstellung von Wissen basierend auf Augmented Reality.

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  3. 3.

    Anwendungspartner:

    • Die acp systems AG steuerte durch die Umsetzung der im Projekt erarbeiteten Inhalte zahlreiche Erkenntnisse unter anderem für die Anwendung von Wissensmanagement und die Prozessgestaltung im technischen Service bei.

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    • Die Automatic-Systeme Dreher GmbH steuerte auf parallelem Weg ebenfalls eine Vielzahl von Erkenntnissen im Bereich der Referenzprozesse und der Unterstützung dieser durch digitale Werkzeuge bei.

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12.2 Wissenszentrierte Arbeitsgestaltung

12.2.1 Was ist Wissen?

Wissen ist für Unternehmen eine wertvolle und schwer zu imitierende Ressource, die zu einem nachhaltigen Wettbewerbsvorteil führen kann (Barney, 1991). Wissen als Begriff ist jedoch schwer zu fassen und zu definieren. In der Wissenschaft wird Wissen meist in Bezug zu dem Begriff „Information“ definiert (Rowley, 2007). Informationen sind organisierte und strukturierte Daten, die für einen bestimmten Zweck oder in einem bestimmten Kontext relevant und nützlich sind. Informationen müssen mit den individuellen Erfahrungen, Werten und Fähigkeiten eines Menschen integriert werden, um Wissen zu formen, welches dem Menschen dann ermöglicht, bestimmte Handlungen auszuführen (Rowley, 2007). Folglich liefert Wissen die Antwort auf die Frage, wie etwas zu tun ist. Beispielsweise können Instandhaltungsmitarbeiter:innen unter Zuhilfenahme der Maschinenakte ein defektes Lager in einer Maschine auswechseln und diese wieder in Betrieb nehmen. Wenn ein Mensch eine breite Wissensbasis aufgebaut hat, kann er/sie zwischen mehreren potenziell zum Ziel führenden Handlungen auswählen und entscheiden, welche für die vor ihm liegende Problemstellung die beste Alternative ist – dies wird als Weisheit bezeichnet (Rowley, 2007). Grundsätzlich wird Wissen in explizites und implizites Wissen unterschieden (Alavi & Leidner, 2001; Turban et al., 2006):

  • Explizites Wissen ist kodifiziertes Wissen in Form von Worten, Symbolen und Zahlen (Sprache). Es kann gespeichert und ausgetauscht werden, z. B. in Büchern, Dokumenten, Memos, Videos usw.

  • Implizites Wissen basiert auf Erfahrungen, z. B. auf Handlungen, die eine Person in einem bestimmten Kontext ausgeführt hat. Es ist in den mentalen Modellen der Person gespeichert und manifestiert sich in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Wissen wird innerhalb von Unternehmen und inzwischen auch über die Unternehmensgrenzen hinweg, z. B. mit Partnerunternehmen, ausgetauscht (Ayala et al., 2017). Dabei ist der Transfer von implizitem Wissen in der Regel sehr zeitintensiv und kostspielig, während sich explizites Wissen wesentlich besser für den Austausch eignet. Digitale Technologien wie Data Mining, Chatprogramme, Intranets, etc. (Obeidat, 2019) unterstützen die Speicherung, den Aufbau und das Teilen von Wissen innerhalb von Unternehmen und über Unternehmensgrenzen hinweg (Alavi et al., 2005; Ayala et al., 2017). So kann beispielsweise das implizit im Kopf eines/r Experten/in gespeicherte Wissen explizit in einer digitalen Wissensdatenbank des Unternehmens erfasst und somit von anderen genutzt werden. Alternativ kann mithilfe von Technologien wie Augmented Reality, z. B. in Remote-Support-Anwendungen, implizites Wissen in Echtzeit übertragen und genutzt werden, ohne dass es explizit gemacht werden muss. Das Teilen und Anwenden von Wissen aus der Ferne bringt wirtschaftliche und ökologische Vorteile mit sich (Sousa Jabbour et al., 2018), da beispielsweise Servicetechniker:innen nicht mehr an den Standort des Kunden reisen müssen, um einen Fehler an einer Maschine zu beheben.

12.2.2 Methoden für Wissensmanagement: Knowledge-Centered Service und Intelligent Swarming

Im vorherigen Absatz ist klar geworden, dass implizites Wissen wertvoll für die Erbringung von Services ist, allerdings in den Köpfen der Mitarbeiter:innen steckt und erst kontextbezogen explizit und verfügbar gemacht werden muss. Offen sind dabei noch die Fragen, wie die oben erwähnten digitalen Technologien diesen Prozess bestmöglich unterstützen können, wie es Mitarbeiter:innen leichter gemacht werden kann, ihr Wissen zu teilen und wann der beste Zeitpunkt dafür ist.

Das Methodenwerk Knowledge-Centered Service, kurz KCS® (Consortium for Service Innovation, 2019), liefert dafür passende Antworten und wurde daher schon bei der Beantragung des Forschungsprojektes bewusst ausgewählt.

KCS ist ein Ansatz für Serviceorganisationen, bei dem Wissen als primäres Instrument zur Lösung von Kundenproblemen und zur Verbesserung des Kundenerlebnisses insgesamt eingesetzt wird. Das Ziel von KCS ist es, eine Kultur der Zusammenarbeit und des Wissensaustauschs innerhalb einer Organisation zu schaffen. Die Servicemitarbeiter:innen werden darin geschult, eine zentralisierte Wissensdatenbank zu nutzen und zu ihr beizutragen, während sie mit den Kund:innen bzw. an konkreten Kundenproblemen arbeiten. Dieser Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass Kundenprobleme am besten gelöst werden können, wenn das kollektive Wissen und die Erfahrung des gesamten Unternehmens genutzt werden.

In einem KCS-Modell werden die Servicemitarbeiter:innen dazu angehalten, die Wissensdatenbank als ersten Bezugspunkt bei der Interaktion mit den Kund:innen zu nutzen. Der Fokus liegt dabei auf dem Wiedergebrauch bestehenden Wissens, was eine effiziente Suche voraussetzt, über die schnell relevante Inhalte gefunden werden können. Bestehendes Wissen wiederzuverwenden, anstatt jeden Kundenvorfall neu zu recherchieren und von Grund auf erneut zu lösen, verschafft einen Geschwindigkeitsvorteil sowohl für die Kundschaft als auch die Dienstleister. Die Servicemitarbeiter:innen sind in dem KCS-Modell jedoch nicht nur Konsument:innen der Wissensdatenbank. Von ihnen wird erwartet, dass sie zur Wissensdatenbank beitragen und Verantwortung für die Qualität von deren Inhalten übernehmen. Dazu werden sie bestehende Artikel vor dem Wiedergebrauch aktualisieren, sofern sich dies als nötig erweist. Neue Wissensartikel sollen nur dann geschrieben werden, wenn nach intensiver Suche keine bestehenden Inhalte gefunden wurden. Beide Aktivitäten, sowohl die Erstellung als auch die Aktualisierung von Artikeln, finden zeitlich parallel zur Interaktion mit den Kund:innen statt und nicht nachgelagert. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Wissensdatenbank jederzeit aktuell und genau ist, das kollektive Wissen aller Mitarbeiter:innen der Serviceorganisation enthält und die realen Erfahrungen und Bedürfnisse der Kund:innen widerspiegelt.

Während KCS eine bewährte Methode für das Erfassen, die Strukturierung, den Wiedergebrauch und die Aktualisierung bestehenden Wissens ist, lässt sie aus Sicht einer Serviceorganisation folgende Fragen unbeantwortet: Wie reagiert man auf Anfragen von Kund:innen, bei denen das zur Lösung notwendige Wissen zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit implizit in irgendeinem Kopf vorhanden ist, aber eben noch nicht explizit verfügbar gemacht wurde? Wie werden Wissende ausfindig gemacht, wie werden Fragende und Wissende effizient miteinander verknüpft und wie wird der Prozess der Zusammenarbeit und der Kreation ermöglicht?

Antworten auf diese Fragen liefert das Methodenwerk Intelligent Swarmingsm (Consortium for Service Innovation, 2022): Der Ansatz stützt sich auf den Einsatz von Technologie und Datenanalyse, um die schnelle Lösung von Kundenproblemen zu erleichtern. Das Ziel von Intelligent Swarming ist es, eine kollaborative und agile Organisation zu schaffen, in der Teams von Servicemitarbeiter:innen Kundenprobleme schnell und effektiv identifizieren und lösen können. Wie bei KCS auch, nutzen sie dabei das kollektive Wissen und die Expertise des gesamten Unternehmens und sind nicht auf die eigene persönliche Erfahrung beschränkt.

Intelligent Swarming basiert auf der Idee des „Swarming“, d. h. der selbstorganisierten Zusammenführung eines Expertenteams, um in Abwesenheit von bereits kodifiziertem Wissen ein bestimmtes Kundenproblem auf kooperative und flexible Weise zu lösen. Durch die Zusammenführung der richtigen Mischung von Menschen und Ressourcen soll Intelligent Swarming eine schnelle und effektive Reaktion auf die Bedürfnisse der Kund:innen ermöglichen. Die „Intelligenz“ im Ansatz liegt dabei in der Definition eines Kompetenzmodells, mit dem die für die Serviceerbringung erforderlichen Wissensgebiete des Unternehmens und die Ausprägung der jeweiligen Wissenstiefe beschrieben werden. Das gleiche Kompetenz-Schema wird angewendet, um die in Kundenanfragen berührten Wissensgebiete zu kategorisieren. So kann nach der Analyse des Kundenproblems schnell abgeleitet werden, welche Person voraussichtlich über das erforderliche Wissen zu dessen Lösung verfügt. Anders als in bisher versuchten Ansätzen für Kompetenzprofile wird im Intelligent Swarming-Modell zusätzlich ein Gamification-Ansatz verfolgt. Er berücksichtigt, dass in einer Wissens-Ökonomie der persönliche Anreiz für das Teilen von Wissen von den intrinsischen Motivatoren Autonomie, Meisterschaft und Sinn (Pink, 2010) ausgeht. Das Resultat ist ein Reputations-Modell, in dem zum Beispiel Faktoren wie Lösungs-Historie, Aktualität und Tiefe des Wissens, Rückmeldungen zur Qualität der Zusammenarbeit und Kommunikation einfließen. Die Reputation einer Person beeinflusst, ob sie bei dem Matching zwischen Kundenproblem und benötigtem Kompetenzprofil ausgewählt wird. Ausgehend von einer ersten analogen Version dieses Modells kann es in mehreren Iterationen digitalisiert und zunehmend automatisiert werden.

Sowohl KCS als auch Intelligent Swarming basieren auf folgenden PrinzipienFootnote 1:

  • Überfluss (Abundance)

  • Wertschöpfung (Create Value)

  • Nachfrageorientiert (Demand Driven)

  • Vertrauen (Trust)

Beide Methodenwerke setzen in Bezug auf ihre Einführung auf einen starken Einbezug der Mitarbeiter:innen bei dem Design der Prozesse und deren Umsetzung in digitale Werkzeuge.

12.2.3 Branchenspezifische Herausforderungen für das Wissensmanagement

Bei der Arbeitsgestaltung in Serviceprozessen von Investitionsgüterherstellern ist zu berücksichtigen, dass eine Leistungserbringung nur mithilfe von umfangreichem Wissen über die Investitionsgüter, das Kundenumfeld und sinnvolle Problemlösungsstrategien möglich ist. Das Servicewissen umfasst somit produkt- und prozessspezifische Komponenten. Erstere beziehen sich auf ein bestimmtes Serviceobjekt bzw. Investitionsgut, während letztere Vorgehensweisen und Techniken bei der Planung und Durchführung von Servicemaßnahmen umfassen.

KCS, ursprünglich eine Methode aus der IT-Branche, zielt darauf ab, bestehendes Wissen wiederzuverwenden und neues Wissen bereits während des Lösungsprozesses in einer Wissensdatenbank zur Verfügung zu stellen. Charakteristisch für die IT-Branche sind hybride Leistungsbündel aus Produkten und Dienstleistungen oder Angebote mit einem hohen Anteil an begleitenden Software-Lösungen. In der Regel werden mit diesen erklärungsbedürftigen Angeboten eine große Zahl von Kunden erreicht, die in der Folge mit ähnlichen Fragen und Problemen auf die Hersteller zugehen. Entsprechend ist der Produktservice durch eine Vielzahl wiederkehrender Problemstellungen geprägt, die mithilfe einer Wissensdatenbank schnell und effizient gelöst werden können.

Im Investitionsgütersektor unterscheidet man nach der Anzahl gleichartiger Produkte zwischen der Ein-, Mehr- und Serienproduktproduktion. Während die Serviceprozesse bei Serienprodukten und Software-Produkten große Ähnlichkeiten aufweisen, unterscheiden sie sich von denen der Ein- und Mehrprodukte deutlich.

Der Service bei Ein- bzw. Mehrprodukten ist häufig durch komplexe und selten identische Problemstellungen gekennzeichnet. Die Natur des Produkt- und Servicegeschäftes der KMU bedingt, dass durch arbeitsteilige Spezialisierung und kundenspezifische Produkte das notwendige Lösungswissen sich nicht vollständig beim Servicepersonal befindet. Aufgrund der langen Nutzungsdauer der Maschinen und Anlagen können identische oder ähnliche Probleme erst Jahre nach der Inbetriebnahme auftreten. Die Idee von KCS, Wissen basierend auf Nachfrage und Gebrauch zu erfassen, bereitzustellen und weiterzuentwickeln, wäre in diesem Branchenkontext nicht ausreichend. Wissen aus dem Produkterstellungsprozess weist eine hohe Relevanz für die Problemlösung auf. Es muss folglich bereits während der Herstellung und Inbetriebnahme der Produkte eine geeignete Wissensdatenbank aufgebaut werden, die – im Sinne von KCS – bei nachfolgenden Serviceeinsätzen im Moment der Leistungserbringung erweitert wird.

Eine weitere branchenspezifische Herausforderung ist die heterogene Verteilung von Wissen. Service-relevantes Wissen kann über verschiedene Organisationen und Akteure verteilt sein. Unternehmensintern ist nicht nur die Serviceabteilung am Serviceprozess beteiligt, sondern häufig auch Abteilungen aus dem vorgelagerten Leistungserstellungsprozess, darunter die Entwicklung, Konstruktion, Vertrieb, Dokumentation, Montage und Inbetriebnahme. Zusätzlich können externe Akteure wie Servicepartner oder Instandhaltungspersonal des Kunden im Serviceprozess eine wichtige Rolle spielen. Für ein ganzheitliches Wissensmanagement im Sinne einer vollständigen Produkthistorie sollten langfristig auch externe Akteure und deren Wissen einbezogen werden, da bei Ausbleiben einer systematischen und organisationsübergreifenden Koordination sich die Gefahr einer Wissenszersplitterung ergibt. Hieraus resultiert das Problem, dass das notwendige Wissen nicht immer zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und in der richtigen Form dem eigenen Servicepersonal, dem Instandhaltungspersonal auf Kundenseite oder weiteren Anspruchsgruppen zur Verfügung gestellt werden kann.

Resultierend aus diesen Erkenntnissen haben sich Anpassungsbedarfe bei der Übertragung der zuvor beleuchteten Wissensmanagement-Methoden für eine wissenszentrierte Arbeitsgestaltung in KMU im Investitionsgütersektor ergeben. Vereinfacht lässt sich sagen, dass sich die anerkannten KCS-Methoden umso einfacher anwenden lassen, je näher ein Hersteller von Investitionsgütern einer Serienfertigung kommt. Aufgrund der Skaleneffekte der Serienfertigung spielen wiederkehrende Fragen und damit der Rückgriff auf vorhandenes dokumentiertes Wissen eine größere Rolle.

Für KMU im Bereich der Ein- bzw. Mehrproduktproduktion müssen dagegen die deutlich komplexeren Strukturen bei der Bearbeitung von Problemstellungen im Produktservice und der unterschiedlichen Anforderungen der Beteiligten an eine wissenszentrierte Arbeitsgestaltung Berücksichtigung finden. Aus diesem Grund wurde im Projekt SerWiss ein hybrider Ansatz für Wissensmanagement gewählt, der die Methoden von KCS mit Intelligent Swarming verknüpft. Intelligent Swarming ist nahe an der aktuellen Unternehmenskultur der Anwendungspartner und fördert dennoch den dynamischen Wissenstransfer. Es kann einfach und mit geringem Reibungsverlust in die bereits bestehenden Arbeitsabläufe eingebunden werden. Während der Kollaboration entstandenes Wissen muss anschließend im Sinne von KCS in einer Wissensdatenbank zur Verfügung gestellt werden. Das Ziel der Wiederverwendbarkeit von bereits bekanntem Wissen stieß bei allen Beteiligten auf großes Interesse, da die Anwendungspartner grundsätzlich unternehmensweit mit Kapazitätsengpässen konfrontiert sind. Darüber hinaus bietet eine dauerhaft verfügbare, digitale Wissensdatenbank auch die Möglichkeit, internationale Serviceeinsätze unabhängig von Kapazität und Erreichbarkeit der Kolleg:innen erfolgreich und effizient zu erledigen.

In diesem Zusammenhang fehlt es KMU aber bisher häufig noch an benötigten Kompetenzen und geeigneten digitalen Werkzeugen zur Gestaltung effizienter und effektiver Arbeitsprozesse, um das Servicewissen zu erfassen und bereitzustellen. Ein besonderes Augenmerk ist daher auf den digitalen Reifegrad bei KMU zu legen. Es ist notwendig, passend zur Wissensmanagement-Methode eine ganzheitliche Digitalisierungsstrategie in Bezug auf den Serviceprozess zu entwickeln, angepasst an die besonderen Herausforderungen von KMU. Dies kann jedoch auch bedeuten, dass es bei der Umsetzung des Wissensmanagements einer wechselseitigen Anpassung von Methode und Software im Rahmen der begrenzten Ressourcen eines KMU bedarf.

12.2.4 Referenzprozess für eine wissenszentrierte Servicearbeit

Stakeholder und Wissensquellen identifizieren

Stakeholder im Serviceprozess sind Personen bzw. Personengruppen, die von Maßnahmen im Serviceprozess betroffen sind oder diesen beeinflussen können. Geht man von KCS aus, sind die Knowledge Worker zentrale Stakeholder im Service-Desk, der die erste Anlaufstelle für Serviceanfragen und damit die zentrale Schnittstelle zwischen Kunde und Hersteller darstellt. Knowledge Worker rufen zur Problemlösung nicht nur Wissen aus einer Datenbank ab, sondern lassen gleichzeitig auch neue Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Servicefall in eine zentrale Wissensdatenbank zurückfließen. Sie sind sowohl Ersteller:innen als auch Nutzer:innen der Wissensartikel in der Wissensdatenbank.

Im Investitionsgüterservice sind die Knowledge Worker im Service-Desk, je nach Organisation in Form der Serviceleitung oder Servicemitarbeiter:innen, zwar auch die zentralen Stakeholder, die Komplexität der Problemstellungen erfordert aber in der Regel fach- und abteilungsübergreifendes Wissen. Das Hinzuziehen von Fachexperten aus dem vorangegangenen Leistungserstellungsprozess ist somit regelmäßig notwendig. Das kann entweder direkt passieren, in dem Servicemitarbeiter:innen in persönlichen Kontakt mit den Fachabteilungen treten (implizites Wissen abfragen) oder in dem sie auf bereits dokumentiertes Wissen zurückgreifen (explizites Wissen nutzen). Nach der ersten Problemeinordnung wird der Servicefall häufig einer geeigneten Fachkraft (z. B. Servicetechniker:in im Außendienst) zugeordnet, die den Fall weiterbearbeitet, wodurch sich der Kreis der Stakeholder erweitert und sich die Bedürfnisse an das Wissensmanagement ändern können. Für eine wissenszentrierte Arbeitsgestaltung ist es daher unverzichtbar, in einer umfangreichen Ist-AnalyseFootnote 2 die Wissensquellen und Bedarfe der Stakeholder zu ermitteln.

Im Rahmen dieser Analyse hat sich gezeigt, dass sich Wissensquellen in statische und dynamische Wissenselemente aufteilen lassen. Statische Wissenselemente umfassen Daten und Informationen, die bereits während der Entwicklung und Konstruktion entstehen und die Wissensbasis zu einer Maschine bzw. Anlage bilden. Dazu können zählen:

  • CAD- und Software-Daten

  • Technische Dokumente (u. a. Lastenhefte, Dokumentationen, Aufstellungspläne, Zeichnungen, Stücklisten, Schaltpläne, Hydraulikpläne)

  • Fotos, Videos

Unter dynamische Wissenselemente ist sämtliches Wissen zu verstehen, das ab der Inbetriebnahme während des gesamten Produktlebenszyklus entsteht. Für eine effiziente Arbeitsgestaltung ist es wichtig zu verstehen, in welchen Situationen dieses Wissen anfällt, damit sowohl Erfassen als auch Abrufen von Wissen optimal in den Arbeitsablauf integriert werden können. Analysen haben ergeben, dass im Investitionsgüterservice zwischen drei Fällen unterschieden werden kann, in denen Wissen anfällt:

  • Interaktion zwischen Kunde und Hersteller

  • Interaktion zwischen Mitarbeiter:innen des Herstellers (Serviceabteilung oder abteilungsübergreifend)

  • eigenständiges Arbeiten von Mitarbeiter:innen des Herstellers (Serviceabteilung oder abteilungsübergreifend)

Sowohl bei der Interaktion zwischen Kunde und Hersteller als auch zwischen Mitarbeiter:innen intern werden meist das Problem, mögliche Lösungsstrategien und schließlich der Erfolg einer Lösung kommuniziert. Arbeitet ein/e Servicemitarbeiter/in eigenständig an einem Problem, durchläuft er/sie dieselben Phasen für sich allein. Oberstes Ziel des Wissensmanagements ist es, in allen drei Fällen das entstandene Erfahrungswissen zu dokumentieren und digitalisieren. Implizites Wissen muss dabei in explizites Wissen umgewandelt werden, damit es für die Organisation verfügbar gemacht werden kann. Dynamische Wissenselemente sind typischerweise Service- und Montageberichte, die während oder nach jedem Serviceeinsatz erstellt werden müssen. Es können aber auch einzelne Wissensartikel sein, die aufgetretene Probleme mit Lösungen dokumentieren oder Tipps für verschiedene Lösungswege geben (z. B. benötigtes Spezialwerkzeug, bestimmte Kniffe für Sonderkonstruktionen). Als Wissensartikel bezeichnet man in der Logik von KCS sämtliche Dokumente, welche statische und dynamische Wissenselemente umfassen.

Ist-Analyse

Aufgaben zur Entwicklung eines tiefen Verständnisses für den aktuellen Serviceprozess sind:

  • Identifikation der relevanten Stakeholder für den Serviceprozess (z. B. Serviceleiter:in, Servicetechniker:in, Fernwartungs- bzw. Software-Expert:in)

  • Führung offener und persönlicher Gespräche mit den Stakeholdern zum aktuellen Serviceprozess: Was passiert von „Kunde ruft mit einem Problem an“ bis „Servicefall ist abgeschlossen“?

  • gemeinsame Analyse der Herausforderungen und Bedarfe während des Serviceprozesses (Software-Unterstützung, Wissensquellen, Kommunikationswege mit Kunden bzw. Kolleg:innen)

  • Gespräche mit weiteren Stakeholdern intern (abteilungsübergreifend, „Was benötigen Sie, um effizient arbeiten zu können?“) und extern (z. B. Kunden, „Wo erkennen Sie Potenziale im Service und welches Angebot würde Ihnen einen Mehrwert bieten?“)

  • Überblick zu bestehenden Kennzahlen und Zielen verschaffen („Wie erfolgt die Leistungsmessung?“)

  • Gesamtbild zu Leadership und Unternehmenskultur verschaffen (Visionen, Führungskommunikation, Miteinander)

Nach der Ist-Analyse empfiehlt es sich, eine Fokusgruppe, bestehend aus ca. zehn Personen, zu gründen, die im weiteren Verlauf gemeinsam neue Referenzprozesse für eine wissenszentrierte Servicearbeit erarbeitet. Die Fokusgruppe ist dabei als repräsentative Gruppe der für den Serviceprozess relevanten Stakeholder aufzustellen.

Fokusgruppe

Im Projekt SerWiss hat sich folgende Zusammensetzung der Fokusgruppe als zielführend erwiesen:

  • Abteilungsleitung Service

  • Servicetechniker:innen und Inbetriebnehmer:innen

  • IT- und Prozessmanagement

  • Entwicklung und Konstruktion

  • Dokumentation

Langfristig sollte das Ziel eines Unternehmens sein, nicht nur für die Serviceabteilung wissenszentrierte Prozesse zu erarbeiten, sondern in der gesamten Organisation eine wissenszentrierte Arbeitsgestaltung zu etablieren. Die Grundgedanken der KCS-Methode können dabei als Leitbilder herangezogen werden. Jedoch sollte nicht der Versuch unternommen werden, in allen Unternehmensbereichen und jeder Arbeitsrolle zwanghaft die gleiche Methode für das Wissensmanagement einzusetzen. KCS entspringt ursprünglich den dialoghaften und transaktionalen Prozessen aus der Support-Welt. Dort gelingt es einfach, den Anspruch zu erfüllen, Wissensartikel als Nebenprodukt einer Problemlösung zu erstellen. Die Integration in bestehende Abläufe und die IT-Umsetzung ohne Medienbrüche gelingt in solchen Arbeitsfeldern verhältnismäßig problemlos und die Methode kann ihre Kraft voll entfalten. Bei der Übertragung auf anders geartete Arbeitsbereiche muss mit Augenmaß bewertet werden, wie die Erfassung von Wissen „in the workflow“ erreicht werden kann.

Wissenszentrierte Referenzprozesse erarbeiten

Im Rahmen der Design SessionsFootnote 3 erarbeitet die Fokusgruppe im Detail den neuen Serviceprozess unter Berücksichtigung der abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit und liefert zudem erste Erkenntnisse zur Software-seitigen Unterstützung der Servicearbeit und Kollaboration innerhalb des Unternehmens.

Durch das Projekt SerWiss ist die Erkenntnis entstanden, dass folgende KCS-Techniken auch im Branchenkontext der Investitionsgüterindustrie sinnvoll angewendet werden können:

Search early and often (Re-use)

Bevor bei einem aufgetretenen Problem eine Lösung erarbeitet wird, sollte zunächst immer in der Wissensdatenbank überprüft werden, ob bereits eine Lösung für das bestehende Problem vorhanden ist (s. Abb. 12.1). Dies kann den Lösungsprozess erheblich beschleunigen und schafft Kapazität für weitere Servicefälle oder andere Tätigkeiten. Erst in der Wissensdatenbank zu recherchieren und nicht sofort eine vermeintlich bekannte Lösung aus dem Gedächtnis abzurufen, fördert zudem die Nutzung des kollektiven Wissens der Organisation. Oftmals besteht neues Wissen innerhalb der Organisation, auf das ansonsten ohne Not verzichtet wird. Des Weiteren verliert man so die Möglichkeit der kollektiven Wissensoptimierung. Falls in der Wissensdatenbank keine Lösung aufzufinden ist, gilt es, die erarbeitete Lösung anschließend auch zu dokumentieren und abzuspeichern, um sie in Zukunft den Kolleg:innen verfügbar zu machen. An dieser Stelle des Prozesses wird die KCS-Methode um die Methode Intelligent Swarming ergänzt, um eine agile und effiziente Teamarbeit zu ermöglichen.

Abb. 12.1
figure 1

Problemlösungsprozess unter Verwendung von KCS und Intelligent Swarming

„Search early and often“ ist für die Mitarbeiter:innen der Anwendungspartner vor allem deshalb eine neue Technik, weil bisher keine zentrale Wissensdatenbank im Unternehmen bestand. Darüber hinaus ist es branchentypisch, dass einzelne Mitarbeiter:innen als Experten:innen für bestimmte Fachgebiete oder Maschinentypen auftreten und dabei viele Probleme mittels Erfahrungswissen lösen, ohne diese zu dokumentieren. Durch das stete Suchen nach Lösungen in der Wissensdatenbank wächst das Bewusstsein der Mitarbeiter:innen zur Bedeutsamkeit, Wissen zu dokumentieren, um dieses wiederverwenden zu können. Außerdem wirkt es der Gefahr von Duplikaten in der Wissensdatenbank entgegen und dient der Pflege und Aktualität der Wissensartikel.

Voraussetzung für die Erfassung und Wiederauffindbarkeit von Wissen stellt selbstverständlich eine digitale Wissensdatenbank unter Anbindung weiterer digitaler Werkzeuge dar, die von einem Unternehmen zwingend zur Verfügung gestellt werden müssen (siehe Kap. 3). Für eine schnelle Wiederauffindbarkeit braucht es geeignete Suchfunktionen und Filtermöglichkeiten.

Intelligent Swarming

Voraussetzungen schaffen, um die richtigen Leute zusammenbringen zu können:Footnote 4

  • Identifikation der relevanten Fähigkeiten (z. B. Elektrik, Mechanik, Software, Sprachkenntnisse, Führerscheine etc.)

  • Definition von Kompetenzstufen (z. B. A = Expert/in, B = Basiswissen, C = keine Kenntnisse)

  • Erstellen einer Fähigkeitsmatrix, welche die jeweiligen Mitarbeiter:innen nach Fähigkeiten und Kompetenzstufen einordnet

  • Nebeneffekt: Entwicklungspotenziale für Mitarbeiter:innen werden sichtbar

  • Achtung: Es handelt sich hierbei um ein sehr sensibles Thema. Es ist darauf zu achten, dass die Matrix am besten gemeinsam im Team erarbeitet wird und die Kompetenzstufen transparent und nachvollziehbar sind („Was muss ich können, um Experte zu sein?“)

Capture in the workflow

Wissensartikel zu schreiben sollte leicht, ohne Mehraufwand gegenüber der reinen Vorgangsbearbeitung und ohne Medienbrüche möglich sein. Zudem sollte Wissen immer in dem Moment, in welchem es explizit gemacht wird, erfasst werden. Zu diesem Zeitpunkt sind die Eindrücke am frischesten und vollständigsten und jede Verzögerung der Erfassung birgt die Gefahr des Vergessens von Details. „Capture in the workflow“ gewährleistet zudem, dass der Kontext des Problems ausreichend betrachtet und dokumentiert werden kann. Gerade bei hochindividuellen Investitionsgütern spielt die vorgefundene Situation bei der Problemidentifikation und -lösung eine zentrale Rolle. Maschinenparameter oder Ereignisse rund um den Auftritt eines Problems beim Kunden werden in z. B. Checklisten abgefragt. Diese Informationen wären zu einem späteren Zeitpunkt nur schwer reproduzierbar und sollten aus diesem Grund deshalb unmittelbar erfasst werden. Außerdem helfen sie bei der Übertragbarkeit der Lösung auf ähnliche Problemstellungen.

Structure

Über die Struktur der Wissensdatenbank und der Wissensartikel wird häufig viel zu sehr nachgedacht – „keep it simple“! Die wichtigsten Voraussetzungen sind, dass das Wissen wiederauffindbar und einfach zu verstehen ist. Für die Erfassung von Wissen sollte gemeinsam mit den Mitarbeiter:innen ein Content Standard erarbeitet werden. Darunter ist eine leere Vorlage zu verstehen, in der strukturiert das Problem, die Kontextinformationen, der Lösungsweg bzw. die Lösung und z. B. Schlagwörter erfasst werden können. Leitfragen als Platzhalter helfen dabei, die eigene Lösung zu dokumentieren und geben Hilfestellung. Es ist wichtig zu verstehen, dass in diesem Branchenkontext ein Wissensartikel nicht ausschließlich aus geschriebenem Text bestehen muss. Ein Wissensartikel kann aus Fotos, Zeichnungen, Videoausschnitten, Stichpunkten und Fließtext bestehen, ganz nach dem KCS-Motto „complete thoughts, not sentences“. Eine Erkenntnis des Projekts ist, dass eine „speech-to-text“ Funktion die Motivation der Mitarbeiter:innen deutlich erhöht, ihre Gedanken und Lösungen zu dokumentieren, da es den Aufwand des Formulierens und Aufschreibens stark reduziert und es sich im Sinne von „capture in the workflow“ einfach in den Arbeitsablauf integrieren lässt (siehe Kap. 3).

Bei Investitionsgütern lassen sich sinnvoll Metadaten mit Wissen verknüpfen, die die Wiederauffindbarkeit deutlich vereinfachen. Es bieten sich z. B. die Maschinennummer, Produkt-/Baugruppennummern oder die Kundennummer an. Aufgrund der Komplexität der Produkte und Themen bietet es sich zudem an, Ersteller:innen der Wissensartikel zu erfassen, um die Kontaktaufnahme bei potenziell späteren Rückfragen zu erleichtern.

Wissensdatenbank

Im Projekt SerWiss haben sich nachfolgende Strukturen und Funktionen, Wissen abzuspeichern und wieder aufzufinden, als zielführend erwiesen:

  • anlagenspezifisches Wissen der digitalen Maschinenakte zuordnen (alle Inhalte der Maschinenakte sind im Sinne von Wissensartikeln gleichzeitig auch Bestandteil der Wissensdatenbank)

  • anlagenübergreifendes Wissen wird als Wissensartikel direkt in der Wissensdatenbank gespeichert

  • Content Standard für Wissensartikel festlegen

  • geeignete Metadaten verwenden (z. B. Maschinennummer, Kundennummer, Ersteller/in des Wissensartikels etc.)

  • globale Suchfunktion

Flag it or fix it (Improve)

Sobald ein Wissensartikel wiederverwendet wird, sind Nutzer:innen dazu angehalten, den Inhalt des Artikels auf Aktualität und Korrektheit zu überprüfen. „Flag it or fix it“ beinhaltet jedoch nicht nur, Fehler sofort selbst zu beheben oder, falls man sich nicht sicher ist, die vermeintlich fehlerhaften Stellen zu markieren, damit sie im Anschluss diskutiert werden können. Die Technik ist vielmehr eine clevere Lösung, alle Mitarbeiter:innen mit in die Verantwortung für die Qualität der Wissensdatenbank zu ziehen: „Ich bin dafür verantwortlich, zu unserem kollektiven Wissen beizutragen – das Beste, was wir bis jetzt wissen.“ Ein Nebeneffekt ist, dass nur die tatsächlich genutzten Artikel regelmäßig einem Qualitätscheck unterzogen werden. Die gesamte Technik ist somit äußerst effizient und Kapazitäten-freundlich und damit optimal für KMU geeignet.

12.2.5 Erfolgsfaktoren für Wissensmanagement

Eine Wissensmanagement-Methode in einer vorhandenen Organisation mit bereits etablierten Prozessen einzuführen ist eine herausfordernde Aufgabe. Bei der Umsetzung mit den Anwendungspartnern rückten im Laufe des Projekts SerWiss folgende Erfolgsfaktoren in den Fokus.

Der fehlende Bezug zu strategischen Unternehmenszielen ist ein wesentlicher Aspekt, wenn es um die Planung von Initiativen zum Wissensmanagement geht. Durch die große Wirktiefe sind viele, wenn nicht gar alle Mitarbeiter:innen eines Unternehmens davon betroffen. Gerade bei der Umsetzung der Pläne und der Realisierung der Prozesse und Methoden in den Alltag und ihre Unterstützung durch IT-Systeme werden eine ganze Reihe von Personen mit Schlüsselqualifikationen aktiv mit einbezogen. Fehlt der Bezug des Vorhabens zu den strategischen Zielen des Unternehmens, entbrennt ein interner Kampf um diese Ressourcen, der in der Regel mit einer kompromisshaften Umpriorisierung beigelegt wird. Ist der (positive) Einfluss der Initiative auf die Ziele des Unternehmens jedoch belegbar dargestellt, verlaufen diese Gespräche erfolgreicher.

Dazu gehört, dass den Führungskräften aller Hierarchieebenen im Unternehmen die Auswirkungen der Initiative auf ihren Verantwortungsbereich klar sein müssen und sie ihr Führungsverhalten auf die neuen Anforderungen anpassen. Im Projekt SerWiss wurde daher zu einem frühen Zeitpunkt die Notwendigkeit daraufgelegt, dass den Führungskräften der eigene erforderliche Beitrag zum Gelingen von Wissensmanagement bewusst ist. Wenn dieses Vorhaben gedanklich auf die Auswahl, Beschaffung und IT-mäßige Integration einer geeigneten Wissensdatenbank reduziert wird, kann sich dies in der Erwartungshaltung äußern, dass nach einer anfänglichen Schulung in die Bedienung der Software alle bisherigen Prozesse unverändert bleiben können und die Erfassung und Aktualisierung von Wissen „irgendwie nebenher“ geschehe.

Aufgrund der Unternehmensgröße von KMU und der Komplexität der Produkte in der Investitionsgüterindustrie war zu beobachten, dass einzelne Mitarbeiter:innen, die sehr viel Erfahrungswissen besitzen und dafür eine besondere Anerkennung genießen, Schlüsselpositionen im Unternehmen einnehmen. Wenn man nun dem Wissen an sich, nicht aber dem Wissensmanagement Wert beimisst, entsteht das Problem, dass sich dieser Zustand weiterhin verfestigt. Dadurch kann den Kolleg:innen die Motivation zum Teilen von Wissen genommen werden. Folglich muss frühzeitig auch der Wert des Wissensmanagement kommuniziert und bewusst gemacht und die Bereitschaft zum Teilen von Wissen und dem gemeinsamen Lernen belohnt werden.

Diese Sichtweise unternehmensweit zu ändern, ist Aufgabe der Führungskräfte. Sie müssen ein Umfeld schaffen, in dem die Mitarbeiter:innen die Zeit und den Freiraum haben, die neuen Methoden zum Wissensmanagement zu erlernen und in den Arbeitsalltag zu integrieren. Es wurde deutlich, dass dies mit einer einmaligen Schulung nicht getan ist, sondern eine andauernde Begleitung erfordert. Die Mitarbeiter:innen müssen Vertrauen und Gewissheit haben, dass es ihnen nicht zum Nachteil wird, wenn sie Wissen mit ihren Kolleg:innen teilen. Dies beginnt bei der Wertschätzung für geschriebene Wissensartikel und hört bei der Angst, sich durch Teilen von Wissen ersetzlich zu machen, nicht auf.

Es gilt, den Mitarbeiter:innen klar aufzuzeigen, was in der neuen Arbeitsgestaltung von ihnen erwartet wird. Folglich braucht es eine Zieldefinition davon, welches Verhalten in Bezug auf Teilen und Lernen im Unternehmen beobachtbar sein soll und wie sich der Nutzen durch Wissensartikel für Kunden, das Unternehmen und die Mitarbeiter:innen darstellen und messen lässt. Besonders bei KMU kann häufig beobachtet werden, dass wenig bis keine Kennzahlen erhoben werden, daher ist es wichtig, geeignete Kennzahlen einzuführen bzw. die verwendeten Metriken im Verlauf der Einführung anzupassen und deren Gewichtung zu ändern. Während zu Beginn noch ein Fokus auf das Anlaufen der Prozesse gelegt wird, muss in späteren Phasen der Fokus auf das Stiften von Nutzen verlagert werden. Damit die erzielten Verbesserungen darstellbar gemacht werden können, bedarf es einer durch Kennzahlen unterstützen Ist-Analyse.

Zusammen mit dem eigenen Erleben („Der Gebrauch von kollektivem Wissen erleichtert meine Arbeit, ich erreiche mehr mit weniger Aufwand und meine Kunden sind zufrieden mit meiner Lösung.“) können diese Kennzahlen (Anfragevolumen sinkt, kürzere Bearbeitungsdauer, höhere Erstlösungsrate, mehr Kundenzufriedenheit usw.) helfen, den Mitarbeiter:innen den persönlichen Nutzen aus dem Wissensmanagement darzustellen. Im angloamerikanischen Sprachraum wird die Betonung des persönlichen Nutzens für die Knowledge Worker mit dem Akronym WIIFM („What‘s in it for me?“) sehr treffend beschrieben. Bei allem Verständnis für den Nutzen für Kunden und das Unternehmen werden Mitarbeiter:innen eine schlüssige Antwort auf diese Frage erwarten. Schließlich sind sie es, die sich neue Methoden und Verhaltensweisen aneignen und dabei alte, lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben sollen.

Damit wird klar, dass es unerlässlich ist, solche Kennzahlen zu erheben und die Ergebnisse der Mitarbeiter:innen als Rückmeldung auf das eigene Tun zur Verfügung zu stellen. Die KCS-Methode ist ein Doppelschleifen-Prozess, der aus der Lösungsschleife (solve loop) und der Entwicklungsschleife (evolve loop) besteht. Während die erste Schleife auf die Effizienz in den operativen Prozessen der Mitarbeiter:innen abzielt, hat die letztere den Fokus auf die Effektivität der Handlungen. Diese misst sie anhand der oben angeführten Kennzahlen und gibt entsprechende Rückmeldungen an die Beteiligten im Unternehmen. Nur im Wechselspiel der beiden Schleifen besteht für Unternehmen die Chance, zur „lernenden Organisation“ zu werden (Altenfelder, 2019).

Bereits in Abschn. 2.2 wurde der notwendige starke Einbezug der Mitarbeiter:innen in die Gestaltung der Prozesse erwähnt. Auch im Projekt SerWiss hat sich gezeigt, dass die Akzeptanz zur Änderung leichter fällt, wenn sie verantwortlich mitgestaltet wird. Durch den Einbezug der Mitarbeiter:innen sind somit mehrere Vorteile verknüpft: Die entstehenden Prozesse sind praxisbezogen, alltagstauglich, effizient und werden von den Mitarbeiter:innen als ihr Werk angesehen und damit besser akzeptiert.

Um die gemeinsam entwickelten Prozessabläufe zielgerichtet umsetzen zu können, bedarf es interner KCS-Coaches, welche keine hierarchischen oder disziplinarischen Funktionen abdecken, jedoch den Kolleg:innen dabei helfen, besser in der Anwendung der KCS-Praktiken zu werden. Sie agieren als Change Agents, die stichprobenartig die Qualität der geschriebenen Artikel und die Einhaltung der Prozesse überprüfen und ihre Erkenntnisse als Lernhinweise an die anderen Mitarbeiter:innen zurückgeben. Die Change Agents sind allerdings nicht als Gatekeeper zu verstehen, welche die Inhalte der Wissensdatenbank kontrollieren oder selektieren, da das Generieren von kollektivem Wissen zu keinem Zeitpunkt behindert werden darf.

12.2.6 Relevanz des digitalen und strukturellen Reifegrads im Unternehmen

Zur Umsetzung von KCS bzw. Intelligent Swarming ist ein gewisser Reifegrad erforderlich, welcher sich einerseits im Digitalisierungsgrad und zum anderen in der Arbeitsteilung sowie Zusammenarbeits- und Führungskultur der Unternehmensorganisation ausdrückt.

KCS benötigt zur technischen Umsetzung ein vorhandenes System zur Vorgangsverfolgung (CRM-, Ticketsystem o. ä.) und eine Wissensdatenbank, die beide miteinander verknüpft, in Idealfall sogar ineinander integriert sind. Dies ergibt sich aus der Forderung, dass Wissensartikel mit den Vorgängen (auch Incidents, Cases oder Tickets genannt) verbunden werden sollen. Aus dieser Beziehung lassen sich dann Rückschlüsse auf den Wiedergebrauch und damit den Nutzen von Wissensartikeln ziehen („Dieser Artikel hat geholfen, X Kundenprobleme zu lösen“). Die Integration dieser beiden Systeme ist in manchen Software-Lösungen am Markt bereits gegeben, die sich allerdings vom Funktionsumfang, der zu beherrschenden Komplexität und letztlich auch vom Preis nicht an ein KMU richten.

Demzufolge müssen andere Lösungen entwickelt werden, die sich in der Regel aus den bereits im Unternehmen vorhandenen IT-Systemen modular zusammensetzen und unternehmensspezifisch angepasst werden. Die Beobachtung im Rahmen des Projekts ist, dass KMU in der Regel nicht über das dafür notwendige IT-Wissen verfügen und sich häufig auf externe Ressourcen stützen. Da auch aufseiten der IT-Dienstleister methodische Kompetenzen eher eine untergeordnete Rolle spielen, kann es hier sinnvoll sein, externe Beratung in Anspruch zu nehmen. Auch die Einführung von Intelligent Swarming stellt Anforderungen an IT-Kenntnisse. Wie auch bei KCS, wird für die Umsetzung von Intelligent Swarming eine Design Session notwendig, welche die Zielprozesse zunächst definiert und anschließend nach Möglichkeiten einer Übertragbarkeit in die Unternehmens-IT sucht. Benötigte Komponenten umfassen eine Lösung zur Beschreibung und automatischen Aktualisierung von Fähigkeitsprofilen der Mitarbeiter:innen. Im Zuge der Automatisierung des Matchmaking-Prozesses sind Kompetenzen im Bereich der „künstlichen Intelligenz“ erforderlichen, um Mitarbeiter:innen gemäß ihrer automatisch erkannten Fähigkeitsprofile zusammenzuführen.

Im Hinblick auf die Organisationsgröße und die damit verbundene Arbeitsteilung und Spezialisierung beobachten wir, dass erst größere Unternehmen durch die hierarchische Unterteilung („Silobildung“) überhaupt den Wunsch verspüren, mit einem Swarming-Ansatz wieder den Zustand herzustellen, den sie zuvor als kleinere Unternehmen hatten: Alle Mitarbeiter:innen kennen sich, wissen voneinander und können daher wissende Kolleg:innen relativ leicht identifizieren und unkompliziert ansprechen.

12.3 Digitale Werkzeuge für das Wissensmanagement im technischen Service

12.3.1 Die richtige Software zu der Methode finden

Zur Umsetzung einer wissenszentrierten Arbeitsgestaltung anhand der in Kap. 2 beschriebenen Methoden sind digitale Werkzeuge notwendig. Diese greifen unabhängig vom Digitalisierungsgrad eines Unternehmens in der Regel immer in die bestehende digitale Infrastruktur ein. Um Systembrüche, Redundanzen, analoge Prozesse und Insellösungen zu vermeiden, ist daher die Beurteilung der vorhanden digitalen Infrastruktur einer Unternehmung von zentraler Bedeutung (Ist-Analyse). Demnach muss ein neu zu beschaffendes digitales Werkzeug mit der gegenwärtigen digitalen Infrastruktur harmonieren, funktionieren oder diese in Teilen oder in Gänze ersetzen. Hierbei müssen vor allem die Gegebenheiten und Möglichkeiten bei einem KMU in Betracht gezogen werden (Organisationsgröße, Servicestruktur, allgemeine Software-Infrastruktur, Digitalisierungsgrad, Finanzkraft, Personalbedarf, usw.). Die Auswahl der Software-Systeme stellt häufig einen iterativen Prozess dar, da KMU im Sinne einer kosteneffizienten Betrachtungsweise den Standardfunktionalitäten der am Markt verfügbaren Software-Lösungen Vorrang vor kostenintensiven Individuallösungen geben müssen – auch auf die Gefahr hin, nicht allen Anforderungen mit der Standardsoftware gerecht werden zu können.

Hierfür muss im ersten Schritt eine Ist-Analyse zur bestehenden digitalen Infrastruktur durchgeführt werden. Es war zu erkennen, dass der digitale Reifegrad bei KMU in der Branche des Anlagen- und Maschinenbaus eher gering ist. Bisher dienen das Enterprise-Resource-Planning System (ERP) sowie meist Excel-Listen zur Speicherung relevanter Informationen. Serviceberichte werden nicht selten händisch ausgefüllt und anschließend als eingescanntes Dokument abgespeichert. Somit sind für die Servicearbeit wichtige Wissenselemente nicht nur in unterschiedlichen Software-Systemen vorhanden, sondern auch unübersichtlich und schwer auffindbar in lokalen Ordnerstrukturen abgelegt. Diese Art von Wissens- bzw. Dokumentenmanagement kann als KMU-typisch bezeichnet werden. Innerhalb des Projekts war es daher notwendig, eine ganzheitliche Digitalisierungsstrategie in Bezug auf den Serviceprozess zu entwickeln. Dabei sollte auch die Interaktion mit Kunden berücksichtigt und die technische Voraussetzung zur Nutzung einer gemeinsamen digitalen Maschinenakte und einer Wissensdatenbank geschaffen werden. Die in den Design Sessions erarbeiteten Soll-Prozesse dienen als Grundlage für die Software-Auswahl.

Nachfolgende Aspekte gilt es bei der Eingrenzung und Auswahl von Software-Systemen zu beachten:

  1. 1.

    Anforderungen der Wissensmanagement-Methoden an die Prozessgestaltung

  2. 2.

    Bedarfe und Anforderungen der Nutzer:innen (intuitive Bedienbarkeit, Darstellung von Inhalten, Verfügbarkeit für die mobile Nutzung etc.)

  3. 3.

    Kompatibilität der digitalen Werkzeuge untereinander und mit der bereits vorhandenen Infrastruktur

  4. 4.

    begrenzte kapazitative und monetäre Möglichkeiten von KMU

Folgende Software-Systeme waren im Projekt SerWiss für die Umsetzung der wissenszentrierten Arbeitsgestaltung von Bedeutung: Eine Field-Service-Management Software (FSM), eine Enterprise-Content-Management Software (ECM) und als Ergänzung für die besonderen Anforderungen des technischen Services eine AR-Remote-Service Anwendung.

Eine FSM-Software ermöglicht es, den gesamten Serviceprozess zu digitalisieren – von der Anfrage bis zur Lösung des Servicefalls. Dabei wird jeder Servicefall einer bestimmten Maschine zugeordnet, sodass jederzeit die aktuelle Maschinenhistorie nachvollzogen werden kann. Sie legt damit den Grundstein für die Erfassung von produktbezogenem Servicewissen. Die Software beinhaltet neben einem Ticketsystem, das bei der Erfassung und Verwaltung aller Kundenanfragen hilft, auch Funktionalitäten wie u. a. die Einsatzplanung, Disposition und Serviceberichterstellung. Teilweise sind auch Wissensmanagementlösungen in ein FSM integriert.

Eine ECM-Software legt den Fokus auf die Digitalisierung und Automatisierung des Dokumentenflusses in Unternehmen. Dokumente können damit jederzeit und überall verfügbar gemacht werden. Die im Rahmen von SerWiss ausgewählte ECM-Software bietet den Vorteil, dass produktspezifisches Wissen in einer digitalen Maschinenakte gebündelt und produktübergreifendes Wissen in einer im ECM integrierten Wissensdatenbank gesammelt werden kann. Mittels Schnittstelle zum FSM übernimmt das ECM folglich auch die Verwaltung aller relevanten Servicedokumente.

Eine AR-Remote-Service Anwendung erweist sich aufgrund der teils komplexen und vielfältigen Problemstellungen im Investitionsgüterservice als eine optimale Ergänzung für die Arbeitsgestaltung. Die Anwendung kann vom Hersteller eingesetzt werden, um eigene Servicetechniker:innen oder auch Instandhaltungspersonal des Kunden am Point-of-Service mit Expertenwissen zu unterstützen. Hierbei sind alle Beteiligten live per Audio und Video miteinander verbunden. Wird als Endgerät eine Datenbrille genutzt, hat die angeleitete Person die Hände für die Umsetzung der Arbeitsanweisungen frei. Die Anwendung sollte – falls nicht schon im Funktionsumfang des FSM enthalten – an das FSM-System angebunden sein, um Systembrüche zu vermeiden.

Bei der Software-seitigen Umsetzung der Referenzprozesse sind die Anwendungspartner von SerWiss ähnliche Wege gegangen, die nachfolgend aufgezeigt werden:

Weg 1: Serviceleitung als Treiber der Umsetzung

  • Die Entscheidung für eine FSM-Software fiel bereits früh im Projekt. Zum damaligen Stand bot das FSM zwar die Funktionalität einer digitalen Maschinenakte, allerdings noch kein vollumfängliches Wissensmanagement an. Der FSM-Anbieter befand sich jedoch bereits in Planung für ein Wissensmanagementsystem und ist an einer gemeinsamen Entwicklung interessiert. Eine Schnittstelle zum bestehenden ERP-System wurde hergestellt und bestehende Daten importiert.

  • Zusätzlich wurde eine AR-Remote-Service Anwendung eingeführt und an das FSM-System angebunden.

  • Die noch fehlende Anwendung für das Wissensmanagement wurde zunächst prototypisch mit einer kostengünstigen Software basierend auf einer low-code-Plattform aufgebaut. Es wurde bewusst diese Art von Plattform ausgewählt, da sie es ermöglicht hat, auch ohne Programmierkenntnisse in einfachen Schritten Anpassungen an der Oberfläche, dem Layout und der Bedienbarkeit durchzuführen. Änderungswünsche der Testnutzer:innen sollten umgehend umgesetzt werden können, um die Motivation zur gemeinsamen Entwicklung und Nutzung einer Wissensmanagement-Software im Team hoch zu halten. Mittels dieses Prototyps hat das Unternehmen unmittelbar nach Absolvieren der Design Sessions damit begonnen, zum Erlernen der KCS- und Intelligent Swarming-Methoden die theoretischen Inhalte in die Praxis umzusetzen. Für die betroffenen Mitarbeiter:innen war es sehr hilfreich, ein unmittelbares Gefühl für die sich ändernde Arbeitsgestaltung im technischen Service zu bekommen. Die prototypische Testumgebung hat vielen Beteiligten die Angst oder Abneigung gegenüber der sich verändernden digitalen Arbeitsweise nehmen können. Gleichzeitig konnten die Funktionalitäten der Software in Bezug auf KCS-Techniken oder z. B. der Content Standard für Wissensartikel getestet und verbessert werden. Diese Erfahrungen sind für die finale Software-Lösung wertvoll, die nach Möglichkeit gemeinsam mit dem FSM-Anbieter in der zukünftigen Software-Lösung umgesetzt werden sollen.

  • Die Fähigkeitsmatrix zur Umsetzung von Intelligent Swarming wurde einfach und praktisch mittels einer Excel-Tabelle mit verschiedenen Zugangsberechtigungen umgesetzt. Da sich das Unternehmen gerade im Übergang von einem kleinen zu einem mittelständischen Unternehmen befindet, kennen sich die Mitarbeiter:innen untereinander oft sehr gut und damit auch die jeweiligen Kompetenzen der anderen. Da das Unternehmen aber auf Wachstum ausgelegt ist, wurde der Vorteil dieser Methode für die Zukunft erkannt und bereits jetzt umgesetzt.

  • Der Entwicklungs- und Einarbeitungsprozess mit der Belegschaft in die neue Software-gestützte Arbeitsgestaltung erfolgte iterativ, integrierend und sehr transparent, was die Motivation hochhielt und zunehmend Begeisterung für die Veränderungen auslöste. Großer Vorteil für die Umsetzung waren der hohe persönliche Einsatz des Serviceleiters und der für alle spürbare Rückhalt der Geschäftsleitung. Die Prozessveränderungen wurden zu jeder Zeit offen mit allen Mitarbeiter:innen kommuniziert, was das Vertrauen begünstigte. Auch Kundenunternehmen wurden frühzeitig über anstehende Veränderungen im Serviceprozess informiert. Die Rückmeldungen zur neuen digitalen Servicearbeit waren durchweg positiv und damit eine Bestätigung für das Unternehmen, sich auf dem richtigen Weg zu befinden.

  • Die Ausweitung des Wissensmanagements auf andere Abteilungen soll schrittweise erfolgen und bei den Service-nahen Abteilungen beginnen (z. B. Software-Entwicklung, Konstruktion). Allerdings gibt es hier noch Bedarf, Lösungen für die Integrationsmöglichkeiten des vorgelagerten Leistungserstellungsprozesses zu finden. Dafür müsste das FSM-System auch bereits vor Auslieferung einer Anlage oder Maschine die Möglichkeit bieten, das Projekt im System anzulegen, um zugehörige Daten und Wissen abspeichern zu können.

Weg 2: Prozessmanagement als Treiber der Umsetzung

  • Die Software-Auswahl erfolgte in einem strukturieren Beschaffungsprozess. Nach der Ist-Analyse wurde im Detail der Soll-Prozess für die zukünftige Servicearbeit ausgearbeitet und mögliche digitale Werkzeuge mittels eines Marktscreenings identifiziert. Anschließend folgten eine Vorauswahl und eine Nutzwertanalyse. Die finale Entscheidung fiel auf eine Kombination aus FSM- und ECM-System, ergänzt um eine AR-Remote-Service Anwendung.

  • Der Unterschied besteht in diesem Fall darin, dass das FSM-System hier hauptsächlich zur Digitalisierung der Serviceprozesse und zur Bereitstellung von maschinen- und kundenrelevantem Servicewissen dient. Das Wissensmanagement erfolgt dagegen abteilungsübergreifend über das ECM-System. Beide Systeme sind über eine Schnittstelle miteinander verbunden. Ziel war es, alle am Leistungserstellungs- und Serviceprozess beteiligten Stakeholder in das abteilungsübergreifende Wissensmanagement einzubinden. Die Idee des wissenszentrierten Arbeitens wurde damit von Anfang an für die gesamte Organisation gedacht. Folglich können für das Wissensmanagement relevante Dokumente aus dem Leistungserstellungsprozess (z. B. Dokumentation, Stücklisten, CAD-Daten, usw.) bereits vor der Übergabe der Maschine an den Service im Workflow der entsprechenden Ersteller:innen (aus z. B. Konstruktion, Software-Entwicklung) der digitalen Maschinenakte zugeordnet werden.

  • Die Fähigkeitsmatrix zur Umsetzung von Intelligent Swarming konnte mittels des FSM-Systems umgesetzt werden und wurde zunächst für die Außendienstmitarbeiter:innen im Service erstellt, um bereits kurzfristig positive Effekte bei der Personaleinsatzplanung für Außeneinsätze erzielen zu können. Mitarbeiter:innen können zukünftig ihrer Qualifikation entsprechend besser eingesetzt und bedarfsgerechter weitergebildet werden.

  • Nicht nur der Beschaffungsprozess, sondern auch der Implementierungsprozess wurde strukturiert vom Prozessmanagement geleitet. Hierfür wurde neben einer Fokusgruppe im Service auch eine Fokusgruppe für das abteilungsübergreifende Wissensmanagement gebildet. Der weitreichende Implementierungsprozess stellt hohe Anforderungen an die beteiligten Mitarbeiter:innen und Führungskräfte. Die Einführung der einzelnen Software-Systeme stellt für viele Mitarbeiter:innen eine Neuerung im Arbeitsprozess dar und bedarf daher einer sorgfältigen methodischen Begleitung, um einer möglichen Überforderung frühzeitig entgegenzuwirken. Der unternehmensweite Wissensmanagement-Ansatz bietet großes Potenzial, ist allerdings für die gesamte Organisation mit hohem Aufwand und hohem Kommunikationsbedarf verbunden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es nicht den einen richtigen Weg für die Software-seitige Umsetzung der wissenszentrierten Arbeitsgestaltung auf Basis eines hybriden Ansatzes aus KCS und Intelligent Swarming gibt. Die Auswahl der geeigneten Software-Systeme ist stark abhängig von der Organisationsstruktur, der bereits vorhandenen digitalen Infrastruktur sowie den Bedarfen, Möglichkeiten und der Unternehmenskultur eines KMU.

Die Anwendungspartner erhoffen sich neben einer erheblichen Effizienzsteigerung im Service- und im Leistungserstellungsprozess auch eine Entlastung der am Serviceprozess beteiligten und stark belasteten Stakeholdergruppen. Zusätzlich erwartete Ziele sind u. a. eine humane Arbeitsgestaltung, die Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit und ein Rückgang der Fluktuation. In den nächsten Schritten planen beide Anwendungspartner mit der jeweils ausgewählten Software ein Kundenportal einzuführen und geeignete Geschäftsmodelle umzusetzen.

12.3.2 Prototyp: AI-Secretary

Eine der Grundvoraussetzungen für ein funktionierendes Wissensmanagement ist das Erfassen und Dokumentieren von Wissen zu dem Zeitpunkt, in dem das Wissen entsteht („capture in the workflow“). Jedoch stellt diese Voraussetzung häufig einen Konflikt zwischen der Notwendigkeit für den Prozess des Wissensmanagements und der vorhandenen Möglichkeiten während eines Serviceeinsatzes dar.

Gründe, warum Wissen nicht während eines Serviceeinsatzes „in the workflow“ festgehalten wird, können vielfältig sein:

  • keine Zeit, parallel zum Serviceeinsatz zu dokumentieren

  • keine Zeit, Handnotizen zu einem späteren Zeitpunkt in digitaler Form am PC zu erfassen

  • hohe Auslastung der Servicetechniker:innen

  • Nach Abschluss eines Servicefalls besteht keine Notwendigkeit, weitere Zeit in diesen Fall zu investieren, da diese Zeit vom Kunden nicht bezahlt wird.

  • Die Berichterstellung wird oftmals bis zum letztmöglichen Zeitpunkt aufgeschoben, sodass am Ende nur noch unvollständige Erinnerungen vorhanden sind.

  • Abläufe und Inhalte sind im Kopf der Servicetechniker:innen gefestigt, weshalb die Notwendigkeit, diese Informationen zu dokumentieren, nicht nahe liegt.

Eine im Projekt SerWiss konzipierte und prototypische Lösung für die knappe Ressource Zeit stellt eine persönliche Assistenz dar, welche zur Aufgabe hat, gesprochenes Wissen zu dokumentieren.

Diese Lösung, mit dem prototypischen Namen AI-Secretary, soll Servicetechniker:innen, Inbetriebnehmer:innen und Monteur:innen bei der Wissenserfassung in Serviceeinsätzen beim Kunden unterstützen. Zusätzlich lässt sich der AI-Secretary an Remote-Calls anbinden, wodurch auch besprochene Inhalte bei Fernwartungen dokumentiert werden können.

Der AI-Secretary basiert auf künstlicher Intelligenz und ermöglicht, das gesprochene Wort des Anwenders automatisch zu dokumentieren. Dies bedeutet, dass der AI-Secretary parallel zu einem Gespräch mit zwei oder mehreren Personen ein Gesprächsprotokoll, aber auch einen Monolog in Form eines Memos erstellen kann. Die Anwendung ist zudem in der Lage, verschiedene Stimmen, Sprachen und teils auch Dialekte zu verstehen und zu differenzieren. Der AI-Secretary deckt zwei mögliche Anwendungsfälle ab:

  1. 1.

    Transkribieren eines Remote-Call:

    • Der AI-Secretary wird als zusätzlicher Teilnehmer zu einem Remote-Call zwischen beispielsweise dem/r Servicetechniker/in und dem Kunden hinzugefügt.

    • Während des Gesprächs dokumentiert der AI-Secretary den gesamten Gesprächsverlauf inklusive der geteilten Inhalte, wie z. B. Fotos und Videos und hält somit das ausgetauschte Wissen über Probleme und Lösungen zum Servicefall fest.

  2. 2.

    Transkribieren eines Monologs:

    • Hierbei befindet sich der/die Nutzer/in in einem Remote-Call nur mit dem AI-Secretary, welcher dabei hilft, parallel zur durchgeführten Arbeit Informationen und Wissen zu dokumentieren.

    • Dies bedeutet, dass Nutzer:innen mittels eines mobilen Endgerätes während des Einsatzes am Point of Service schrittweise den Problem-Lösungsweg erfassen können und dieser vom AI-Secretary automatisch in einem Protokoll festgehalten wird.

In beiden Anwendungsszenarien ist die Verwendung des AI-Secretary über den Bereich des technischen Service hinaus im Unternehmen anwendbar.

Nachdem das Wissen zum Zeitpunkt der Entstehung durch die persönliche Assistenz transkribiert wurde, gilt es im finalen Schritt, dieses verschriftliche Wissen in Form von Protokollen, Serviceberichten oder Wissensartikeln einem Wissensmanagementsystem zuzuführen. Hierbei wurde im Projekt SerWiss entschieden, keine individuellen Anbindungen an einzelne Software-Lösungen zu programmieren, sondern benutzerfreundliche Exportfunktionalitäten zu entwickeln. Als Exportformate wurden allgemeingültige Formate, wie beispielsweise PDF, Word, HTML und XML gewählt, die einen Import in ein jeweiliges Wissensmanagementsystem ermöglichen.

12.3.3 Die richtige Hardware finden

Neben der Auswahl geeigneter Software gilt es auch, die richtigen Entscheidungen für die Integration der passenden Hardware zu treffen. Schließlich soll die Hardware im zukünftigen Prozess dafür sorgen, dass Servicemitarbeiter:innen in der optimierten Arbeitsgestaltung alle erforderlichen Informationen bei den Serviceeinsätzen einsehen, bearbeiten und neues Wissen ergänzen können. Insbesondere bei Serviceeinsätzen vor Ort beim Kunden ist es essentiell, dass Servicetechniker:innen möglichst beide Hände für die Bearbeitung und Lösung des Problems zur freien Verfügung hat. Dies stellt eine besondere Anforderung an die Hardware in Kombination mit einer entsprechenden Software-Lösung dar.

Im nachfolgenden werden einzelne Endgeräte für unterschiedliche Anwendungsszenarien betrachtet:

1. Remote-Bearbeitung des Servicefalls:

Erforderliches Endgerät stellt hier ein PC-Arbeitsplatz dar. Zusätzlich werden eine Webcam und ein Headset benötigt, um mit dem Kunden per Remote-Call verbal interagieren und zugleich die Umgebung sowie visuelle Anweisungen sehen zu können. Optional erhöht ein Tablet die Flexibilität, sich frei bewegen zu können, um z. B. dem Kunden Bauteile oder vergleichbare Anweisungen zu zeigen.

2. Serviceeinsatz vor Ort beim Kunden:

Bisher nutzten die Servicetechniker:innen der Anwendungspartner einen Laptop, mit welchem sie – meist abends nach Beendigung des Serviceeinsatze im Hotel – ihren Servicebericht verfassten.

Damit Servicetechniker:innen ohne Einschränkungen in der Bearbeitung des Servicefalls das dabei entstehende oder angewendete Wissen parallel zum Einsatz dokumentieren können, wurden für den Soll-Prozess diverse Anforderungen an Hardwarelösungen gestellt.

Die zukünftigen Endgeräte müssen mobil sein und eine eigene Internetverbindung per SIM-Karte bieten, um autark arbeiten zu können. Für den Fall, dass innerhalb der Fertigungshallen des Kunden kein mobiles Netz empfangen werden kann, sollte das Endgerät über eine WLAN-Funktion verfügen. Zudem müssen die Geräte über eine Kamera verfügen, welche qualitativ hochwertige Fotos und Videos aufnehmen kann, sowie ein Mikrofon für eine speech-to-text-Funktion, mit welcher die Inhalte für den Bericht diktiert werden können. Wichtig ist außerdem eine einfache und intuitive Bedienung, sodass Servicetechniker:innen mit nur wenigen Befehlen Serviceberichte erstellen können.

Die finale Betrachtung aller Anforderungen ergab, dass drei mögliche mobile Endgeräte mit einer Unterscheidung in der Bedienbarkeit und der Anschaffungskosten infrage kommen. Somit erfüllen sowohl Smartphones, Tablets und AR-Brillen mit der entsprechenden Software die Möglichkeit, den Anforderungen gerecht zu werden.

Nach einer ausführlichen Bewertung der Endgeräte (s. Abb. 12.2) gemeinsam mit den zukünftigen Nutzer:innen (z. B. Servicetechniker:innen, Inbetriebnehmer:innen), hat sich ergeben, dass ein Tablet für die zukünftige Arbeitsweise das favorisierte Endgerät darstellt. Die intuitive Bedienbarkeit wird als äußerst gut eingestuft, da das Tablet ähnlich wie das Smartphone auch häufig im privaten Kontext verwendet wird und die Mitarbeiter:innen aus diesem Grund meist keine Berührungsängste mit diesen Endgeräten haben, was die Implementierung des gesamten digitalen Serviceprozesses vereinfacht. Liegt der Fokus auf der digitalen Kommunikation, ist das Smartphone durch seine Handlichkeit und seine ständige Verfügbarkeit gut geeignet. Liegt der Fokus auf der Bedienbarkeit oder der Lesbarkeit von Inhalten, ist dagegen das Tablet mit einem größeren Display empfehlenswert. Eine AR-Brille als Hardwarelösung schneidet insbesondere bei der freihändigen Bedienbarkeit mit Abstand am besten ab, da dies einer der Alleinstellungsmerkmale des Endgerätes ist. Die Bedienbarkeit muss vorab erlernt werden, da diese nahezu ausschließlich per Sprachsteuerung funktioniert. Derzeit weisen AR-Brillen je nach Ausführung noch hohe Anschaffungskosten auf.

Abb. 12.2
figure 2

Matrix zur Anforderungserfüllung unterschiedlicher Endgeräte

Im Rahmen des Projekts SerWiss haben sich die Anwendungspartner auf Basis dieser Bewertung dazu entschieden, ihre Servicetechniker:innen mit Tablets auszustatten, um erste Erfahrungen im Umgang mit der neuen Arbeitsweise mit Wissensmanagement und der integrierten Software sammeln zu können. Zu einem späteren Zeitpunkt steigern AR-Brillen die Effizienz und den Komfort während der Bearbeitung von Servicefällen zusätzlich, da Servicetechniker:innen beide Hände zur freien Verfügung haben. Voraussetzung ist jedoch die Schulung in der Bedienung, sodass die Nutzung von AR-Brillen routiniert während der Arbeit erfolgen kann.

Innerhalb eines AR-Brillentests wurden mit den Anwendungspartnern vier AR-Brillen unterschiedlicher Modelle und Hersteller in einem simulierten Remote-Call getestet. Als Zielgruppe für die Tests wurden sowohl die Projektverantwortlichen des jeweiligen Anwendungspartners als auch die Servicetechniker:innen ausgewählt, um Entscheider:innen und Nutzer:innen gleichermaßen zu berücksichtigen.

Die nachfolgende Übersicht zeigt auf, wie die jeweiligen AR-Brillen in verschiedenen Kriterien bewertet wurden (s. Abb. 12.3):

Abb. 12.3
figure 3

AR-Brillentest

Zur Repräsentativität des AR-Brillentests bleibt festzuhalten, dass an den Tests nur eine sehr kleine Personengruppe beteiligt war. Der Test sollte im Projekt dazu dienen, einen ersten Eindruck zu gewinnen, wie die Reaktionen von am Serviceprozess beteiligten Personen ohne Vorerfahrung mit AR-Brillen ausfallen.

Im Test schnitt die Microsoft HoloLens 2 zusammen mit der RealWear HMT1 insgesamt sehr gut ab, gefolgt von dem Nachfolgermodell RealWear Navigator 500. Dabei überzeugte die HoloLens 2 vor allem mit einer Vielzahl von integrierten Funktionen, die Modelle von RealWear vor allem mit ihrer intuitiven Handhabung und ihrer hohen Industrietauglichkeit. Die AR-Brille Vuzix M400 konnte dagegen aufgrund ihrer filigranen und wenig industrietauglichen Bauweise sowie einer wenig intuitiven Bedienbarkeit die Testgruppe nicht überzeugen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insbesondere die intuitive Bedienbarkeit, die Industrietauglichkeit und der Beschaffungspreis sehr wichtige Entscheidungskriterien für die Anwendungspartner darstellen.

12.4 Wissensbasierte Geschäftsmodelle

12.4.1 Die Rolle von Wissen in Geschäftsmodellen

Ein Geschäftsmodell beschreibt die Grundlogik eines Unternehmens, indem es verdeutlicht, wie welcher Nutzen für Kunden und Partner geschaffen wird (Schallmo, 2014). Nach Gassmann et al. (2020) können vier Dimensionen eines Geschäftsmodells unterschieden werden (s. Abb. 12.4). Der/die Kund/in steht im Zentrum eines jeden Geschäftsmodells. Diese Dimension legt fest, an welche Zielkund:innen sich das Nutzenversprechen richtet („Wer?“). Das Nutzenversprechen beschreibt in der zweiten Dimension sämtliche Leistungen eines Unternehmens (Produkte und Dienstleistungen), die den Zielkund:innen angeboten werden und ihre Bedürfnisse erfüllen („Was?“). Zudem berücksichtigt ein Geschäftsmodell als dritte Dimension die Wertschöpfungskette und beschreibt, welche Aktivitäten durchgeführt und welche Ressourcen dafür benötigt werden, um das Nutzenversprechen zu erzeugen („Wie?“). Die Ertragsmechanik befasst sich mit der zentralen Frage nach der Wertgenerierung („Wert?“). In dieser vierten Dimension wird beschrieben, wie unter Berücksichtigung der Kosten Gewinne mit dem Geschäftsmodell generiert werden sollen.

Abb. 12.4
figure 4

Dimensionen eines Geschäftsmodells (Gassmann et al., 2020)

Das traditionelle Geschäftsmodell von produzierenden Unternehmen konzentriert sich häufig auf den Produktverkauf. Ihr Nutzenversprechen liegt in der Entwicklung und Fertigung von Produkten, die dann an ihre Kundenunternehmen abgesetzt werden (Kohtamäki et al., 2020). In vielen Branchen werden inzwischen Produkte mit – häufig digitalen – Dienstleistungen zu Lösungen integriert (Sjödin et al., 2016). Solche Lösungen beinhalten Produkt-, Dienstleistungs- und Software-Komponenten mit dem Ziel, für die Kunden den größtmöglichen Nutzen zu erzielen. Beispielsweise können zusätzlich zum Maschinenverkauf Wartungs-, Schulungs- oder Beratungsdienstleistungen angeboten werden, um den Nutzen der Maschine in den Wertschöpfungsprozessen der Kunden zu erhöhen (z. B. durch geringere Ausfallzeiten). Entsprechende produktbegleitende Dienstleistungen werden häufig auch als wissensbasierte Dienstleistungen bezeichnet, da sie meist komplexe Handlungen erfordern und in hohem Maße von dem Fachwissen und der Erfahrung von Expert:innen abhängig sind (Muller & Doloreux, 2007). Mit Blick auf das Geschäftsmodell ist Wissen daher eine Ressource, die einen Maschinenhersteller dazu befähigt, seinen Kundenunternehmen nutzenstiftende Dienstleistungen und Lösungen anzubieten.

Durch neue Technologien und Software-Lösungen kann Wissen heutzutage in Datenbanken gespeichert und unternehmensweit – und auch gegenüber Kundenunternehmen – in digitaler Form verfügbar gemacht werden. Dies ermöglicht es Unternehmen, Wissen nicht mehr nur als Ressource in wissensbasierten Dienstleistungen umzusetzen, sondern ihren Kunden den Zugang zu Wissen als eigenständiges Nutzenversprechen anzubieten. Der Wandel von Wissen als Ressource für die Dienstleistungserbringung zu einem eigenständigen Nutzenversprechen ermöglicht es Unternehmen, neue wissensbasierte Lösungen und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Beispielsweise wird einem Kundenunternehmen zusätzlich zu einer Maschine der Zugang zu der Wissensdatenbank des Maschinenherstellers angeboten, wodurch er Zugriff auf Wartungs- und Reparaturanleitungen hat. Der/die Instandhaltungsmitarbeiter/in des Kunden kann das explizite Wissen aus der Wissensdatenbank des Maschinenherstellers mit seinem/ihrem impliziten Wissen verknüpfen und in kurzer Zeit selbstständig Maschinenfehler beheben oder diese bedarfsgerecht warten.

12.4.2 Wissensbasierte Geschäftsmodelle in der Praxis

Es lässt sich annehmen, dass ein Großteil aller Geschäftsmodellinnovationen nicht gänzlich neu, sondern vielmehr eine Rekombination aus Bausteinen bereits existierender Geschäftsmodelle ist (Gassmann et al., 2020). Insofern erscheint es auch für die Entwicklung neuer wissensbasierter Geschäftsmodelle sinnvoll zu analysieren, wie andere Unternehmen und Branchen ihr Wissen für wissensbasierte Lösungen und Geschäftsmodelle einsetzen. Im Rahmen des Projekts SerWiss wurde daher eine Taxonomie für wissensbasierte Geschäftsmodelle entwickelt. Mithilfe der Taxonomie können bestehende wissensbasierte Geschäftsmodelle analysiert und neue entwickelt werden. Die Taxonomie zeigt als morphologischer Kasten den Gestaltungsraum auf, den Praktiker:innen bei der Entwicklung neuer wissensbasierter Geschäftsmodelle berücksichtigen können.

Zur Bildung der Taxonomie wurden insgesamt 185 wissensbasierte Lösungen von 22 Unternehmen aus der Software- (z. B. SAP, Microsoft, Salesforce, Adobe, IBM) und der Maschinenbaubranche (z. B. Trumpf, KUKA, Homag, Heidelberg) analysiert. Die daraus abgeleitete Taxonomie besteht aus elf detaillierteren Dimensionen und 31 Merkmalen (s. Abb. 12.5) von wissensbasierten Geschäftsmodellen. Die Merkmale einer Dimension sind nicht exklusiv, d. h. jeder Dimension können mehrere Merkmale zugeordnet werden. Die identifizierten Dimensionen wurden den Geschäftsmodelldimensionen nach Gassmann et al. (2020) zugeordnet, die in Abb. 12.5 als Metadimensionen bezeichnet sind. Für die Metadimension „Zielkunde“ ergaben sich keine sinnvollen Dimensionen und Merkmalsausprägungen, da Informationen zu Kundenprofilen und -segmentierungen von den untersuchten Unternehmen der beiden Branchen im Gegensatz zu Leistungsbeschreibungen und Erlösmodellen in der Regel nicht öffentlich zugänglich sind. Aufgrund des Fokus im Projekt SerWiss adressieren die analysierten Unternehmen mit ihren wissensbasierten Lösungen jedoch ausschließlich den Geschäftskundenbereich (Business-to-Business).

Abb. 12.5
figure 5

Taxonomie wissensbasierter Geschäftsmodelle

Das Nutzenversprechen als Metadimension lässt sich in vier Dimensionen differenzieren. Das Wertangebot beschreibt, inwiefern Wissen entweder als Dienstleistung angeboten und vom Anbieter selbst angewendet wird (Wissensanwendung), ob es an das Kundenunternehmen transferiert wird, z. B. in Form von Handbüchern und How-to-Videos (Wissenstransfer), oder ob es in Produkten und Software verkörpert ist, z. B. Software-Updates. Die Wissensdomäne markiert den Fachbereich, aus dem das Wissen stammt bzw. den Zweck, für den es eingesetzt wird, d. h. Beratung, Wartung, Schulung oder Support. Beratung betrifft in der Regel die Optimierung der Anwendung des Kernproduktes/-Software in der Kundenumgebung, z. B. die Optimierung der Maschinenverfügbarkeit bzw. Overall Equipment Effectiveness (OEE). Schulung hat zum Ziel, den Kunden in der Bedienung des Kernprodukts bzw. der Software zu qualifizieren. Je nach Kenntnisstand des Kunden reicht das Schulungsangebot von Onboarding und dem Lernen erster Schritte bis hin zur Vermittlung von Expertenwissen und Detailanwendungen. Wartung beschreibt ein regelmäßig auftretendes Ereignis, welches die Funktionsfähigkeit des Produktes bzw. der Software über die Lebenszeit erhalten soll, z. B. Maschineninspektionen und -instandhaltung oder Software-Updates. Während Wartungen in regelmäßigen zeitlichen Abständen auftreten, bezieht sich Support auf die ad-hoc Hilfe und schnelle Fehlerbehebung wie im Fall von Problemen und Maschinenstillständen. Der Wissenstyp beschreibt, inwiefern das Wissen, welches ausgetauscht oder angewendet wird, implizit oder explizit ist. Oftmals treten implizites und explizites Wissen innerhalb eines Angebots gemeinsam auf und können nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Das Wissensniveau drückt aus, ob das ausgetauschte Wissen eher grundlegend ist und die/den Anwender/in zu simplen Handlungen befähigt oder ob es sich um Expertenwissen handelt, sodass anspruchsvolle Handlungen ausgeführt werden können, wie z. B. die Lösung komplexer Probleme.

Für die Metadimension Wertschöpfungskette sind die Dimensionen Wissensursprung, -basis und -vermittler sowie Wissenskanal und -transfer relevant. Der Wissensursprung kann unternehmensintern (z. B. bei den Mitarbeiter:innen) liegen oder extern, wenn beispielsweise Kunden in einer Community interagieren und ihr Wissen untereinander teilen. Die Wissensdatenbank markiert den Speicherort des Wissens. Sie kann individuell im Kopf eines Menschen liegen (Individuum), in einer organisationalen digitalen Wissensdatenbank oder in einer Community, z. B. in einem Forum auf der Firmenhomepage. Die Wissensvermittler:innen greifen auf die Wissensdatenbank zu, um die richtigen Inhalte zu extrahieren und sind entweder ein Mensch, z. B. eine Support-Mitarbeiterin, oder eine Technologie, wie z. B. ein Chatbot oder eine andere Form der künstlichen Intelligenz (KI). Das Wissen fließt entweder über einen physischen Wissenskanal wie die Person, die eine Dienstleistung ausführt, über ein schriftliches Handbuch, oder über einen digitalen Kanal wie z. B. ein How-to-Video. Der Wissenstransfer erfolgt durch direkte Kommunikation, durch Informationen, z. B. Dokumente, Präsentationen und Videos, oder durch das Erleben und Nachahmen einer Handlung. In einigen Fällen wird kein Wissen übertragen, z. B. bei regelmäßigen Wartungen oder Software-Updates, bei denen das Wissen auf das Kernprodukt bzw. die Software angewendet wird, ohne dass das Kundenunternehmen eine Lernerfahrung macht.

Bei der Metadimension Ertragsmechanik wird zwischen den beiden Dimensionen Ertragsquelle und Ertragsmodell unterschieden. Als Ertragsquelle kann das Angebot auf die Generierung von Erlösen oder auf Kosteneinsparung ausgerichtet sein. Neben diesen beiden monetären Aspekten kann das Angebot auch darauf abzielen, zusätzliches Wissen für das Unternehmen zu generieren, z. B. durch die Interaktion mit und von Kund:innen in einer Community. Darüber hinaus kann Wert geschaffen werden, z. B. durch die Steigerung der Kundenzufriedenheit oder das Schaffen von Cross- und Up-Selling-Potenzialen. Als Ertragsmodell werden von den Unternehmen transaktionale, abonnementbasierte oder kostenfreie Modelle angeboten.

Die Taxonomie lässt sich zur Analyse von wissensbasierten Geschäftsmodells anwenden, wie das nachfolgende Beispiel von KUKA Xpert (KUKA, 2022) demonstriert. KUKA ist ein globaler Anbieter von intelligenten Automatisierungslösungen. Das Leistungsangebot umfasst Industrieroboter, Produktionszellen und weitere automatisierte Systeme für diverse Industriezweige, wie z. B. Automotive, Elektronik oder Pharma. Das Unternehmen bündelt seine Produkte mit verschiedenen wissensbasierten Dienstleistungen, wie z. B. Vor-Ort-Support, 24/7-Hotline, Mitarbeiterschulungen und Maschinenüberholungen. Mit Xpert hat KUKA eine wissensbasierte Lösung eingeführt, die neu für die Branche ist. Xpert ist eine Wissensplattform, auf der KUKA Informationen und Wissen zur Verfügung stellt, sodass die Kundenunternehmen bestimmte Handlungen wie Programmierungen und Problemlösungen selbstständig ausführen können. KUKA bietet eine kostenlose Version von Xpert unter dem Namen Xpert Basic sowie eine kostenpflichtige Vollversion an. Xpert Basic bietet gegenüber der Vollversion einen eingeschränkten Funktionsumfang und stellt im Wesentlichen Informationen und einfaches Wissen bereit. Beide Versionen von Xpert sind eigenständige Angebote und können separat mit der Taxonomie analysiert werden. Im Folgenden wird die kostenpflichtige Vollversion von Xpert betrachtet (s. Abb. 12.6).

Abb. 12.6
figure 6

Einordnung von KUKA Xpert in die Taxonomie wissensbasierter Geschäftsmodelle

Xpert transferiert über eine digitale Plattform explizites Wissen an die Kundenunternehmen, welches den Wissensdomänen Schulung (z. B. Bedienungs- und Programmieranleitungen) und Support (z. B. Problem-Lösungs-Datenbank) zugeordnet werden kann. In der kostenpflichtigen Vollversion von Xpert wird das in der Xpert Basic Version bereitgestellte Grundlagenwissen um anspruchsvolles Expertenwissen erweitert. Durch das Bereitstellen von Inhalten wie der Problem-Lösungs-Datenbank oder Codeschnipseln werden die Kunden dazu befähigt, selbstständig komplexe Hard- und Software-Probleme zu lösen. Der Wissensursprung liegt intern bei den Produktexpert:innen und technischen Autor:innen von KUKA, die das Wissen zusammenstellen, aufbereiten und aktuell halten. Dieses wird dann in Form von Wissensartikeln (siehe Abschn. 2.4) in der Wissensdatenbank des Unternehmens gespeichert und den Kundenunternehmen zugänglich gemacht. Der Zugriff auf die Wissensdatenbank erfolgt selbstständig durch Mitarbeiter:innen des Kunden über eine Suchfunktion in der digitalen Plattform. Der Wissenstransfer erfolgt somit in Form von Informationen wie z. B. digitale Montage- und Bedienungsanleitungen sowie dem Erleben durch interaktive Inhalte und dem eigenständigen Anwenden des bereitgestellten Wissens. Xpert generiert kontinuierlich Erlöse für KUKA, die durch ein Abonnementmodell in Form von monatlichen Zahlungen realisiert werden. Mithilfe von Xpert vermeidet KUKA zudem, dass das Unternehmen bei jeder Problemlösung aktiv werden müssen, z. B. über die 24/7-Hotline oder den Vor-Ort-Service, und spart dadurch Personal- und Reisekosten.

Branchenvergleich Software und Maschinenbau

Neben der Bildung der Taxonomie ermöglichte die Analyse der 185 wissensbasierten Lösungen aus den 22 Unternehmen einen Vergleich zwischen den Branchen Software und Maschinenbau in Bezug auf deren Umgang mit Wissen in Lösungen und Geschäftsmodellen. Bei der Analyse konnten branchentypische Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf den Umgang mit Wissen in wissensbasierten Geschäftsmodellen herausgearbeitet werden, die im Folgenden aufgezeigt werden.

Software-Unternehmen nutzen im Wesentlichen digitale Kanäle und Informationssysteme, um ihre Kund:innen zu erreichen. Alle analysierten Software-Unternehmen bieten eine Wissensdatenbank an, auf die ihre Kund:innen über die Unternehmenswebsite zugreifen können. Der Aufbau und Betrieb dieser organisationalen Wissensdatenbank beruht auf einem systematischen Wissensmanagementprozess (siehe Abschn. 2.4). In der Wissensdatenbank werden explizite Wissensinhalte in Form von Informationen, Dokumentationen, Beispielen, Videos und Problemlösungsvorschlägen zur Verfügung gestellt, welche die Kund:innen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen oder sich eigenständig zu schulen. Software-Unternehmen integrieren ihre eigenen Fähigkeiten und Ressourcen gezielt mit denen ihrer Kund:innen, um gemeinsam möglichst effektiv und effizient Wert zu generieren. Bei einem Kundenproblem kann der Wert darin liegen, dass der/die Kund/in das Problem lösen kann (Effektivität), ohne dass der Anbieter ad-hoc personelle Ressourcen aufwenden muss (Effizienz). Darüber hinaus betreiben die meisten Software-Unternehmen Anwender-Communities in Form von Foren, in denen externe Nutzer:innen interagieren und sich gegenseitig helfen können. Über Gamification-Elemente, wie z. B. Punkte oder Ränge werden die Nutzer:innen für das Helfen und Lösen von Problemen möglicherweise sogar belohnt und erlangen Reputation innerhalb der Community. Dadurch werden die Nutzer:innen dazu angeregt, ihr Wissen zu teilen, wodurch die Software-Unternehmen aufgrund ihrer Kundenbasis zusätzlich von Netzwerk- und Skaleneffekten profitieren können. Diese Angebote sind in der Regel kostenlos oder in Software- und Serviceabonnements integriert, die z. B. über eine monatliche Gebühr abgerechnet werden. Für bestimmte Dienstleistungen, die ein besonderes Expertenwissen erfordern, wie z. B. Optimierungen, persönlicher Support und Expertenschulungen, müssen die Software-Unternehmen Spezialist:innen bereitstellen, die über dieses Expertenwissen verfügen. Für diese personengebundenen Dienstleistungen und die damit verbundenen Personalkosten müssen die Kund:innen in der Regel gesondert aufkommen. Dabei werden Beratungs- und Schulungsleistungen zumeist klassisch transaktional abgerechnet. Erweiterte Support- und Wartungsleistungen werden hingegen in Abonnements gebündelt, in welchen beispielsweise ein direkter Zugang zu z. B. technischen Servicemitarbeiter:innen gewährleistet wird.

Investitionsgüterhersteller hingegen setzen häufig noch auf reaktive und wenig automatisierte Dienstleistungen, insbesondere in Bezug auf Wartung und Support. Die vorherrschende Branchenlogik ist nach wie vor, dass diese Dienstleistungen vom Anbieter erbracht und auf transaktionaler Basis abgerechnet werden. Dies zeigt sich auch bei den im Projekt SerWiss mitwirkenden Anwendungspartnern. Einige der großen Unternehmen wie KUKA, Voith Hydro und Phoenix Contact bieten aber bereits Serviceverträge an, in denen zusätzliche Leistungen wie Remote-Support, Condition Monitoring und 24/7-Hotline gebündelt monatlich abgerechnet werden (Abonnement). Im Vergleich zu Software-Unternehmen nutzen die Hersteller jedoch weniger häufig digitale Kanäle, um explizite Wissensinhalte bereitzustellen. Hier werden hauptsächlich digitale Handbücher und Maschineninformationen sowie erste einfache Problemlösungen angeboten. Hingegen nutzen Investitionsgüterhersteller digitale Kanäle inzwischen verstärkt, um eine direkte Verbindung vom Kunden zum/r Expert/in und dem impliziten Wissen herzustellen, wie z. B. im Fall des Remote-Support Services von Heidelberg oder Homag. Expert:innen leiten z. B. einen Kundenmitarbeiter aus der Ferne an, um das Problem zu identifizieren und falls möglich zu lösen. Einige Investitionsgüterhersteller verfügen über eine organisationale Wissensdatenbank, die sich jedoch zumeist auf den unternehmensinternen Gebrauch beschränkt und nicht für Kundenunternehmen zugänglich ist. Trumpf beispielsweise nutzt eine Wissensdatenbank, um alle Außendiensttechniker:innen mit den notwendigen Informationen auszustatten, um ein Kundenproblem möglichst effektiv und effizient lösen zu können. Communities, wie sie in der Software-Branche die Regel sind, werden in der Investitionsgüterindustrie noch nicht genutzt. Alle Investitionsgüterhersteller bieten Beratungs- und Schulungsleistungen an. In fast allen Fällen erfordern sie personelle Ressourcen und werden auf transaktionaler Basis abgerechnet. Eine Tendenz ist jedoch im Bereich der Schulungen zu erkennen. Hier bieten vier der betrachteten Unternehmen ihren Kundenunternehmen eine Wissensdatenbank zu Schulungszwecken sowie Selbstlernkurse an. KUKA hat beispielsweise seit kurzem einen Virtual-Reality-Selbstlernkurs für seine Kunden im Angebot (Pratticò & Lamberti, 2021).

12.4.3 Anforderungen an wissensbasierte Geschäftsmodelle

Eine partnerschaftliche Wertschöpfung von Anbietern und Kunden durch wissensbasierte Geschäftsmodelle zu initiieren, erfordert ein dezidiertes Verständnis der Situation und der Anforderungen der Zielkunden. Daher wurden im Rahmen des Projekts SerWiss Interviews mit insgesamt sechs Kundenunternehmen der Anwendungspartner geführt, um deren Anforderungen, insbesondere aus dem Bereich der Instandhaltung, an wissensbasierte Lösungen und Geschäftsmodellen in Erfahrung zu bringen. Die befragten Kundenunternehmen sind Zulieferer und OEM aus der Automobilindustrie. Sie betreiben international mehrere Produktionsstandorte, u. a. in Ost-Europa, Latein-Amerika und Asien. An den Standorten produzieren sie Teile und Komponenten für die Automobilproduktion in Serienfertigung. Zur Aufrechterhaltung der Produktion verfügen die Kunden an jedem Standort über eigenes Instandhaltungspersonal, teilweise weit über 100 Personen.

Sobald Fehler in der Produktion auftreten, z. B. eine Maschine ausfällt, sind die Kundenunternehmen bestrebt, diese Fehler schnellstmöglich zu beheben, da Maschinenstillstände in der Serienproduktion schnell hohe Ausfallkosten verursachen. Dazu versuchen sie in erster Instanz auf der Grundlage ihres eigenen Erfahrungswissens und den Informationen aus den vom Maschinenhersteller mitgelieferten Dokumenten (Maschinenakte) zu agieren. Führt dieses Vorgehen nicht innerhalb weniger Stunden zum Erfolg, nehmen sie Kontakt zu dem Maschinenhersteller auf. Dieser Weg führt meist klassisch über das Telefon und wird im weiteren Verlauf durch das Austauschen von Foto- und Videoaufnahmen ergänzt. Die Kommunikation verläuft in der Regel über E-Mail oder über private Messenger-Dienste. Letzteres ist seitens der Unternehmensrichtlinien in der Regel nicht gestattet. Trotzdem sind diese Messenger-Dienste aktuell aus Nutzersicht häufig das praktikabelste Mittel, um sich schnell und unkompliziert mit den richtigen Ansprechpartner:innen des Maschinenherstellers auszutauschen und relevante Dateien (Dokumente, Fotos, Videos, etc.) zu teilen. Zudem bieten Messenger-Dienste die Möglichkeit, Videoanrufe zu tätigen und damit die Fehlersuche zu beschleunigen.

Es ergibt sich in der Folge zumeist eine der beiden Situationen:

  1. 1.

    Der Maschinenhersteller kann das Problem aus der Ferne lösen, z. B. indem er Remote-Zugang zur Maschinensteuerung erhält oder Instandhalter:innen bei der eigenständigen Lösung des Problems anleitet.

  2. 2.

    Der Maschinenhersteller kann das Problem nicht aus der Ferne lösen. Dann wird die Planung eines Serviceeinsatzes ausgelöst, ein/e Servicetechniker/in reist zum Standort des Kunden und behebt das Problem vor Ort.

Situation 1 ist sowohl für das Kundenunternehmen als auch für den Maschinenhersteller der präferierte Fall. Das Problem wird schnell und effizient behoben. Problematisch für den Maschinenhersteller ist dabei, dass dieser Fall zumeist nicht erlöswirksam ist. Serviceleistungen werden vom Kunden in der Regel erst bezahlt, wenn ein/e Servicetechniker/in vor Ort war. Fälle, die vom Maschinenhersteller aus der Ferne gelöst werden können, z. B. via Remote-Support, werden daher oft nicht als Serviceeinsatz erfasst, dokumentiert und damit auch nicht entlohnt. Dies gilt es durch die Entwicklung und Anwendung neuer Geschäftsmodelle zu lösen.

Bei der Entwicklung dieser Geschäftsmodelle – und insbesondere bei der Gestaltung der Ertragsmechanik – muss die Einkaufskultur der Zielkunden berücksichtigt werden. Alle befragten Kundenunternehmen verfügen über eigene Einkaufsabteilungen, die Beschaffungen über standardisierte Einkaufsprozesse abwickeln. Diese verlaufen meist so, dass ein Kunde mehrere (strategische) Zulieferunternehmen für eine Maschine anfragt und ein Lastenheft ausgibt. Auf Grundlage des Lastenhefts erstellen die Maschinenhersteller ein Angebot. Die Einkäufer:innen vergleichen die Angebote und entscheiden sich für einen Maschinenhersteller. Hierbei ist das entscheidende Kriterium nach wie vor der Anlagenpreis. Langjährige Zusammenarbeit, Zuverlässigkeit und das Angebot von wertsteigernden Dienstleistungen werden bei der Bewertung zwar berücksichtigt, spielen aber gegenüber dem Anlagenpreis eine untergeordnete Rolle. Eine Bewertung der Maschinen hinsichtlich ihrer Lebenszykluskosten bzw. „Total Costs of Ownership“ (TCO), d. h. der Kosten, die über den Lebenszyklus einer Maschine (häufig 20 Jahre und länger) anfallen, sieht der Einkaufsprozess bei keinem der befragten Kunden vor. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, dass Wartungs- und Serviceverträge von den Einkaufsabteilungen nur selten wahrgenommen werden. Ein Kundenunternehmen gab an, dass die Unternehmensrichtlinien einen Abschluss solcher Verträge nicht zulassen. Das Hauptdifferenzierungsmerkmal der Maschinenhersteller ist daher nach wie vor der Anlagenpreis. Dies gilt es bei der Entwicklung neuer wissensbasierter Lösungen und Geschäftsmodelle zu berücksichtigen. Geschäftsmodelle müssen folglich so gestaltet werden, dass sie den initialen Anlagenpreis nicht erhöhen, damit sie bei einem Angebotsvergleich im Beschaffungsprozess der Kunden nicht ausscheiden.

Ein weiterer kritischer Punkt, der aus den Interviews hervorging und die Gestaltung der neuen Services und Geschäftsmodelle beeinflusst, ist das Thema Datenschutz, insbesondere in Bezug auf personenbezogene Daten sowie Produktions- und Betriebsgeheimnisse. Fotos und Videos dürfen häufig nur von Mitarbeiter:innen der Kunden, z. B. eigenes Instandhaltungspersonal, aufgenommen werden und ausschließlich die Maschine des Herstellers zeigen. Der sich angliedernde Produktionsprozess, Produkte oder Personen dürfen dagegen nicht zu sehen sein. Dies ist in den Firmenrichtlinien explizit festgelegt, um Wirtschaftsspionage, dem Verlust von Betriebsgeheimnissen (Intellectual Property, IP) vorzubeugen und Persönlichkeitsrechte von Mitarbeiter:innen zu schützen.

Neben dem Datenschutz stellt die Netzwerkverbindung an den Standorten der Kunden eine weitere nicht unerhebliche Herausforderung dar. Externes Personal, wie z. B. Servicetechniker:innen des Maschinenherstellers, können sich mit ihren Endgeräten in der Regel nicht oder nur mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand in das Netzwerk des Kunden einwählen. Internetzugang am Standort des Kunden ist meist nur über die eigene mobile Datenverbindung der Endgeräte möglich.

12.4.4 Umsetzung wissensbasierter Geschäftsmodelle in KMU

Ausgehend von den identifizierten Kundenanforderungen und den analysierten Geschäftsmodellen aus der Praxis wurden im Projekt SerWiss wissensbasierte Geschäftsmodelle für KMU entwickelt. Diese Geschäftsmodelle werden bei den Anwendungspartnern in zwei Stufen umgesetzt (s. Abb. 12.4).

1. Unternehmensinterne Umsetzung:

Die erste Stufe beschreibt die unternehmensinterne Umsetzung in Bezug auf die eigene Wertschöpfungskette, d. h. Wissen wird als Unternehmensressource verstanden, die durch eine systematische Verankerung in den Unternehmensaktivitäten (insbesondere in den Arbeitsprozessen der Mitarbeiter:innen) kontinuierlich aufgebaut wird. Das Wissen wird in den Arbeitsprozessen erfasst, in der Unternehmenswissensdatenbank gespeichert und hierüber unternehmensintern verfügbar gemacht (wissenszentrierte Arbeitsgestaltung, siehe Kap. 2). Die Mitarbeiter:innen im technischen Service werden zudem mit mobilen Endgeräten ausgestattet, um flexibel auf diese Wissensdatenbank zugreifen zu können. Durch diese zunächst interne Umsetzung werden Effizienzpotenziale gehoben, z. B. durch die bessere Vorbereitung von Serviceeinsätzen und die bessere Verfügbarkeit von Informationen und Wissen beim Kunden vor Ort. Servicefälle werden so schneller abgeschlossen und das Erfahrungswissen der Mitarbeiter:innen in der organisationsweiten Wissensdatenbank der Anwendungspartner verstetigt. Dem Wissensverlust durch Mitarbeiterabwanderung bzw. Ausscheiden wird somit vorgebeugt. Für die interne Umsetzung bedarf es der unternehmensweiten Implementierung einer geeigneten IT-Infrastruktur, die eine wissenszentrierte Arbeitsgestaltung ermöglicht sowie einer abteilungsübergreifenden Transformation von Arbeitsprozessen und -kultur. Hierbei handelt es sich insbesondere für KMU um große und weitreichende Veränderungen, die Mitarbeiterressourcen und vor allem Zeit kosten, aber auch eine wichtige Grundlage für darauf aufbauende Geschäftsmodellveränderungen zum Kunden darstellen. Aus diesem Grund haben sich die Anwendungspartner im Rahmen des Projekts SerWiss auf die interne Umsetzung bzw. die Veränderung der Wertschöpfungskette fokussiert. Eine kundenwirksame Umsetzung von Wissen als direktes Wertangebot gegenüber Kundenunternehmen ist für die Zeit nach Projektende in einer zweiten Stufe geplant.

2. Kundenwirksame Umsetzung:

Die zweite Stufe beschreibt die kundenwirksame Umsetzung in Form von wissensbasierten Wertangeboten. Das Wissen, welches mit Umsetzung der ersten Stufe aufgebaut wurde, kann nun den Kundenunternehmen über digitale Kanäle zur Verfügung gestellt werden. Mithilfe dieses Wissens wird das Instandhaltungspersonal der Kunden in die Lage versetzt, Probleme in ihrer Produktion in kürzerer Zeit selbstständig zu lösen (im Sinne eines Self-Service). Dadurch werden die Serviceprozesse des Maschinenherstellers und die Instandhaltungsprozesse der Kunden so integriert, dass sie gemeinsam Wert schaffen und hierdurch langfristige partnerschaftliche Beziehungen entstehen. Der Kunde zahlt im Rahmen dieses neuen Geschäftsmodells eine gleichbleibende monatliche Gebühr, vergleichbar mit einem Servicevertrag. Um hier den zumeist rigiden Einkaufsbedingungen der Kunden entgegenzukommen, wird die Lösung in der Phase der Maschinengewährleistung (zumeist für zwei Jahre) kostenlos angeboten. Möchte das Kundenunternehmen den Service nach dieser Zeit weiter nutzen, wird eine monatliche Gebühr fällig, die von der Fachabteilung getragen wird (und ggf. auch nicht der expliziten Zustimmung durch den Einkauf bedarf). Im Rahmen des Projekts SerWiss wurden zwei konkrete Wertangebote ausgestaltet, welche die beiden Anwendungspartner in Stufe 2 nach der Projektlaufzeit umsetzen möchten (Abb. 12.7).

Abb. 12.7
figure 7

Zwei Stufen der Geschäftsmodellinnovation bei den Anwendungspartnern

Wissensbasiertes Wertangebot 1: Knowledge-as-a-Service

Die Anwendungspartner haben im Rahmen des Projekts jeweils eine IT-Infrastruktur aufgebaut, die auf zwei Arten Wert für ihre Kunden schafft:

  1. 1.

    durch die Bereitstellung von maschinenbezogenen Informationen und Wissen

  2. 2.

    durch einfache digitale Kommunikation und Interaktion mit dem Maschinenhersteller

Über die Software-Plattform können die Kundenunternehmen über mobile Endgeräte zu jeder Zeit Informationen und Wissen zu ihren Maschinen abrufen, z. B. wenn die Maschine ungeplant ausfällt oder gewartet werden muss. In der Software-Plattform steht die gesamte Wissensdatenbank zur Verfügung, die mit einer intelligenten Suchfunktion nach Maschinentypen, Fehlerbeschreibungen oder Störungssymptomen durchsucht werden kann (z. B. „Klackern im Lager von Maschine XY“). Zur schnelleren Auffindbarkeit der richtigen Informationen bzw. des richtigen Wissens werden an den Maschinen QR-Codes angebracht, die die Nutzer:innen mit ihrem mobilen Endgerät in den entsprechenden Informationsbereich leiten. Hier werden alle Informationen aus der digitalen Maschinenakte, z. B. Wartungspläne, Schaltpläne, CAD-Modelle, Serviceberichte (siehe Abschn. 2.4) sowie maschinenspezifisches Wissen, wie z. B. eine Lösungsdatenbank für Fehler und Ausfälle, detaillierte Arbeitsanweisungen und Anleitungen ausgegeben. Das Wissen wird dabei stetig aktuell gehalten und durch neu aufkommende Problem- und Lösungsmuster ergänzt. Inspiriert von KUKA Xpert (siehe Abschn. 4.2) wird ein gewisser Teil des Wissens kostenfrei zur Verfügung gestellt, insbesondere maschinenbezogene Informationen, während ein anderer Teil kostenpflichtig sein wird. Kostenpflichtig wird vor allem der Teil des Wissens sein, der redaktionellen Aufwand erzeugt und einer kontinuierlichen Aktualisierung bedarf. Dieser stellt mutmaßlich auch den größten Wert für die Kundenunternehmen dar.

Neben der Bereitstellung von Informationen und Wissen wird in der Software-Plattform ein Ticketsystem bereitgestellt, über das die Kunden einerseits Service anfordern und andererseits schnell und unkompliziert mit dem Maschinenhersteller kommunizieren und Dateien austauschen können. Diese Tickets sind für beide Parteien nachverfolgbar, d. h. ihr Zustand ist zu jeder Zeit einsehbar und sie werden kundenbezogen abgespeichert. Sollte im Rahmen dieser Tickets die Lösung für eine Problemstellung gefunden werden, wird der Weg zur Lösung vom Maschinenhersteller extrahiert und (anonymisiert) als Wissen in die Wissensdatenbank überführt. Für die Kunden wird durch die Zentralisierung des Kommunikationskanals über die Software-Plattform Nachvollziehbarkeit, Schnelligkeit und Einfachheit in der Kommunikation mit dem Maschinenhersteller geschaffen. Zudem wird dem Datenschutz Rechnung getragen, in dem die Kommunikation Ende-zu-Ende verschlüsselt und auf den Servern des Maschinenherstellers gespeichert wird.

Wissensbasiertes Wertangebot 2: AR-Remote-Support

Im Gegensatz zu Wertangebot 1 wird hier kein explizites Wissen in Form von Dokumenten und Anleitungen mit den Kunden geteilt, sondern eine Echtzeitverbindung zwischen den Instandhaltungsmitarbeiter:innen des Kunden und den Servicetechniker:innen des Maschinenherstellers hergestellt. Hierzu wird ein mobiles Endgerät genutzt, z. B. Smartphone, Tablet oder eine AR-Brille, um einen Videoanruf zu tätigen. Gemeinsam und im direkten Austausch versuchen die Mitarbeiter:innen beider Unternehmen das Problem zu identifizieren und zu beheben. Der/die Servicetechniker/in kann währenddessen am Computer die Wissensdatenbank nach potenziellen Lösungswegen durchsuchen. Über Sprachanweisungen sowie visuelle Elemente, die mittels der AR-Anwendung in das Sichtfeld projiziert werden, kann z. B. die Servicetechnikerin den Instandhaltungsmitarbeiter zur eigenständigen Fehlerbehebung anleiten. Optimalerweise wird der gesamten Remote-Call mithilfe künstlicher Intelligenz transkribiert und Fotos und Videos werden auf Anweisung gespeichert. Auf diese Weise ist es möglich, Remote-Service-Einsätze zu dokumentieren, entstehendes Wissen festzuhalten und in die Wissensdatenbank zu überführen. Zudem haben die Mitarbeiter:innen des Kunden die Kontrolle darüber, ob Bild- und Tonaufnahmen gestattet sind, wodurch dieses Vorgehen auch datenschutzseitig von den Kunden akzeptiert wird. Mithilfe dieses Wertangebots kann die Zeit für die Fehlersuche und -behebung an den Maschinen der Kunden stark verkürzt werden. Die Anwendungspartner erwarten zudem, dass sie zukünftig einen signifikanten Anteil der Serviceeinsätze aus der Ferne lösen können. Dies wird insbesondere zur Entlastung der stark belasteten Mitarbeiter:innen und zur Reduktion der Reisekosten beitragen. Zur Abrechnung des Remote-Services stehen den Anwendungspartnern zwei Möglichkeiten zur Verfügung:

  1. 1.

    Die Berücksichtigung der Leistung in einem monatlichen Abonnement (s. o.) oder

  2. 2.

    die herkömmliche transaktionale Abrechnung, die sich an der Dauer des (Remote-) Serviceeinsatzes bemisst – nur mit einer im Vergleich zu Kosten für die An- und Abreise deutlich niedrigen „Remote-Pauschale“.

12.5 Fazit

Lange galt es in der Investitionsgüterindustrie als Erfolgsrezept, mit regelmäßigen Produktinnovationen den Unternehmenserfolg sicherzustellen. Seit einigen Jahren rücken jedoch vermehrt produktbegleitende Dienstleistungen in den Fokus, da durch diese die Möglichkeit besteht, sich nachhaltig vom Wettbewerb zu differenzieren und Kundenanforderungen bestmöglich zu erfüllen. Produktbegleitende Dienstleistungen ermöglichen es, Kunden langfristig an das eigene Unternehmen zu binden und dem hart umkämpften Produktgeschäft mit geringen Margen zu entkommen. Der Ausbau des Servicegeschäfts erhält entsprechend auch bei der Unternehmensführung zunehmend Aufmerksamkeit, da mit Serviceangeboten zukünftig lukrative Geschäftsmodelle entwickelt werden können. Herausforderungen für kleine und mittelständische Investitionsgüterhersteller sind hierbei die zunehmende Internationalisierung, Engpässe an Fachkräften, ein meist geringer digitaler Reifegrad und die unvollständige Verfügbarkeit von Service-relevantem Fachwissen am Point-of-Service.

Da sowohl Anbieter als auch Kunden an digitalen Lösungen zur Optimierung der Servicearbeit interessiert sind, wurde im Rahmen des Projekts SerWiss praxisnah für KMU eine wissenszentrierte Arbeitsgestaltung, eine Software-seitige Unterstützung und Geschäftsmodelle für die zukünftige internationale Bereitstellung und Vermarktung von Service-relevantem Wissen entwickelt.

Während der Entwicklung von Referenzprozessen für die Servicearbeit hat sich gezeigt, dass für die Leistungserbringung umfangreiches Wissen über die Investitionsgüter erforderlich ist. Jedoch stehen KMU diesbezüglich vor der Herausforderung einer Wissenszersplitterung, da Service-relevantes Wissen über mehrere Abteilungen und Akteur:innen im Unternehmen verteilt sein kann. Folglich bedarf es für den Aufbau eines ganzheitlichen Wissensmanagements die Einbeziehung aller für die Servicearbeit relevanten Stakeholder – darunter auch Abteilungen aus dem vorgelagerten Leistungserstellungsprozess, wie z. B. Entwicklung, Konstruktion, Dokumentation und Inbetriebnahme.

Für das Erfassen, Strukturieren, Auffinden und Wiederverwenden von Wissen können die Wissensmanagement-Methoden KCS und Intelligent Swarming geeignete Lösungen liefern. KCS zielt darauf ab, bestehendes Wissen wieder zu verwenden, es zu verbessern und, falls es in einem Unternehmen noch nicht existiert, es zu erfassen und für die Wissensdatenbank bereitzustellen. Zusätzlich soll dieses Wissen basierend auf Nachfrage und Gebrauch weiterentwickelt werden und die kollektive Erfahrung aller Mitarbeiter:innen in der Wissensdatenbank abbilden. Intelligent Swarming legt den Fokus auf die relevante Interaktion zwischen Mitarbeiter:innen durch ein intelligentes Matching basierend auf Fähigkeitsprofilen.

In diesem Zusammenhang benötigen KMU digitale Werkzeuge zur Gestaltung effizienter Arbeitsprozesse, um das Servicewissen erfassen und bereitstellen zu können. Neu zu beschaffende digitale Werkzeuge müssen hierbei mit der gegenwärtigen digitalen Infrastruktur funktionieren und die besonderen Herausforderungen von KMU berücksichtigen (Organisationsgröße, Digitalisierungsgrad, Finanzkraft, etc.). Dies kann bedeuten, dass es einer wechselseitigen Anpassung von Methoden und Software bedarf, da KMU häufig auf standardisierte Software-Lösungen statt kostenintensiver Individualsoftware zurückgreifen müssen. Im Rahmen des Projekts SerWiss haben sich die Anwendungspartner zur Software-seitigen Umsetzung der Methoden für eine Kombination aus FSM- und ECM-System, ergänzt um eine AR-Remote-Anwendung entschieden. Festzuhalten ist, dass die Anschaffung und Integration von Software zunächst kein funktionierendes Wissensmanagement im Unternehmen ermöglicht. Hierzu braucht es ein Zusammenspiel mit den Wissensmanagement-Methoden sowie eine kontinuierliche Begleitung der Mitarbeiter:innen (Coaching) mit weitreichenden Anreizen, Wissen zu teilen. Um während des Veränderungsprozesses Widerständen der Belegschaft frühzeitig entgegenwirken zu können, bedarf es einer Einführung von Wissensmanagement in Wellen, als kontinuierlicher Lern- und Entwicklungsprozess, sodass den Mitarbeiter:innen die Angst, ersetzt zu werden oder ihr Wissen zu teilen, genommen werden kann. Bei allem Verständnis für den Nutzen für das Unternehmen werden die Mitarbeiter:innen eine schlüssige Antwort auf diese Frage „What‘s in it for me?“ erwarten. Schließlich sollen sie sich neue Methoden und Verhaltensweisen aneignen und dabei routinierte Gewohnheiten aufgeben.

Im Projekt wurde deutlich, wie wichtig es ist, betroffene Mitarbeiter:innen frühestmöglich in die neue Arbeitsgestaltung einzubinden und bevorstehende Veränderungen transparent zu kommunizieren. Dem Rückhalt durch die Unternehmensleitung kam eine besondere Bedeutung zu. Zur erfolgreichen Einführung eines Wissensmanagements gilt es, neben den eigentlichen Prozessen und Software-Systemen, unbedingt den Fokus auf die Kommunikation der Vision und die Verankerung einer kollaborativen Unternehmenskultur zu legen.

Durch den im Projekt SerWiss entwickelten integrierten Ansatz für Wissensmanagement in der Investitionsgüterindustrie wird es KMU zukünftig möglich sein, Wissen nicht nur als Ressource in Dienstleistungen umzusetzen, sondern Kundenunternehmen den Zugang zu Wissen als eigenständiges Nutzenversprechen anbieten zu können, um auf dieser Grundlage für Anbieter und Kunden gleichermaßen werthaltige Geschäftsmodelle am Markt etablieren zu können.