8.1 Einleitung

Die mit der Digitalisierung stark zunehmende Vernetzung der Welt und ein damit verbundener Anstieg der Komplexität aktueller Problemstellungen (z. B. Klimawandel, Umweltverschmutzung, Pandemien) erfordern die Vermittlung eines neuen Satzes von Fähigkeiten – „key competencies for lifelong learning“ (EU, 2019) bzw. „21st century skills“ (OECD, 2018), um auch nachfolgenden Generationen die optimale Teilhabe am wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen.

Bei zwei dieser Fähigkeiten – Problemlösen und Critical Thinking – handelt es sich um bereits seit Längerem thematisierte Konstrukte (z. B. Dörner, 1976; Ennis, 1987). Wird deren Vermittlung an aktuelle Kontexte gebunden, so stellt die Komplexität der Themen eine große fachliche und fachdidaktische Herausforderung dar. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Lernenden erst durch intensivere und längere Auseinandersetzung mit den Inhalten einen entsprechenden Zugang zu den Themen erhalten können. Eine Schwierigkeit bei der Konzipierung einer dafür geeigneten Lernumgebung stellt das Aufrechterhalten einer ausreichend hohen Motivation dar. Die Lernumgebung sollte so gestaltet sein, dass es zu einer aktiven und bewussten Bearbeitung der Problemstellung in einem Umfang kommt, welcher dem Kontext gerecht wird.

Das Ziel war daher die Erstellung einer digitalen virtuellen Spielumgebung, welche durch den Einsatz von Gamification-Elementen motivierend genug ist, damit die Lernenden sich ausreichend lange, intensiv und produktiv mit der Thematik befassen und so Kompetenzen in den Bereichen Problemlösen und Critical Thinking aufbauen können.

In diesem Kapitel stellen wir unsere digitale Spielumgebung „MINT-Town“ vor. Dabei beleuchten wir zentrale Schritte des Entwicklungsprozesses und beschreiben beispielhaft die Einbindung von Lerngelegenheiten für Critical Thinking und Problemlösen in den verschiedenen Teilszenarien.

8.2 Theoretischer Hintergrund

8.2.1 Problemlösen und Critical Thinking

Der Begriff des Problems wird in der Kognitionspsychologie bereits von Dörner (1976, S. 10) beschrieben, welcher von einem in der Regel unerwünschten Anfangszustand ausgeht, der in einen wünschenswerten Zielzustand überführt werden soll.

Problem

Ein Problem beschreibt eine Situation, in der eine Person einen angestrebten Zielzustand nicht mithilfe routinierter Denk- oder Handlungsprozesse erreichen kann. Es besteht eine sogenannte Barriere bzw. ein Hindernis zum Erreichen des Ziels. Als Problemlösen beschreibt man die kognitive Aktivität, die zum Überwinden dieses Hindernisses und damit zum erfolgreichen Erreichen des angestrebten Ziels nötig ist (Betsch et al., 2011; Mayer, 2007).

Um ein Problem zu lösen und den erwünschten Zielzustand zu erreichen, müssen also zunächst neue Denk- und Handlungsprozesse erlernt werden. Dörner (1984, S. 11) beschreibt den Prozess des Problemlösens daher auch als „Synthese neuer Verhaltensweisen“. Das Problem ist damit von der Aufgabe abzugrenzen, in der sich der Zielzustand mithilfe zumindest im Prinzip bereits bekannter Routineprozesse erreichen lässt. Bei einem Problem ist das Vorgehen vom Anfangs- zum Zielzustand noch nicht bekannt.

Der Prozess des Problemlösens lässt sich wiederum in einzelne Phasen unterteilen. Bei der Entwicklung der Spielumgebung „MINT-Town“ haben wir uns dabei an den vier von Scherer et al. (2014) beschriebenen Phasen orientiert: 1) Problem verstehen und charakterisieren, 2) Problem repräsentieren, 3) Problem lösen und 4) Lösung reflektieren und kommunizieren. In der ersten Phase müssen relevante Informationen identifiziert beziehungsweise aus verschiedenen Quellen mit einbezogen werden, um ein Verständnis für die Problemsituation zu erlangen und ein erstes mentales Modell davon zu bilden. Dieses wird in der zweiten Phase in verschiedenen Repräsentationsformen (z. B. graphisch, verbal oder symbolisch) externalisiert, bevor in der dritten Phase systematisch Lösungsstrategien entwickelt und ausgeführt werden. Die letzte Phase dient der Reflexion und adressatengerechten Kommunikation der Lösung sowie gegebenenfalls der Suche nach alternativen Lösungsansätzen (Scherer et al., 2014).

Ein zweites zentrales Konstrukt für die Bildung der Zukunft ist Critical Thinking (EU, 2019; OECD, 2018). Trotz des Versuches verschiedener Expertinnen und Experten, im Rahmen des APA-Delphi-Projektes eine möglichst einheitliche Definition für den Begriff zu erarbeiten (Facione, 1990), gehen die Definitionsansätze innerhalb und zwischen einzelnen Fachrichtungen immer noch weit auseinander (vgl. Kap. 2 im Bd. 1). Im Rahmen des Projektes konnte man sich jedoch auf die Einteilung von Critical Thinking in die beiden Dimensionen affektive Dispositionen und kognitive Fähigkeiten verständigen (Facione, 1990). Dabei ist im Bildungskontext vor allem letztere Kategorie von besonderem Interesse, da sich die kognitiven Fähigkeiten erlernen lassen. Eine für diesen Zweck sehr elaborierte Liste der Fähigkeiten liefert Ennis (2011) mit den Critical Thinking Abilities (vgl. Kap 2, Tab. 2.1 im Bd. 1; Tab. 8.1).

Tab. 8.1 Angesprochene Fähigkeiten des Critical Thinking (CT Abilities) nach Ennis (2011) in den Szenarien der Spielumgebung „MINT-Town“ – „Tutorial“ (Tut), „Apfelhain“ (AH) und „Bergregion“ (BR)

8.2.2 Motivation durch Gamification

Eine Möglichkeit, um eine digitale Lernumgebung motivierend zu gestalten und die Motivation möglichst lange aufrechtzuerhalten, ist der Einsatz von Gamification (Hamari et al., 2014).

Gamification

Gamification (bzw. Gamifizierung) bezeichnet den gezielten Einsatz von ursprünglich aus dem Bereich der Videospielindustrie stammenden Elementen in anderen Kontexten (bspw. der Bildung, der Erziehung, dem Gesundheitswesen u. v. m.). Im Bildungskontext wird Gamification im engeren Sinne beschrieben als Satz von Aktivitäten und Prozessen, die unter Nutzung der Charakteristika von "Game"-Elementen zum Lösen von Problemen angewendet werden. Darunter fallen beispielsweise Elemente wie Punkte- und Levelsysteme, virtuelle Belohnungen und Auszeichnungen wie Badges, Tutorials sowie Möglichkeiten zur sozialen Interaktion (Deterding et al., 2011; Kim et al., 2018).

Die Game-(Design-)Elemente lassen sich dabei in die drei Kategorien Mechanics, Dynamics und Aesthetics aufteilen und beinhalten beispielsweise auch Quests (Aufgaben), virtuelle Items (Gegenstände) und freischaltbare Inhalte (Jung Tae Kim & Lee, 2013; Iosup & Epema, 2014)

Auch die Einsatzbereiche von Gamification sind inzwischen weit gefächert. Neben dem Einsatz im Gesundheitssystem (Belohnungen für regelmäßige Gesundheitsüberwachung bzw. tägliche Fitnessroutinen) oder in Wirtschaftskonzernen („Unterstützung von Unternehmensprozessen“, „Wissensaufnahme“ und positive „Verhaltensbeeinflussung“ (Strahringer & Leyh, 2017, Abschn. 1.3)) wird Gamification auch in der Bildung & Erziehung (Iosup & Epema, 2014; Schoech et al., 2013) eingesetzt.

Der Zweck von Gamification ist dabei, unabhängig vom Einsatzbereich, die Erhöhung der Motivation und damit eine elaboriertere Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Medium. Diese motivationssteigernde Wirkung konnte inzwischen in verschiedenen Studien bestätigt werden (Buckley & Doyle, 2016; Hamari et al., 2014). Ein weiterer Vorteil beim Einsatz von Gamification im Bildungsbereich ist die Möglichkeit, Stealth-Assessment-Elemente einzubinden (Shute & Ventura, 2013). Diese ermöglichen der Lehrperson den Fortschritt der Lernenden nachträglich auszuwerten oder bei vernetzten Tools in einem Livemonitoring zu überwachen.

8.3 Lernumgebung MINT-Town

Die Lernumgebung „MINT-Town“ besteht aktuell aus zwei Teilen, welche modular aufeinander aufbauen. Der erste Teil „MINT-Town Tutorial“ dient neben der Einführung in die grundlegende Spielsteuerung vor allem dafür, sich in einem eher allgemeinen Inhaltsbereich mit den Konstrukten Critical Thinking und Problemlösen auseinanderzusetzen. Im zweiten Teil „MINT-Town Chembance“ (abgeleitet aus dem englischen „chemical balance“) werden die grundlegenden Konzepte wieder aufgegriffen und in einen chemiespezifischen Kontext übertragen (Abb. 8.1).

Abb. 8.1
figure 1

Übersicht über die modular aufgebaute Lernumgebung „MINT-Town“

Mit der „Eutrophierung eines Teiches“ wurde für das Tutorial ein Thema gewählt, welches sich aus der Sicht verschiedener naturwissenschaftlicher Fachrichtungen betrachten lässt und weitgehend fachwissensunabhängig bearbeitbar ist. Es kann zukünftig optional als Basis für weitere Teile des Spiels mit fachspezifischen oder fachübergreifenden Kontexten dienen. Der erste vorliegende fachspezifische Teil ist „MINT-Town Chembance“, in dem in zwei aufeinander folgenden Szenarien die Synthese und die Hydrolyse von Estern in jeweils einem Problemkontext behandelt werden. Eine Übersicht über die Lernszenarien sowie die darin angesprochenen Fähigkeiten des Critical Thinking nach Ennis (2011) zeigt Tab. 8.2.

Tab. 8.2 Übersicht über die Szenarien von MINT-Town und die darin angesprochenen Fähigkeiten des Critical Thinking (Ennis, 2011)

8.3.1 Entwicklung der Lernumgebung

Die Entwicklung der Lernumgebung wurde größtenteils mithilfe des „framework for the theory-driven design of digital learning environments (FDDLE)“ (Tiemann & Annaggar, 2020) realisiert. In dem Framework wird der Entwicklungsprozess in fünf verschiedene Arbeitsschritte unterteilt: 1) Analyse, 2) Design, 3) Entwicklung, 4) Qualitätssicherung, 5) Implementation und Evaluation.

Im Rahmen des Analyseschrittes wurde unter anderem die Wichtigkeit der zwei Konstrukte Problemlösen und Critical Thinking für Schülerinnen und Schüler in der digital schnell fortschreitenden Welt herausgearbeitet. Entgegen der Erfüllung des konkreten Lehrziels – einer nachhaltigen Entwicklung von Kompetenzen in diesen Bereichen – steht allerdings die hohe Komplexität von aktuellen Problemkontexten. Deren Bearbeitung könnte aufgrund des Schwierigkeitsgrades der Inhalte und der damit verbundenen Bearbeitungsdauer voraussichtlich mit einer zunehmend sinkenden Motivation der Schülerinnen und Schüler einhergehen. Ziel dieses Projektes war es daher, eine Lernumgebung zu entwickeln, die durch die Einbindung von Gamification-Elementen möglichst motivierend auf Schülerinnen und Schüler wirkt, damit diese sich ausreichend lange mit komplexeren (möglichst authentischen) Kontexten auseinandersetzen, um einen Lerneffekt zu erreichen.

Die Spielumgebung sollte darüber hinaus bestimmten Rahmenparametern für den praktischen Einsatz an Schulen genügen, darunter beispielsweise einer hohen Kompatibilität mit gängigen Endgeräten sowie angemessenen Systemanforderungen, welche die unterschiedliche technische Ausstattung deutscher Schulen berücksichtigt. Es musste also ein Kompromiss zwischen einer realitätsnahen Darstellung (bzw. Graphik), einer möglichst hohen Kompatibilität sowie einem realisierbaren Entwicklungsaufwand gefunden werden. In einem Auswahlprozess entschieden wir uns für die Software „RPG Maker MV“, welche ebendiese Kriterien erfüllt. Das Spiel lässt sich wahlweise im Browser (z. B. Firefox, Google Chrome, Internet Explorer, Safari) spielen oder als App auf Windows- oder Android-Geräten installieren. Die Installation auf Mac und iOS konnte bisher leider nicht realisiert werden. Insgesamt lief das Spiel aber, bis auf vereinzelte Abstürze und Soundprobleme im Safari-Browser, in den meisten getesteten Varianten zuverlässig und flüssig.

Angesichts der Tatsache, dass das grundlegende Verständnis von Critical Thinking zwar fachbezogene Unterschiede aufweist (Rafolt et al., 2019), es aber gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern auch viele Schnittmengen gibt (vgl. Kap. 2 im Bd. 1), entschieden wir uns für die Aufteilung der Lernumgebung. Der erste Teil („MINT-Town Tutorial") dient – neben der Einübung der Spielsteuerung – mit seinem fachübergreifenden, naturwissenschaftlichen Kontext dazu, die Grundlagen für Problemlösen und Critical Thinking zu etablieren. Die dabei zu erlernenden und einzuübenden Fähigkeiten können dann in weiteren Problemkontexten (z. B. im chemiespezifischen Teil) angewendet werden.

Die folgenden drei Arbeitsschritte – Design, Entwicklung und Qualitätssicherung – bilden einen zyklischen Prozess und wurden für jedes Lernszenario mindestens einmal durchlaufen und im Qualitätssicherungsschritt von Experten evaluiert (Dictus & Tiemann, 2021). Da der chemiespezifische zweite Teil direkt auf die erlernten Grundlagen des ersten Teils („MINT-Town Tutorial“) aufbaut, soll der fünfte Schritt – die Implementation und Evaluation – für beide Teile mit denselben Probanden in einem möglichst kurzen Zeitabstand erfolgen.

8.3.2 MINT-Town Teil 1 – Tutorial

Der erste Teil „MINT-Town Tutorial“ ist als allgemeines Training für Critical Thinking und Problemlösen angelegt. Den Spielenden wird zunächst mit Infoboxen die grundlegende Steuerung erklärt, bevor sie ein abgegrenztes Areal der virtuellen Welt – ein Dorf mit Forschungsinstitut in der Wüste – mit ihrem Spielercharakter (Avatar) erkunden können (Abb. 8.2a). Nachdem sie sich mit der Steuerung vertraut gemacht haben, werden die Spielenden mit einem naturwissenschaftlichen Problemkontext, der Nährstoffanreicherung (Eutrophierung) eines Teichs und den damit verbundenen Folgen konfrontiert. Sie werden im Anschluss schrittweise mithilfe von Aufgaben (Quests) durch die ersten drei Phasen des Problemlöseprozesses (Scherer et al., 2014) geleitet: 1) Problem verstehen und charakterisieren, 2) Problem repräsentieren, 3) Problem lösen.

Abb. 8.2
figure 2

Die Spielenden (a) erkunden die Spielumgebung „MINT-Town“ mit ihrem Avatar, (b) nutzen verschiedene Informationsquellen (z. B. Bücher)

Um das Problem vollständig zu lösen, müssen die Spielenden dabei verschiedene Tätigkeiten des Critical Thinking einsetzen (Tab. 8.1; Ennis, 2011). Sie sammeln beispielsweise grundlegende Informationen über den Teich – erhöhtes Algenwachstum, ungewöhnliches Verhalten der Fische, Ausfall der Teichpumpe –, um das Problem zunächst zu identifizieren (1). Mithilfe weiterführender Informationen können sie das Problem dann genauer verstehen und charakterisieren. Als Informationsquellen dienen neben den in die Spielwelt integrierten Gegenständen (Abb. 8.2b; z. B. Büchern) vor allem die Nicht-Spieler-Charaktere (NPCs). In einer Multiple-Choice-Abfrage eines solchen NPCs (dem Gelehrten Vincent) müssen die Lernenden beispielsweise anhand der gesammelten Informationen Argumente analysieren (2) und daraus kausale Zusammenhänge ableiten (6; Abb. 8.3a).

Abb. 8.3
figure 3

„MINT-Town Tutorial“ – Die Spielenden (a) charakterisieren das Problem mit dem Gelehrten Vincent, (b) erhalten in Textform die vom Avatar „wahrgenommenen“ visuellen und olfaktorischen Reize

Auch wenn Beobachtungen durch die Spielenden im eigentlichen Sinne innerhalb der Lernumgebung primär auditiv (in Form von Soundeffekten) und nur sehr eingeschränkt visuell stattfinden, bekommen sie durch die Interaktion ihres Avatars mit verschiedenen Elementen der Spielwelt (z. B. beim Anklicken des Teichrandes) Informationen über visuelle oder olfaktorische Reize, die ihr Avatar „wahrnimmt“. Diese werden ihnen in Textform ausgegeben (Abb. 8.3b). Im Expertenrating – bestehend aus Doktoranden der Lehr-/Lernforschung Chemie der Humboldt-Universität zu Berlin (N = 6) – bestätigten die Befragten dennoch, dass die Teilfähigkeit Beobachten (5) beim Spielen der Lernumgebung angesprochen wird (Dictus & Tiemann, 2021).

Das Expertenrating, welches direkt nach dem Spielen von „MINT-Town Tutorial“ ausgefüllt werden sollte, wurde in Form eines Online-Fragebogens mit drei Abschnitten realisiert: 1) Erhebung von Spielzeit und Spielfortschritt, 2) Abbildung der Problemlösephasen und Teilfähigkeiten des Critical Thinking, empfundene Motivation durch eingesetzte Gamification-Elemente, 3) offenes Feedback. Der zweite Abschnitt des Fragebogens wurde mithilfe von 5-stufigen Likert-Skalen realisiert.

Neben den bereits beschriebenen Phasen des Problemlösens und angesprochenen Teilfähigkeiten des Critical Thinking bestätigten die Ergebnisse des Expertenratings zudem, dass die Spielumgebung unter anderem durch den Einsatz der verschiedenen Gamification-Elemente (z. B. Quests, Storytelling, virtuelle Schlüsselgegenstände) ein motivierendes Lernsetting darstellt (Dictus & Tiemann, 2021).

Im ersten Teil des Spiels wird neben inhaltlich relevanten Informationen auch Metawissen vermittelt, welches beispielsweise den Aufbau und die Erläuterung des Problemlöseprozesses betrifft. Dieses lässt sich optional innerhalb von Dialogen mit Nicht-Spieler-Charakteren (NPCs) abrufen. Das damit verbundene geordnete, strukturierte Vorgehen (13) und dabei insbesondere das Folgen von Problemlöseschritten sind ebenfalls eine von Ennis (2011) beschriebene Teilfähigkeit des Critical Thinking, welche im „MINT-Town Tutorial“ adressiert wird.

8.3.3 MINT-Town Teil 2 – Chemie

Der zweite Teil „MINT-Town Chembance“ ist in die beiden Teilszenarien „ApfelhainFootnote 1“ und „Bergregion“ untergliedert. Fachinhaltlich wird in diesem Teil das Basiskonzept der chemischen Reaktion behandelt (KMK, 2004), welches kontextuell so eingebettet ist, dass nacheinander die Synthese und die Hydrolyse von Estern (eine chemische Gleichgewichtsreaktion) behandelt werden. Die beiden Lernszenarien orientieren sich am Rahmenlehrplan für Berlin und Brandenburg (LISUM, 2015) und lassen sich dort in das Themenfeld 3.12 (Ester – Vielfalt der Produkte aus Alkoholen und Säuren) für die Doppeljahrgangsstufe 9/10 einordnen.

Das Szenario „Apfelhain“ setzt inhaltlich direkt nach dem Tutorial an. Die Spielenden erreichen mit ihrem Avatar die Region Apfelhain, in der sie mit einer neuen Problemstellung konfrontiert werden. Durch Interaktionen mit Nicht-Spieler-Charakteren (NPCs) und Elementen der Spielwelt sammeln sie erneut Informationen und identifizieren schließlich das Problem (1): Im örtlichen Gasthaus benötigt man Äpfel, welche durch die lokale Landwirtin nicht geliefert werden können, da sie mit einem akuten Wespenproblem zu tun hat.

Im Dialog des Avatars mit der Landwirtin muss man anschließend in einer Multiple-Choice-Abfrage ihre Argumente analysieren (2), auf Basis der Informationen eine passende Hypothese (7) auswählen sowie davon ausgehend eine logische Schlussfolgerung (6) für die weitere Vorgehensweise ziehen (Abb. 8.4a).

Abb. 8.4
figure 4

Die Spielenden (a) müssen ausgehend von der gewählten Hypothese auf den passenden Lösungsansatz schließen, (b) können erhaltene Informationen im Notizbuch nachlesen

Anders als „MINT-Town Tutorial“ beinhaltet dieses Szenario zwei mögliche Lösungsansätze, um dem dargestellten Problem zu begegnen. Beim ersten Ansatz versucht man die Wespen mithilfe von Lavendelpflanzen (bzw. dem Geruch der darin enthaltenen ätherischen Öle) zu vertreiben. Dies führt allerdings nicht zum erwünschten Ergebnis, da die Wirkung sich als zu gering herausstellt. Der zweite Ansatz, zu dem man auch nach dem missglückten ersten Lösungsversuch gelangt, ist die Synthese eines Apfelesters im chemischen Institut. Neben den nötigen fachlichen Informationen zur Estersynthese bekommt man dort auch die Möglichkeit, die verschiedenen Arbeitsschritte zum Erhalt eines reinen Produktes unter Anleitung in geordneter, strukturierter Weise (13) virtuell durchzuführen.

Ein zentrales neues Feature, welches in diesem Szenario eingeführt wurde, ist das Notizbuch, welches der Avatar ständig bei sich trägt. Darin werden verschiedene, früher erhaltene Informationen für die Lernenden festgehalten (Abb. 8.4b). Auch wenn sich das Szenario prinzipiell ohne das Aufrufen des Notizbuches lösen lässt, bietet dieses Feature den Lernenden die Möglichkeit, bestimmte Informationen schnell rekapitulieren und Zusammenhänge besser nachvollziehen zu können.

Ebenfalls ohne direkten Einfluss auf die Handlung sind die hier erstmals eingeführten Erfolge (Achievements), die man beispielsweise durch das Ansprechen aller Personen im Spiel oder das Finden des alternativen Lösungsansatzes erhält. Diese werden im Epilog sichtbar und dienen in erster Linie dazu, den Wiederspielwert zu erhöhen. Eine prominentere Platzierung dieses Features im Spiel wurde bewusst vermieden, um die Vorgehensweise der Spielenden beim Lösen des Problems nicht zu stark zu beeinflussen.

Das Szenario „Bergregion“, welches sich aktuell in der Entwicklung befindet, knüpft inhaltlich an das Szenario „Apfelhain“ an. Die Spielenden haben mit ihrem Avatar die Region um Apfelhain durch eine Höhle verlassen und gelangen in eine Bergbauregion (Abb. 8.5a). Als sie die Höhle gerade verlassen haben, stürzt der Tunnel hinter ihnen ein, sodass die letzte Verbindung zwischen den beiden Regionen blockiert wird.

Abb. 8.5
figure 5

Die Spielenden (a) können von der Bergbauregion nicht mehr durch den Tunnel zurück, (b) sammeln beim nahegelegenen Hof Rapspflanzen zur Gewinnung von Rapsöl

Im Dialog mit den ansässigen Bergbauleuten (NPCs) finden sie heraus, dass diese bei der Arbeit gelegentlich den Sprengstoff Nitroglycerin einsetzen, um Tunnel kontrolliert frei zu sprengen. Dieser zu den anorganischen Estern zählende Sprengstoff ist ihnen allerdings ausgegangen, sodass der Avatar ins nächstgelegene Institut geschickt wird, um neuen Sprengstoff herzustellen.

Dort angekommen erfährt man allerdings, dass ein zentraler Bestandteil (Glycerin) fehlt, welcher nur durch die Hydrolyse eines anderen Esters (in diesem Fall Rapsöl) gewonnen werden kann. Die Lernenden werden hier mit dem Konzept der Umkehrbarkeit chemischer Reaktionen konfrontiert. Sie müssen nach dem Einsammeln einiger Rapspflanzen (Abb. 8.5b) sowohl die Hydrolyse als auch die Synthese eines Esters virtuell im Institut durchführen, um das Problem schließlich lösen zu können.

8.4 Fazit und Ausblick

Mit der Entwicklung von „MINT-Town“ haben wir eine virtuelle Spielumgebung geschaffen, welche eine mögliche Umsetzung der Konstrukte Problemlösen und Critical Thinking in den naturwissenschaftlichen Fächern im Rahmen eines motivierenden Lernsettings darstellt. In den drei Szenarien werden die Spielenden mit realitätsnahen Problemkontexten konfrontiert und müssen dabei beispielsweise die Probleme identifizieren (Tut, AH, BR), Argumente analysieren (Tut, AH, BR), geeignete Hypothesen auswählen (AH) oder kausale Zusammenhänge ableiten (Tut, AH, BR). Die Lernenden wenden diese Fähigkeiten – Aspekte des Critical Thinking (Tab. 8.1, Ennis, 2011) – schrittweise an, während sie durch die verschiedenen Phasen des Problemlöseprozesses begleitet werden. Obwohl die systematische Integration der beiden Konstrukte in die Curricula bisher noch aussteht (vgl. Kap. 2 in Bd. 1), konnten wir mit den chemiespezifischen Szenarien aufzeigen, dass die lehrplankonforme Einbindung der Lernumgebung „MINT-Town“ in den Unterricht möglich ist. Die Spielumgebung ist zudem so gestaltet, dass die Erweiterung um weitere Szenarien sowohl für chemiespezifische als auch für andere fachspezifische oder fächerübergreifende Kontexte denkbar ist.

Unsere nächsten Arbeitsschritte sind die Fertigstellung des dritten Szenarios „Bergregion“ (Arbeitstitel) sowie die Implementation und Evaluation (vgl. Tiemann & Annaggar, 2020) der gesamten Spielumgebung mit Lernenden der Zielgruppe (Jahrgangsstufe 10) und dabei insbesondere die quantitative Erfassung des Kompetenzzuwachses in den Bereichen Problemlösen und Critical Thinking. Eine andere Möglichkeit zur Messung des Kompetenzzuwachses wäre die Implementierung des sogenannten Stealth-Assessments, welches Shute et al. (2016) am Beispiel „Use Your Brainz – einer von ihnen abgewandelten Version des Spiels „Plants vs. Zombies 2 (Popcap Games and Electronic Arts) – beschreiben. Dass diese Art der Kompetenzmessung sich auch für das hier verwendete Rollenspielgenre eignet, konnten beispielsweise Annaggar und Tiemann (2017) mit ihrer Spielumgebung „The Alchemist“ zeigen.