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1 Politikberatung in der Wissenskrise?

COVID-19 verursachte einen „epidemischen Ausnahmezustand“ [1], auf den die demokratischen Regierungen vehement reagierten, indem sie die Gesellschaften zur Vollbremsung zwangen. In kürzester Zeit wurden die Routinen des sozialen Lebens, das die Gesellschaft konstituiert, radikal eingeschränkt und aus der Öffentlichkeit verbannt. Dies tat die Politik zumeist in großem Einvernehmen mit den Bürgerinnen und Bürgern, die den Anordnungen des Staates, den manch einer unter den Bedingungen der Globalisierung schon für überholt hielt, freiwillig folgten. Es handelte sich um eine neue Form der Mobilisierung, einer inaktivierenden Mobilisierung. Über deren Folgen, insbesondere über die Art der Kanalisierung der für die Aktivierung notwendigen Emotionen im Homeoffice, muss künftige Forschung aufklären. Bereits jetzt lässt sich aber konstatieren, dass der Konsens der Pandemiepolitik durch einen enormen Rationalitätsanspruch einer durch die Wissenschaft beratenden Politik legitimiert war. Die Politik schien in ihren Maßnahmen keine eigenen, egoistischen Interessen zu vertreten, sondern nur der Wissenschaft zu folgen. Dahinter verbirgt sich die Existenz einer Wissenskrise, denn letztlich wussten die wenigsten politischen Akteure, auf welche Bedrohung sie mit welchen Maßnahmen reagieren sollten. Die Neuheit von SARS-CoV-2 brach mit dem bekannten Wissen und die daraus resultierende Ratlosigkeit konfrontierte alle mit einem bedrohlichen Nichtwissen, welches den Kern der Wissenskrise darstellt, die von der Coronakrise ausgelöst wurde [2]. Was kann die Politik da schon anderes machen als sich „hinter Wissenschaftlerinnen“ zu verstecken [3]? Dementsprechend kann der Erfolg oder Misserfolg der Pandemiepolitik nur verstanden werden, wenn das in der Beratung zwischen Politik und Wissenschaft ausgetauschte Wissen genau untersucht wird. Dazu wird zuerst die Beratung und ihr Wissen vor der Pandemie beschrieben. Anschließend erläutere ich, wie in Deutschland die wissenschaftliche Politikberatung in der Pandemie organisiert wurde und welches Wissen in der Politik in ihren Entscheidungen zur Verfügung gestellt wurde. Im letzten Teil zeige ich, warum in der Pandemie das sozialwissenschaftliche Wissen nur eine marginale Rolle gespielt hatte, und erkläre dies mit der Bedeutung des Nichtwissens für die Entscheidungsfähigkeit der Politik.

2 Beratungswissen wissenschaftlicher Politikberatung

Demokratisches Regieren löst gesellschaftliche Probleme durch kollektive Entscheidungen [4]. Dazu reicht unter „normalen“ Bedingungen das Wissen, über welches die politischen Akteure als professionelle Berufspolitiker dank fachpolitisch organisierter bürokratischer Apparate verfügen. Dennoch setzt die Politik angesichts einer zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Probleme wie beispielsweise die Nutzung riskanter Technologien oder bei langfristiger Risikoeinschätzungen auf die Beratung durch wissenschaftliches Wissen. Die wissenschaftliche Beratung soll frühzeitig vor auftretenden Problemen warnen, die Analyse von Problemen durch die Auswertung von Daten und Wissen unterstützen, Handlungsalternativen identifizieren und evaluieren, Formulierungsangebote für präferierte Entscheidungen liefern und Standards für die weitergehende Forschung setzen [5]. Das wissenschaftliche Wissen soll zudem bei der Konsensbildung zwischen divergierenden Interessen helfen, Werte und Lösungsansätze unterstützen, Informationen für die Öffentlichkeit bereitstellen, Entscheidungen legitimieren, Maßnahmen evaluieren, Programmen unterstützen, kurz politisch anwendbar sein [5].

Diese Anforderungen beeinflussen das genutzte Beratungswissen, welches das Produkt der Kommunikation zwischen Politik und Wissenschaft ist. Es ist auf den Beratungskontext fixiert und damit in eine soziale Problemdefinition eingebunden. Seine Darstellung und Qualitätssicherung sind anders geregelt. Statt in Fachzeitschriften mit Peer-review-Verfahren wird das Beraterwissen in Stellungnahmen, Gutachten oder vertraulichen Berichten zur Verfügung gestellt [6]. Die Qualitätssicherung des Wissens orientiert sich zudem an „kontextspezifischen sozialen, politischen und ökonomischen Kriterien“ [5]. Ebenfalls spielt die Reputation der Experten eine wichtige Rolle bei der Qualitätssicherung [4]. Schließlich unterscheidet sich auch der epistemische Satus des Beraterwissens vom wissenschaftlichen Wissen [4]. Zwar bildet das Wissen der Wissenschaft die Grundlage des Beraterwissens, doch wird es für die Anwendung in einem spezifischen Problemkontext selektiert, interpretiert und adaptiert. Im Zuge der Kommunikation soll es letztlich eine „Veränderung kognitiver Schemata“ bei den Beratenen auslösen, wodurch ihnen bei der Entscheidungsfindung geholfen wird [4].

3 Politikberatung und Beratungswissen in der Pandemie

Angesichts der Gefahr einer pandemischen Verbreitung von SARS-CoV-2 wechselte die Politik notwendigerweise in den Krisenmodus, denn sie musste besonders schnell und umfassend auf die Herausforderung reagieren. Durch diesen Zeit- und Handlungsdruck ist das politische Krisenmanagement vor allem durch die Aktivitäten der Exekutive bestimmt, die durch kurzfristige, abrupte Handlungen und Ad-hoc Arrangements versucht die Situation zu kontrollieren [7]. Damit ändert sich auch die Funktion und Form der wissenschaftlichen Politikberatung. Da das Virus eine biologische Gefahr für die Gesundheit vieler Menschen darstellt, ist die Wissenschaft gefordert, der Politik Wissen für die Kontrolle zur Verfügung zu stellen. Wissenschaft soll über die Gefahren und Risiken von COVID-19 aufklären, die weitere Entwicklung prognostizieren, Problemlösungen und Orientierungen entwickeln und auch die politischen Entscheidungen für bestimmte Maßnahmen zur Eindämmung des Virus legitimieren.

Im Prinzip sind dies die bereits in der Beratung erprobten Erwartungen an die Wissenschaft, die im Kontext der unmittelbaren Bedrohung jedoch in zweierlei Hinsicht verändert werden: Erstens bekommt die Wissenschaft in der Coronakrise das Deutungsmonopol, denn kein anderer gesellschaftlicher Bereich sieht sich in der Lage beziehungsweise keinem anderen Bereich wird überhaupt zugetraut, das zur Kontrolle der Situation notwendige Aufklärungswissen bereitzustellen. Selbst die in früheren Katastrophen wirksame Flucht in den Glauben wirkt hier nicht mehr, wenn auch die Kirchen mehrheitlich der Wissenschaft vertrauen. Zweitens erwarten Gesellschaft und Politik eine möglichst schnelle Aufklärung durch die Wissenschaft, womit der wissenschaftliche Wissensproduktionsprozess selbst unter Druck gerät. Beide Veränderungen unterbrechen die eingespielten Routinen der wissenschaftlichen Beratung und strukturieren den Beratungsprozess in der Pandemie neu.

In der ersten Phase der Pandemie verlässt sich die Politik (noch) auf die Institution des Robert-Koch-Instituts und seiner Risikobewertung. Routiniert verarbeitet diese Behörde die Erkenntnisse und produziert eigenes Beratungswissen in Form formalisierter Bewertungen und Empfehlungen, welche in den regelmäßigen Publikationen und Stellungnahmen der Behörde sachlich formuliert werden. Diese stützten den pragmatischen Kurs der Regierung, die versucht durch Kontrollen der Einreisen und die Quarantäne von Infizierten die Ausbreitung von COVID-19 zu kontrollieren. Erst mit dem politischen Druck einer unkontrollierbaren Pandemie und der Anwendung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen wie Abriegelungen von Städten in Italien, umfassenden Schulschließungen und Kontaktverboten in Europa, ändert sich der Ansatz der Pandemiepolitik. Statt pragmatisch begrenzte Interventionen vorzunehmen und beständig die Resultate dieser Maßnahmen zu verfolgen, setzt sich auch in Deutschland ein prinzipieller Ansatz einer rigiden sozialen Kontrolle zur Verhinderung der Infektionsausbreitung durch [8]. Mit diesem Wechsel zu einem prinzipiellen Ansatz ändert sich die Beratung und ihr Wissen. Die Beratung fügt sich in den Krisenmodus des Regierens ein, das heißt auch sie ist Teil kurzfristiger, unregelmäßiger Entscheidungen in Ad-hoc Arrangements, die sich direkt an den Regierungen fixieren. Dazu werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Beratung der Regierungen zwischen Bund und Ländern eingeladen. Neben Lothar Wieler als Chef des Robert-Koch-Instituts gehörte Christian Drosten zu diesen Beratern. Er gilt durch das von seinem Labor hergestellte Testverfahren in der Öffentlichkeit als einer der Entdecker von SARS-CoV-2 und verfügt durch seinen Podcast über eine hohe Medienkompetenz, was ihn mit einer spezifischen charismatisch gestützten „epistemischen Autorität“ [9] ausstattet. Diese informelle Beratung kann wegen ihrer Intransparenz nicht vollends rekonstruiert werden, doch es scheint, dass Drosten in der entscheidenden Beratung am 12.03.2020 durch die persönliche Interpretation einer Studie zu den Effekten von sozialen Regulierungen in den USA bei der Spanischen Grippe Argumente für die politische Forderung nach weitreichenden sozialen Regulierungen einschließlich der Schulschließung vorgetragen hat [10]. Dieses Beratungswissen in Form einer mündlich geäußerten Expertenmeinung ist eng in die informelle Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik eingebunden und wirkt nur dank der epistemischen Autorität des Experten. Zusätzlich zu den informellen Beratungen werden in den einzelnen Bundesländern Expertenräte gebildet, die ihrerseits die Landesregierungen in der Pandemie beraten [11]. Diese sollten über einen höheren Organisationsgrad verfügen und damit öffentlich darstellen, welche Personen in diesen Räten mitarbeiten und welche Stellungnahmen sie entwickeln. Demgegenüber sind diese Räte jedoch in vielen Bundesländern intransparent und es ist unklar, wer dort welches Beratungswissen produziert. Eine weitere Form des in der Pandemie für die Politik bereitgestellten Beratungswissens sind Stellungnahmen als Ergebnis der Neuorganisation der Wissensproduktion entsprechend der politischen Zeitvorgaben. In kurzer Zeit werden diese programmatische Stellungnahmen sowohl zur Strategie als auch einzelnen Aspekten der Pandemiepolitik von wissenschaftlichen Verbänden entwickelt, wobei diejenigen der Leopoldina besonders relevant sind. Zum einen sind sie direkt mit der Zeitdynamik der politischen Entscheidungen verbunden, wie etwa die 7. Ad-hoc-Stellungnahme am 8.12.2020, die eine Empfehlung für die damals virulente Entscheidung über einen erneuten Lockdown formuliert [12]. Zum anderen plädieren sie wie die 3. Ad-hoc-Stellungnahme für einen nachhaltigeren Ansatz zur Pandemiebekämpfung, bei dem verstärkt die Interessen der Kinder und Jugendlichen beachtet werden sowie soziale und psychische Folgen der Regulierungen eine größere Rolle spielen [9]. In beiden Fällen sind es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern Ansichten von verschiedenen Wissenschaftlern, was zur Kritik an ihrer Aussagekraft geführt hat. Doch während wie im ersten Fall diese den politischen Kurs begründen und deshalb von politischen Akteuren zur Legitimation ihrer Entscheidungen herangezogen werden, distanzieren sie sich im zweiten Fall vom Vorgehen der Politik, was zur öffentlichen Kritik am Wert der Stellungnahme an sich führt [13, 14]. Hier lässt sich ein instrumenteller Umgang der Politik mit dem Beratungswissen der Wissenschaft erkennen. Bestimmte Expertise, die mit der Strategie der Politik konform ist, wird so dargestellt, dass ihr unbedingt gefolgt werden muss. Das sagte beispielsweise Bundeskanzlerin Merkel am 9.12.2020 im Bundestag in Bezug auf die Empfehlung der Leopoldina. Indes wird Expertise, die von der Strategie abweicht, wie etwa die Empfehlungen des wissenschaftlichen Netzwerkes um Prof. Schrappe [15], von der Regierung ignoriert. Zudem vernachlässigt die Regierung alternative Beratungsangebote. Schließlich gewinnt im weiteren Verlauf der primär informellen Politikberatung Beratungswissen auf der Basis von Modellierungen an Bedeutung. Nach Christian Drosten, der zu Beginn der Pandemie und dem ersten Lockdown seine wissenschaftliche Expertise in der Bund-Länder-Beratung einbrachte, wurden später Biologen, Physiker und Epidemiologen insbesondere aus der Helmholtz-Gemeinschaft in die Beratung einbezogen. Sie unterstützten den Ansatz einer strengen Kontaktbeschränkung zur Kontrolle der Pandemie im Herbst 2020 bei der Diskussion eines zweiten Lockdowns. Deren Beratungswissen basiert auf Modellierungen zur Abschätzung der weiteren Entwicklung, die jedoch mit Unsicherheiten betreffend die Parameter, die Szenarien, die Modellstruktur und den Output der Modellierung arbeiten [16]. Modelle sind sinnvolle Werkzeuge zur Ausmessung möglicher Entwicklungen, können aber durch die Überschätzung von Daten bzw. einfachen Kausalität nur bedingt die Wirklichkeit abbilden [17]. Wenn bereits kleine Schwankungen in den Parametern der Modelle große Effekte auf die errechneten Szenarien haben [2], können politische Maßnahmen damit nicht legitimiert werden. Andererseits werden die Experten gerade wegen ihrer „quantitativen Autorität“ [14] zur Beratung eingeladen, um dort „ergebnisorientierte Deutungen“ [19] anzubieten. Um die Beratung nicht zu enttäuschen, werden Wissenschaftler jedoch eher animiert, die Unsicherheit der Modellierungen zu vernachlässigen und zum Beispiel nicht mehr von Szenarien, sondern von Prognosen zu sprechen [20]. Damit verändert sich der Charakter von Modellierungen und sie werden zu Instrumenten einer technischen Rationalität, die zur Konstitution von Autorität in der politischen Steuerung der Krise eingesetzt werden [14].

4 Der Umgang mit Nichtwissen als Grundlage der Politikberatung

Zusammenfassend zeichnet sich die wissenschaftliche Politikberatung in Deutschland dadurch aus, dass sie flexibel und pragmatisch wissenschaftliche Experten in die politische Entscheidungsfindung integriert. Diese informelle Integration spart Zeit, wird aber durch ein hohes Maß an Intransparenz kompensiert. Weder ist klar, warum bestimmte Experten von der Politik gehört werden, noch auf welcher Grundlage ihre Expertise beruht. Zwar ist gerade zu Beginn der Pandemie unstrittig, dass Lothar Wieler als Chef des Robert-Koch-Instituts oder Christian Drosten wegen seiner epistemischen Autorität befragt werden. An welchen Kriterien die Auswahl der Expertise dann später erfolgte und von der SPD vorgeschlagene Experten nicht in die Beratung integriert wurden, entzieht sich der nachvollziehbaren Begründung und wird durch die Bundesregierung nicht aufgeklärt. Es wird vorerst auch nicht versucht, diese Form der Beratung durch gesetzliche Regelungen zu formalisieren. Somit wird etwa ein Gesetzesantrag der Grünen im September 2020 zur Etablierung eines Pandemierates, der transparent besetzt wird und damit Verantwortung übernehmen kann, nicht aufgenommen [21]. Ein weiteres Merkmal der wissenschaftlichen Politikberatung ist ihre Einseitigkeit, denn es dominieren biomedizinische und virologische Perspektiven, weshalb die Beratung als „Monokultur“ [22] kritisiert wird, die einzig einem „virologischen Imperativ“ [23] folgt. Damit wird jedoch ein produktiver epistemischer Pluralismus des Beratungswissens, bei dem unterschiedliche disziplinäre Perspektiven ein möglichst komplexes Bild der COVID-19 Pandemie bilden, ausgeschlossen [24]. Vor allem die Sozialwissenschaften werden nicht entsprechend befragt. Sicher, es gibt sozialepidemiologische Forschung innerhalb des Robert-Koch-Instituts, die 3. Ad-hoc Stellungnahme der Leopoldina, in der sozialwissenschaftliche Experten zu Wort kommen, und es wurden auch Daten über die psychologischen Folgen der Maßnahmen etwa im COSMO-Projekt erhoben. Jedoch in der relevanten Beratung, bei der die politischen Akteure ihre Strategie abklären und evaluieren, spielt diese Expertise keine große Rolle mehr [25], schon weil sie personell hier nicht vertreten ist.

Die Gründe für die einseitige wissenschaftliche Politikberatung sind vielfältig. Sicher hat die Politik die Beratung entsprechend ihrer politischen Ziele der Pandemiepolitik instrumentalisiert [12]. Zudem hatten die an der Beratung beteiligten Wissenschaftler ein Interesse daran, ihre Expertenmeinung zur Pandemie gegenüber anderen herauszustellen [26]. Schließlich hat die Öffentlichkeit zusammen mit der ungleich verteilten Medienkompetenz von Experten die Rationalitätserwartung an die Wissenschaften vorsortiert, indem sie etwa der Meinung Drostens besonders vertraute und von der Virologie und Epidemiologie hohe Erwartungen bei der Aufklärung hatte [27]. Der Status der sozialwissenschaftlichen Expertise leidet unter diesen Bedingungen und sie verliert an Bedeutung. Aber es ist vor allem die spezifische Bedeutung der Pandemie als Wissenskrise, in der die Konfrontation und der Umgang mit dem Nichtwissen die Hauptherausforderung darstellt, welche die Sozialwissenschaften systematisch von der Beratung ausschließt. Bis zum 12.3.2020 ist COVID-19 ein exklusives Problem der Public Health-Institutionen und ihrer Routinen zur Bearbeitung beziehungsweise Evaluation von Nichtwissen. SARS-CoV-2 ist zwar ein neues Virus, aber bis dahin vertrauen die politischen Akteure dem institutionalisierten Erfahrungswissen mit ähnlichen Krankheiten und schätzen die Gefahren entsprechend pragmatisch ein. Erst der Übergang zum Krisenmodus des Regierens verändert den Status des Nichtwissens. Insbesondere die medial vermittelten Bilder aus Norditalien zwingen zur Evaluation des Nichtwissens und lassen die Gefahr einer vollkommen neuen Krankheit real werden. Der damit verbundene politische Strategiewechsel hin zu einer aktiven Eindämmung der Infektionen wird jedoch nicht durch neues Wissen über COVID-19 begründet, sondern durch einen wissenschaftlich gestützten Paradigmenwechsel in der Beurteilung des Nichtwissens ermöglicht. Bis dahin wird Nichtwissen als Noch-Nicht-Wissen behandelt, weil davon ausgegangen wird, dass es zu einem späteren Zeitpunkt aufgeklärt werden kann [28]. Bis es soweit ist, kann dieses Nichtwissen, da es ja noch unbekannt ist, auch nicht zu einer Dramatisierung oder Relativierung von Gefahren genutzt werden. Gegen eine mögliche Panik wird Nichtwissen pragmatisch als „discovery through action“ bearbeitet [8], bei der die Entscheidungsträger stetig Maßnahmen entwickeln, deren Folgen bewerten und wenn nötig anpassen.

Die Abkehr von der pragmatischen Strategie und die Neuausrichtung der Politik im März 2020 war verbunden mit der Notwendigkeit, unmittelbar Entscheidungen herbeizuführen. Der Politik stand zu wenig Zeit zur Verfügung und sie konnte nicht mehr auf den Durchlauf von Feedback-Schleifen zur Evaluation ihrer Entscheidungen warten. Ironischerweise hat sie den Entscheidungsstress zum Teil mitverursacht, indem sie das stresserzeugende Echtzeitmonitoring der Infektionsdynamik, zunächst als wissenschaftlich basierte Metrik der Verdoppelungszeit, später als R-Wert und 7-Tagesinzidenz initiierte [29]. Dadurch bekam auch die Wissenschaft für ihre Erkenntnisgewinnung weniger Zeit. Jedoch bot die zeitliche Neuordnung der Situation, ausgelöst durch die Ereignisse in Italien und den damit verbundenen Entscheidungen anderer europäischer Länder zur Durchsetzung rigider Distanzierungsmaßnahmen, auch die Chance einer generellen Neubewertung des Nichtwissens. Statt wie bis dahin Nichtwissen über die Gefahr von COVID-19 in eine noch unbekannte Zukunft zu verlagern, woraus sich kein unmittelbarer Handlungsdruck in der Gegenwart ableiten lässt, also zunächst abgewartet werden sollte und nur lokale Vorsorgemaßnahmen zu treffen, wird das Nichtwissen nun in der Gegenwart zur Vergrößerung des Handlungsspielraums in der Pandemiepolitik genutzt. Dafür musste das Nichtwissen durch Schätzungen, Interpretationen oder Kalkulationen in vorläufiges Wissen umgewandelt werden. Ein populärer Fixpunkt dieser Transformation war der durch die Experten angestellte Vergleich mit der Spanischen Grippe, der das Nichtwissen über COVID-19 durch einen Analogieschluss in Wissen transformierte und für die Rechtfertigung strenger Maßnahmen verfügbar machte. Erst die Herstellung des historischen Zusammenhangs von sozialen Regulierungen (Schulschließung, Verbot öffentlicher Zusammenkünfte, Isolation/Quarantäne) und weniger Grippetoten in den USA rechtfertigte die Annahme, dass starke Einschränkungen des sozialen Lebens in der Gegenwart einen Effekt auf die Ausbreitung von Corona haben würde.

Die Sozialwissenschaften sind aus diesem Strategiewechsel der Pandemiepolitik ausgeschlossen, obwohl er auf ihr Objekt der sozialen Beziehungen zielt. Ein Grund dafür ist ihre gegenüber den biomedizinischen ‚Entdeckern‘ des Virus schwächere epistemische Autorität. Dies betrifft weniger das real verfügbare Problemwissen der Sozialwissenschaften, welches bezüglich der Wirksamkeit sozialer Regulierungen (Grenzen der politischen Steuerung von Gesellschaften), den sozialen Bedingungen von Infektionen (Wohnraumsituation, Familiensituation) als auch den Folgen der Regulierungen (psychologische Folgen, Entwicklungsstörungen, Ungleichheit) dem virologischen beziehungsweise epidemiologischen Wissen überlegen ist, sondern die öffentliche Erwartung an die Wissenschaft. Die Konzentration auf die Autorität der Virologie fixierte das Nichtwissensproblem auf die Mikroperspektive, vermutlich, weil den gesellschaftlichen Routinen der Risikoverarbeitung nicht mehr vertraut und die routinierte Nichtwissensverarbeitung generell zur Disposition gestellt wurde. Demgegenüber verweisen die Sozialwissenschaften auf die Normalität des Nichtwissens. Nichtwissen ist immer Teil sozialer und damit auch wissenschaftlicher Wissensproduktion, da Disziplinen, Theorien oder Methoden nur einen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit erfassen können. Indem die Sozialwissenschaften die Kontingenz des Wissens anhand seiner sozialen Genese kontextualisieren, lässt sich auch das darin eingebundene Nichtwissen explizit machen. Der kontextualisierende Nichtwissensansatz der Sozialwissenschaften zeigt, wie moderne Gesellschaften kollektive Regeln der Nichtwissensbearbeitung (Beobachtungsroutinen, Erfahrungswissen, Institutionen der Risikobewertung) entwickelt haben, die soziales Leben unter Risiko dennoch ermöglichen. Mit diesem pragmatischen Blick auf das Nichtwissen konnten die Sozialwissenschaften die im März 2020 politisch geforderte Routineunterbrechung des sozialen Lebens nicht begründen, da sie der radikalen Neubewertung des Nichtwissens nicht folgen konnte. Das heißt nicht, dass Sozialwissenschaftler nicht auch der Ansicht waren, dass starke Regulierungen notwendig sind. Sie konnten dies aber nicht wissenschaftlich begründen und das Nichtwissen zu COVID-19 zu einer real unkontrollierbaren Situation umdeuten. Das unterminiert die Funktionalität der Sozialwissenschaften für die von der Politik erwartete Beratungsleistung in der Krise, nämlich die Rechtfertigung weitreichender Entscheidungen für die Pandemiepolitik durch ein verändertes Verständnis des Nichtwissens (und nicht des Wissens). Hingegen liegt es im Vermögen der Sozialwissenschaften, dieses Nichtwissen mit der Gesellschaft als Ganzes zu verbinden und daraus Schlüsse für das Pandemiemanagement im Sinne eines „verantwortbaren Nichtwissens“ [19] zu ziehen. Das auf diese Kompetenz verzichtet wurde, hat vor allem einen funktionalen Grund. Wie gezeigt, stellt der sozialwissenschaftliche Nichtwissensansatz jede wissenschaftliche Begründung politischer Entscheidungen vor dem Hintergrund des verfügbaren Wissens und Nichtwissens zur Disposition. Sicher gilt das Argument, dass zu Beginn der Krise, die Politik keine Zeit für die diskursive Lösung dieser blinden Flecken der Expertise hatte. Doch spätestens nach der ersten Welle, hätte diese Nichtwissensstrategie auch bei der Evaluierung der Maßnahmen sinnvolle Aufklärung geleistet und die Sozialwissenschaften ein fester Bestandteil der Politikberatung sein sollen.