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1 Vielfalt digitaler Initiativen

Früh nach Beginn der COVID-19 Pandemie entstanden zahlreiche parallele Initiativen, ihre Bewältigung durch digitale Instrumente zu unterstützen. Diese wurden auch von der Bundesregierung unterstützt, beispielsweise in Form von sogenannten Hackathons im Rahmen der Initiative „Wir vs. Virus“[1]. Bei einem Hackathon sollen in kürzester Zeit, möglichst informell und möglichst kreativ, neue digitale Tools (Werkzeuge) programmiert (gehackt) werden, um ein Problem zu lösen. Die Initiative erfreute sich – auch aufgrund der großen Hilfsbereitschaft aus „fachfremden“ Disziplinen – großer Resonanz: 27.000 Teilnehmende beteiligten sich mit ungefähr 1500 Projekten. Hierbei wurden sehr unterschiedliche Ansätze verfolgt. Die Instrumente, die in der Pandemie tatsächlich in nennenswerten Umfang zum Einsatz kamen, hatten ihren Ursprung allerdings nicht in der Hackathon Initiative. In Tab. 1 sind einige der relevantesten neuen Ansätze einander gegenübergestellt.

Tab. 1. Ausgewählte digitale Systeme im Pandemie-Management

Man erkennt den Systemen an, dass diese sehr geprägt waren von dem Bestreben, Identifizierung von Kontakten zu Infizierten sowie die Betreuung und Quarantäne der Kontaktpersonen zu optimieren. Das individuelle, behördlich betreute Kontaktpersonenmanagement ist normalerweise ein Instrument in der Frühphase einer Epidemie; es sollte eigentlich zugunsten anderer Maßnahmen verworfen werden, sobald die geographische Eingrenzung einer Epidemie sowieso nicht mehr effizient zu erreichen ist. Angesichts dieses Grundsatzes war es auch schlüssig, mit Hilfe digitaler Methoden zu versuchen, den Personalaufwand beim individuellen Kontaktpersonenmanagement zu reduzieren. Belastbare Studien, bis zur welcher Phase der Pandemie dieser Ansatz effizient war, kommen allmählich zum Vorschein. Vermutlich wird sich zeigen, dass behördlich umgesetztes Kontaktpersonenmanagement früher zugunsten anderer Bewältigungsstrategien aufgegeben hätte werden sollen. Ob der Ansatz der Expositionsregistrierung bei Veranstaltungen und in der Gastronomie – mit oder ohne digitale Unterstützung – zu irgendeiner Phase der Pandemie einen nennenswerten Beitrag zu ihrer Bewältigung leisten konnte, erscheint fraglich [2].

Etwas außerhalb der Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes fällt die SafeVac-App. Sie stellt die Erfassung unerwünschter Wirkungen nach Impfung auf ganz neue Beine. Diese App hatte das Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung (HZI) gemeinsam mit Paul Ehrlich Institut (PEI) am Beispiel von Influenza lange vor Beginn der Pandemie entwickelt [3]. Die SafeVac-App erfasst unerwünschte Wirkungen prospektiv im Kohortenansatz in zeitlich und inhaltlich standardisierter Weise. Damit bietet es einerseits einen klaren Nenner und andererseits reduziert es das Risiko für Verzerrungen, die beim üblichen Spontanmeldesystem unerwünschter Wirkungen unausweichlich sind. Leider wurde dieses System gerade im Vergleich zur Corona-Warn-App sehr zögerlich angepasst und beworben, so dass es sein wirkliches Potential nicht recht entfalten konnte. Sie wurde zwar auch um einer Erfassung zur Wirksamkeit erweitert, allerdings offenbar nicht so, dass diese als Grundlage für die Analyse der Impfwirksamkeit hätte dienen können [4]. Vermutlich hätte dieses Instrument – entsprechend umgesetzt – die Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfungen verbessern und so noch besser zu gezielteren und besser akzeptierten Impfstrategien beitragen können.

2 Konzeptionelle Schranken im Infektionsschutzgesetz

Mit Einführung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) Ende im Januar 2001, wurde die behördliche Rolle im Bereich des Infektionsschutzes zurückgenommen zugunsten einer stärkeren informationellen und gesundheitlichen Selbstbestimmung [5]. Interessanterweise hat der Gesetzgeber diesen Ansatz in etwa nach jeder etwas größeren Epidemie in Deutschland, also auch schon vor der COVID-19 Pandemie, schrittweise wieder rückgängig gemacht. So wurden vormals aus der Meldepflicht entfernte Krankheiten wieder in die Meldepflicht aufgenommen und eine zentrale Datenhaltung personenbezogener Daten von Patienten im Rahmen des Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystems für den Infektionsschutz (DEMIS) eingeführt [6]. Mit Beginn der Pandemie erließ der Gesetzgeber dann in rascher Folge eine Vielzahl tiefergreifender Änderungen und Ergänzungen im IfSG, die teils miteinander im Widerspruch waren, mindestens aber den ursprünglichen Ansatz des IfSG widersprachen oder von den jeweils betroffenen Behörden, wie dem RKI, gar nicht umgesetzt wurden [7]. Die Einzelheiten hierzu würden einen separaten Vortrag erfordern. Der Gesetzgeber schien einerseits recht mutig, private und betriebliche Freiheiten tiefgreifend zu regulieren. Zugleich schien er davor zurückzuschrecken, im ÖGD einheitliche Verfahren entsprechend der epidemiologischen Bedürfnisse durchzusetzen. So ist bis heute die Erfassung von Daten nicht erlaubt, die für eine risikoadaptierte Pandemie-Bewältigungsstrategie unerlässlich sind. Daten, wie etwa eine anonymisierte Erfassung der beruflichen Tätigkeit von Infizierten, werden zwar von örtlichen Gesundheitsämter erhoben, dürfen aber weder an die Landesbehörden noch an das RKI übermittelt werden. Auch die digitale, zeitnahe standardisierte einzelfallbasierte Erfassung COVID-bedingter Todesfälle oder Aufnahmen auf Intensivstation sind bis heute nicht oder völlig unzureichend umgesetzt.

Neben diesen Einzelpunkten ist seit über 20 Jahren ein grundsätzlicher Konzeptwiderspruch innerhalb des IfSG unangetastet geblieben. Dieser Widerspruch stellt ein weitreichendes Hemmnis für eine moderne digitale Kommunikationsarchitektur im deutschen ÖGD dar: Mit Umsetzung des IfSG war Deutschland im Jahr 2001 eines der ersten europäischen Länder mit einer digitalen, einzelfallbasierten Übermittlung von den örtlichen Gesundheitsämtern, über die Landesstellen an die zuständige Bundesoberbehörde – in Deutschland das RKI [8]. Leider aber hatte der Gesetzgeber nicht bedacht, dass diese entscheidende Verbesserung erstens einen sequentiellen und zweitens mit Fristen belegte hierarchischen Übermittlungsprozess überflüssig machte. Dies führte zu einer Informationseinbahnstraße, mit gebremsten und asynchronen Informationsstand auf den verschiedenen administrativen Ebenen. Dies ist der gesetzliche und strukturelle Hintergrund für die Tatsache, dass es Behörden auf kommunaler Ebene, Bezirks-, Landes- und Bundesebene oft nicht gelang, für denselben Zeitpunkt und Ort einheitliche Meldezahlen zu kommunizieren. Zugegeben ist diese von vielen kritisierte Ungenauigkeit nur in der Initialphase einer Epidemie wirklich relevant, aber es zeigt den Fehler in der Informationsarchitektur auf, der sich im Hintergrund noch viel schwerwiegender auswirkt.

Eng gekoppelt an diesem „Architekturfehler“ des IfSG ist die Tatsache, dass Gesundheitsämter keine medienbruch-freie, digitale Möglichkeit haben, Informationen untereinander auszutauschen, was gerade beim Infektionsschutz besonders wichtig ist. In Abb. 1 wird der Berichtsweg mit dem inzwischen verfügbaren DEMIS (Deutsches Elektronisches Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz) veranschaulicht. Die horizontale Kommunikation, also die der Gesundheitsämter untereinander, erfolgt (mit Ausnahme von SORMAS Pilotgesundheitsämtern) immer noch über Fax, Telefon oder Post mit den damit einhergehenden Personalaufwänden, Verzögerungen und Fehlerquellen.

Abb. 1.
figure 1

Vertikaler, unidirektionaler und sequenzieller Berichtsweg des Infektionsschutzgesetzes (Eigene Darstellung)

Glücklicherweise ist die Anzahl der Medienbrüche zwischen den Laboren und den Gesundheitsämtern inzwischen mit Einführung von DEMIS deutlich reduziert worden. Seit 2013 arbeitete das RKI im Rahmen einer Forschungsförderung des Bundes an DEMIS [8, 9]. Dessen Einführung verzögerte sich aber mehrfach, so dass es zu Beginn der Pandemie noch nicht produktiv war [12]. In der zweiten Hälfte 2020 konnten eine zunehmende Zahl Labore ihre Laborergebnisse auf elektronischem Weg an das Gesundheitsamt übermitteln, wozu der Gesetzgeber Anfang 2021 auch die Labore verpflichtete [11]. Eine Anfang 2022 erfolgte Ausweitung dieser Verpflichtung auf Krankenhäuser ist bislang (September 2023) nur von wenigen Einrichtungen umgesetzt worden. DEMIS hat bislang weder die Architektur noch die technische und datenschutzrechtliche Grundlage, die Arbeitsprozesse innerhalb des Gesundheitsamts ab Eingang der Meldung digital zu unterstützen. Hierzu nutzen die Ämter mindestens eines von 7 recht unterschiedlichen IfSG-Fachanwendungen, wovon eine vom RKI selbst bereitgestellt, die übrigen von mittelständischen Softwareherstellern kommerziell vertrieben werden. Keine dieser IfSG-Fachanwendungen allerdings ermöglicht im Gegensatz zu SORMAS den integrierten digitalen Datenaustausch zwischen Gesundheitsämtern.

3 Notwendigkeit eines digitalen Prozessmanagements im öffentlichen Gesundheitsdienst

Gute und zeitgerechte Daten sind die Grundlage für zielgerichtetes und rechtzeitiges Handeln, aber sie allein setzen noch keine Quarantäne um, organisieren noch nicht die Betreuung der Kontaktpersonen und koordinieren noch nicht die vielen Fach- und Hilfskräfte im Gesundheitsamt, die zum Beispiel den Ursprung einer neuen Epidemie erkunden, eine Riegelungsimpfung oder eine prophylaktische Therapie organisieren. Es mangelt nicht nur an Daten, sondern vor allem auch am effektiven Management der Maßnahmen. Wohl jeder Mensch kann Beispiele aus seinem persönliche Umfeld nennen, wie unterschiedlich Gesundheitsämter identische Vorgänge abarbeiten, für die es einheitliche Empfehlungen des RKI gibt. Es mangelt an Standardisierung, was auch eine Folge dessen ist, dass viele Prozesse personalaufwändig individuell vollzogen werden, die eigentlich digital unterstützt werden könnten. Es gibt viele Situationen auch außerhalb einer Pandemie, die nicht mit dem sprichwörtlichen Fax, Ordner und einer Serie von Emails sachgerecht gesteuert und dokumentiert werden können. Als Beispiel seien Häufungen viraler Durchfallerkrankungen in Kindergärten, respiratorische Infekte in Altersheimen oder Affenpocken bei jungen Männern genannt.

Auch international zeigen jüngste systematische Recherchen und Befragungen, dass es zwar unzählige redundante digitale System zur Erfassung von Daten gibt, aber nur sehr wenige Systeme, die ihren Fokus auf die digitale Unterstützung behördlicher Interventionsmaßnahmen haben, wie sie in Abb. 2 skizziert sind [13]. Die Erstellung eines solchen Systems erfordert ein viel tieferes fachliches Verständnis und eine grundlegend andere IT-Architektur als bei einem System, das lediglich Daten zusammenträgt und weiterleitet. Der konzeptionelle Aufwand eines integrierten Prozessmanagementsystems ist im Verhältnis zur seinem Kommerzialisierungspotential sehr viel höher als bei einem reinen Datenerfassungssystem. Das Fehlen solcher Systeme ist möglicherweise auch Ausdruck zusätzlicher Effekte: Zum einen reduzieren die entsprechenden Gesetzgebungen (IfSG und entsprechende Landesgesetzgebungen) den ÖGD fast zu einer Berichterstattungsmaschinerie, weil sie diesen Bereich sehr detailliert regeln, während sie den interventionellen Bereich nur kursorisch adressieren. Dies mag an vielen Orten dazu führen, dass die örtlichen Gesundheitsämter ihren Personalbedarf überwiegend über die nicht verhandelbaren, mechanistischen Berichtspflichten legitimieren müssen, womit sie sich gleichsam selbst zu einer berichterstattenden Behörde reduzieren. Ein weiterer Faktor mag sein, dass manche Geschäftsmodelle im IT-Bereich darauf aufbauen, die erhobenen Daten selbst zu kommerzialisieren. Dies verbietet sich selbstverständlich bei medizinischen Daten, die gemäß IfSG ohne Zustimmung der betroffenen Individuen von den Gesundheitsämtern erhoben werden können. Die oben genannten Rahmenbedingungen stellen vermutlich keinen großen Anreiz für IT-Industrie dar, für die Prozesse innerhalb des ÖGD entsprechende Produkte für ein komplexes integriertes Prozessmanagement zu entwickeln.

Abb. 2.
figure 2

Vereinfachtes Modell eines vernetzten Prozessmanagements in der Epidemie-Bekämpfung ((Eigene Darstellung)

Wie sehr diese Aspekte sich auch auswirken mögen, es bleibt auffällig, dass insbesondere die vom Bund entwickelten digitalen Systeme im Infektionsschutz, wie zum Beispiel SurvNet, DEMIS und ARS, sich weitgehend auf das Melden oder Berichten von Fällen beschränken [14,15,16]. Dies entspricht auch der im IfSG gespiegelten, subsidiären Aufteilung von Zuständigkeiten im föderalen System und ist daher argumentativ schlüssig. Aber es führt dazu, dass der ÖGD auch im dritten Jahr der Pandemie nicht dafür aufgestellt ist, eine große Zahl von Betreuungs- und Interventionsmaßnahmen digital unterstützt zu bewältigen.

Die Digitalisierung im ÖGD darf sich daher nicht damit begnügen, Berichtspflichten abzuwickeln, sondern muss vielmehr den Fokus darauf legen, die Managementprozesse im präventiven und interventionellen Bereich zu standardisieren und effizienter zu gestalten. Abb. 2 zeigt vereinfacht und exemplarisch, dass sich aus diesem Anspruch ein völlig anderer Informationsfluss ergibt, der wiederum eine andere Systemarchitektur erfordert als ein reines Berichtssystem.

Ein vernetztes, digitales Prozessmanagement hat den Anspruch, unterschiedliche Akteure innerhalb eines digitalen Steuerungssystem zu verbinden. Zum Beispiel: Epidemiolog:innen untersuchen den Hinweis auf einen Ausbruch und veranlassen unter anderem die Erhebung von Proben, die von Laboren untersucht werden. Die entsprechenden Ergebnisse bilden einen Teil der Indikationsstellung für bestimmte Interventionsmaßnahmen. Im System erfolgt dann der Auftrag zur Umsetzung dieser Maßnahme an dafür spezialisierte Akteure, die im selben System den Vollzug der Maßnahme dokumentieren. Dieser Regelkreis erleichtert dann wiederum eine systematische Analyse über die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen und Strategien.

Es handelt sich um ein System, das weniger einen Berichtsweg abarbeitet, sondern die Digitalisierung dazu nutzt, Aktionen miteinander abzustimmen. Statt in einer derzeit etablierten unidirektionalen, hierarchischen und sequentiellen Informationskette, drückt sich ein integriertes Prozessmanagementsystem mit Prozessalgorithmen und vernetztem, multidirektionalen Informationsaustausch aus und spiegelt somit nicht nur die praktische Arbeitsweise der Epidemie-Bekämpfung, sondern auch die Ausbreitung einer solchen besser wider.

4 Beispiel SORMAS

Unter den digitalen open source Systemen, die international im Einsatz sind, bietet das SORMAS (Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System) eines der vielfältigsten und ganzheitlichsten Prozessmanagement-Portfolios (siehe Tab. 2) [14]. Ursprünglich anlässlich Westafrikas Ebola-Epidemie entwickelt, wird es inzwischen in über 10 Ländern in 5 der 6 WHO-Regionen für über 40 epidemische Krankheiten eingesetzt und hat erfolgreich die Bewältigung einiger der größten Epidemien von Affenpocken, Masern, Lassa-Fieber und Meningitis unterstützt [14,15,16,17,18]. Ein Alleinstellungsmerkmal von SORMAS ist die oben geforderte Integration des Prozessmanagements von Maßnahmen mit dem Erkennen, der Berichterstattung und Analyse von Epidemien innerhalb eines einheitlichen Systems. Dies hat vermutlich dazu beigetragen, dass insbesondere mit Ausbruch der COVID-19-Pandemie die Zahl der SORMAS nutzenden Länder zugenommen hat. Zudem integriert SORMAS zahlreiche sehr unterschiedliche Akteure innerhalb eines IT-Systems und ermöglicht so das vernetzte gleichzeitige Zusammenspiel, wie in den Abb. 2 und 3 schematisch dargestellt. Insbesondere im Vergleich mit Abb. 1 zeigt sich die grundlegend andere Konzeption gegenüber dem traditionellen Ansatz eines überwiegenden Berichtssystems.

Tab. 2. Funktionsunterschiede bei 4 international im Einsatz befindlichen digitalen Systeme im Epidemie-Management mit dem breitesten Funktionsportfolio nach Silenou et al. [14]
Abb. 3.
figure 3

(Eigene Darstellung)

Synopsis zur zeitgleichen Integration der diversen Akteure im Epidemiemanagement am Beispiel von SORMAS

Die pilotierende Einführung von SORMAS von Juli 2020 bis Dezember 2022 hat der Bund im Rahmen einer Forschungsförderung finanziert. Allerdings geschah dies unter den Vorgaben, Einzelinstanzen für jedes Gesundheitsamt separat zu betreiben, die Übermittlung nur über Schnittstellen zu bereits vorhanden IFSG Fachanwendungen zu vollziehen und seine Dienste ausschließlich für COVID-19 zu öffnen. Mit diesen Vorgaben war SORMAS in Deutschland nur gedrosselt einsetzbar und konnte seine oben erwähnten Alleinstellungsmerkmale nicht zur Geltung bringen. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber die Einführung von SORMAS, anders als etwa bei DEMIS bereits im Jahr 2017, nicht mit entsprechenden gesetzlichen Grundlagen versehen hat [6]. Prominente politische Willensbekundungen zur Einführung gipfelten zwar in Form von Ministerpräsidentenbeschlüssen, blieben aber ohne dazu passende gesetzliche Umsetzung [19]. Dies ist ein Beispiel für die oben geschilderte Beobachtung, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Pandemie zwar in vielen Lebensbereichen sehr weitreichend regulierend eingriff, dabei aber den die Digitalisierung im ÖGD nahezu unberührt ließ.

Gleichwohl wird SORMAS auch künftig für Gesundheitsämter in aller Welt – einschließlich der deutschen – als Lizenzkosten-freie open source Software weiter verfügbar sein. Da Zahl der SORMAS nutzenden Länder weiter zunimmt, hat das HZI im Sommer 2022 die gemeinnützige „SORMAS Foundation“ gegründet [17]. Ihr Stiftungszweck ist die nachhaltige internationale Förderung des ÖGD, insbesondere der Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten, der Entwicklungszusammenarbeit sowie der Wissenschaft und Forschung zum Wohle der Allgemeinheit. Sie verwirklicht diesen Zweck durch Entwicklung, Förderung und Implementierung digitaler Systeme zur Unterstützung öffentlicher nationaler und internationaler Organisationen bei der Früherkennung und Eindämmung von Epidemien im lokalen und internationalen Kontext. Die Stiftung nutzt SORMAS als Leitsystem, beschränkt seine Aktivitäten jedoch nicht darauf.

5 Empfehlung zur Digitalisierung im öffentlichen Gesundheitsdienst

Die heterogenen, lokal betriebenen IT-Strukturen, mit denen Gesundheitsämter im Infektionsschutz arbeiten, müssen zugunsten einer wirklich einheitlichen, zentral betriebenen Anwendung überwunden werden. Schnittstellen, Medienbrüche und heterogene Technologieansätze mögen in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung ihre Berechtigung haben – im Infektionsschutz jedoch nicht. Zumindest diese Erkenntnis sollten die Erfahrungen der ersten Pandemiejahre dieses Jahrtausends gebracht haben.

Dringend sind klare gesetzliche Regelungen zur Digitalisierung im ÖGD erforderlich, mit dem Ziel die Zahl der Schnittstellen auf ein Minimum zu reduzieren und die Architektur primär am vernetzen Prozessmanagement, statt am administrativen Berichtswesen zu orientieren. Dies hat dann auch das Potenzial, Gesundheitsämter von einem Umstieg auf ein einheitliches System zu überzeugen. Im Sinne der Nachhaltigkeit und der Herstellerunabhängigkeit sollte ein solches System dem Koalitionsvertrag entsprechend als source system etabliert werden. Eine Einführung eines solchen Systems unter den organisatorischen und finanziellen Beschränkungen einer Forschungsförderung hat sich sowohl bezüglich DEMIS als auch bezüglich SORMAS als untauglich erwiesen. Stattdessen sollte eine Maßnahme von derartiger Tragweite als nationales Programm organisatorisch wie finanziell entsprechend nachhaltig aufgesetzt werden.