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Seit über zwei Jahren hält uns die Corona-Pandemie in Atem. In dieser Zeit ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG), die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Bekämpfung des Virus, mehr als zehnmal geändert worden; sind Abertausende Gerichtsentscheidungen ergangen, die oft auch verfassungsrechtliche Fragen zum Gegenstand hatten; sind unzählige Aufsätze, Bücher, Gutachten und weitere Stellungnahmen von Juristen erschienen, die alle denkbaren verfassungsrechtlichen Aspekte aus verschiedenen Blickwinkeln und mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen untersucht haben.

Es versteht sich von selbst, dass im vorliegenden Beitrag der Fülle der Probleme nicht annähernd nachgegangen werden kann. Der Beitrag beschränkt sich daher in hochselektiver Weise auf ausgewählte Gesichtspunkte und behandelt auch diese eher kursorisch. Wir werfen einen Blick zurück (1), einen Blick auf aktuelle Probleme (2) und einen Blick in die Zukunft (3).

1 Ein Blick zurück

1.1 Die Rechtsgrundlage des § 28 IfSG als Problem von Rechtsstaat und Demokratie

Zu Beginn der Pandemie stützten sich die Maßnahmen auf § 28 des Infektionsschutzgesetzes. Die Norm lautete: „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten oder Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind.“

Diese kleine und unscheinbare Norm, die vor der Pandemie nur wenigen Spezialisten geläufig gewesen sein dürfte, besagt im Kern: „Wenn es Infektionen gibt, erlässt die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen.“ Regelungstechnisch verknüpft das IfSG diese generalklauselartige Ermächtigungsgrundlage mit einigen Regelbeispielen und weiteren Maßnahmen wie der Beobachtung (§ 29), der Quarantäne (§ 30) und dem beruflichen Betätigungsverbot (§ 33), die aber in unserem Falle keine Rolle spielen. Schon der Wortlaut des § 28 IfSG legt die Vermutung nahe, dass die Regelung vor allem dazu gedacht war, ein lokales Infektionsgeschehen mit den jeweils erforderlichen (und darum nicht näher spezifizierten) Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Man kann sich vielleicht als prototypischen Vorgang, der dem Gesetzgeber beim Erlass der Norm seinerzeit vor Augen gestanden haben mag, den Masernausbruch an einer Schule vorstellen – oder einen bakteriell verunreinigten Dorfteich oder einen Virusausbruch auf einem Kreuzfahrtschiff. Dem Vorstellungsbild des Gesetzgebers entsprach auf jeden Fall ein eher lokales oder gar punktuelles sowie zeitlich begrenztes Infektionsgeschehen. Er hätte es sich vermutlich nicht träumen lassen, dass aufgrund dieser Norm das ganze Land in den Lockdown geschickt und die Wirtschaft heruntergefahren würde, dass man das Kulturleben, die Kitas, Schulen und Universitäten stillstellte und die Freiheitsrechte praktisch der gesamten Bevölkerung in einer nie dagewesenen und vorher nie für möglich gehaltenen Weise massiv einschränkte.

Durch Gesetz vom 23. März 2020 (BGBl. I S. 587) wurde § 28 IfSG geändert. Die Änderungen fielen allerdings marginal aus: Das Betretungsverbot wurde allgemein auf „öffentliche Orte“ erstreckt; der Schlusshalbsatz von § 28 Abs. 1 Satz 2 („bis die notwendigen Maßnahmen durchgeführt worden sind“) ersatzlos gestrichen; „eine größere Anzahl von Personen“ wurde durch „Personen“ ersetzt. Das war gewissermaßen eine minimalinvasive Operation. Bei wohlwollender Interpretation wird man annehmen können, dass der Gesetzgeber durch diese Änderungen die Norm auf sehr viel größere und länger andauernde Prozesse umstellen wollte und damit zugleich die Heranziehung des § 28 IfSG als zentrale Ermächtigungsnorm für die Pandemiebekämpfung akzeptierte. Im Übrigen blieb es jedoch bei der Ursprungsfassung. Unverändert bildeten die dürren Worte des § 28 Abs. 1 („Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt…“) den Tatbestand. Als Rechtsfolge fungierte ebenso unverändert allein die Aussage, dass in diesem Fall „die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen [trifft], […] soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.“ Bis zum November 2020 beließ man es bei dieser typischen Generalklausel, auf die allein man die umfänglichen Beschränkungsmaßnahmen stützte. Sie lässt ein außergewöhnlich breites und vom Gesetz nicht näher determiniertes oder eingeschränktes Spektrum von Maßnahmen zu. Das wirft ein zentrales Problem auf.

Das Problem heißt: Wesentlichkeitslehre. Diese sowohl im Demokratie- wie im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde und in Judikatur wie Literatur fest verankerte Lehre besagt, dass alle wesentlichen Entscheidungen, namentlich solche, die Grundrechte betreffen, vom Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen – und nicht an die Exekutive delegiert oder in Gestalt einer Generalklausel den im Einzelfall entscheidenden Behörden überlassen werden können. Der Gesetzgeber darf also die Regelung der Voraussetzungen für Einschränkungen der Grundrechte sowie deren Modalitäten nicht durch blankettartige Eingriffsermächtigungen der Verwaltung überlassen. Die Pandemiebekämpfung mit ihren außerordentlich weitreichenden und praktisch die gesamte Bevölkerung betreffenden Grundrechtseinschränkungen bildet nun geradezu den Musterfall für die Anwendung der Wesentlichkeitslehre. So konnte es nicht überraschen, dass besonders in der rechtswissenschaftlichen Literatur die Tauglichkeit des § 28 IfSG als verfassungsrechtlich hinreichende Ermächtigungsgrundlage für Einschränkungsmaßnahmen bezweifelt wurde – und zwar, je länger die Pandemie andauerte, desto nachdrücklicher. Auch die Gerichte wiesen teils schon früh auf diesen prekären Punkt hin, ohne die Maßnahmen deswegen für nichtig zu erklären. Doch im Spätsommer wurden die Gerichte, unter anderem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, immer deutlicher und ließen erkennen, § 28 IfSG alsbald nicht mehr als hinlängliche Rechtsgrundlage zu akzeptieren. Dahinter stand die absolut nachvollziehbare Überlegung, dass zu Beginn der Pandemie der Rückgriff auf die Norm angesichts der großen Herausforderungen und der allgemeinen Ungewissheit ohne Zweifel nicht zu beanstanden war: aber bestenfalls für eine kurze Zeit, nicht für ein Dreivierteljahr. So wird man nicht ganz fehlgehen in der Annahme, dass es – neben den kritischen Stimmen aus der Rechtswissenschaft und Forderungen der Oppositionsfraktionen im Bundestag – vor allem die erwähnten deutlichen Hinweise aus der gerichtlichen Spruchpraxis waren, die die Regierungsfraktionen dazu bewogen haben, hier in Gestalt des § 28a IfSG signifikant nachzubessern.

§ 28a IfSG, eingefügt durch das „Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397), stellt eine spezifisch auf die Corona-Pandemie zugeschnittene Norm dar. Man listete hier in 17 Punkten so gut wie alle Typen von Maßnahmen auf, die sich bis dahin auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel (in Verbindung mit den Rechtsverordnungen der Länder gemäß § 32 IfSG) hatten stützen müssen: Abstandsgebot, Maskenpflicht, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Betretungsverbote, Betriebs- und Geschäftsschließungen, Untersagung von Veranstaltungen und andere mehr. Das waren zwar weiterhin nicht abschließend aufgezählte Regelbeispiele, die auch nicht in eine hierarchische Ordnung gebracht wurden. Allerdings wurden nunmehr ausdrücklich die Ziele der zu ergreifenden Maßnahmen benannt (der Schutz von Leben und Gesundheit sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems); zudem wurden anhand von Inzidenzwerten in grober Typisierung Schweregrade mit entsprechend höheren oder niedrigeren Eingriffsschwellen vorgegeben. Insgesamt sind die tatbestandlichen Voraussetzungen, die sich zuvor in den spärlichen Anforderungen des § 28 Abs. 1 IfSG („Werden Kranke, Krankheitsverdächtige [etc.] festgestellt, […]“) erschöpften, deutlich geschärft. Auch die neue Vorgabe, Rechtsverordnungen gemäß § 32 IfSG nunmehr mit einer allgemeinen Begründung zu versehen (§ 28a Abs. 5 IfSG), ist aus rechtsstaatlicher wie demokratischer Warte zu begrüßen. Obgleich mit alledem die infektionsschutzrechtlichen Normen noch nicht die Präzision gefahrenabwehrrechtlicher Standardbefugnisse erreicht haben, so ist doch insgesamt ein erheblicher Gewinn an rechtsstaatlicher Bestimmtheit und demokratischer Legitimation zu verzeichnen.

Das ändert allerdings nichts daran, dass der Bundestag deutlich früher hätte handeln müssen. Doch war der Unwille der seinerzeitigen Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD, gesetzliche Regelungen zu treffen, mit Händen zu greifen.

1.2 Einfügung des § 28b IfSG („Bundesnotbremse“) im April 2021

Die Einfügung der sogenannten Bundesnotbremse, also des § 28b IfSG, durch das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 22. April 2021 (BGBl. I S. 802) bewirkte eine signifikante Abweichung vom bisherigen Regelungsmodell. Dieses hatte so ausgesehen, dass die Länder von der Verordnungsermächtigung des § 32 IfSG Gebrauch machten und die Maßnahmen in den Ländern – mehr oder minder einheitlich nach den nicht bindenden Absprachen in der Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten – anordneten. Nun kam es zu einem Systemwechsel. Das Bundesgesetz selbst regelte bis ins Detail die nunmehr bundeseinheitlich geltenden Schutzmaßnahmen gemäß einem Modell, das sich allein an der Zahl der Neuinfektionen orientierte. Es handelte sich um ein sogenanntes selbstvollziehendes Bundesgesetz, das also keiner Umsetzung durch die Länder mehr bedurfte, sondern die Rechtsfolgen selbst regelte. Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 griffen so in allen Kreisen oder kreisfreien Städten der Bundesrepublik ohne anderweitige Regelungsmöglichkeit durch die Länder bundesweit die gleichen Beschränkungen: unter anderem Ausgangsbeschränkungen; Schließung aller Freizeiteinrichtungen, aller Kulturstätten (Theater, Opern, Konzerthäuser, Museen und Gedenkstätten) sowie Kinos; Schließung der Gaststätten; Untersagung körpernaher Dienstleistungen; Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr. Ab einem Schwellenwert von 165 wurde Präsenzunterricht auch in der Form von Wechselunterricht untersagt. All dies wurde extrem detailliert und kleinteilig geregelt. Im Grunde handelte es sich um eine Art von zentralistischem Overkill. Ein Beispiel: Auf der Insel Helgoland lag zum fraglichen Zeitpunkt die Inzidenz bei exakt Null. Da Helgoland aber zum Kreis Pinneberg gehört, der ganz erhebliche Inzidenzzahlen aufwies, galten auf der Insel die gleichen strengen Regeln wie im Kreis. So funktioniert Zentralismus.

Mittlerweile ist die Norm Rechtsgeschichte, da sie gemäß § 28b Abs. 10 IfSG am 1. Juli 2021 außer Kraft getreten ist. Rechtsgeschichte sollte sie auch bleiben, denn eine Wiederholung dieses Schrittes empfiehlt sich keineswegs. Dennoch können wir die Norm noch nicht ganz zu den Akten legen, da es eine der wenigen Corona-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hierzu gibt. Das Gericht hat in seinem Beschluss vom 19. November 2021 (1 BvR 781/21 und andere) praktisch alle problematischen Punkte der Bundesnotbremse als verfassungsgemäß eingestuft, was nicht immer überzeugen kann – einmal ganz abgesehen davon, dass das Gericht die völlig unproblematische Kompetenzfrage lang und länglich und unter Heranziehung von Kommentarliteratur behandelt, in den sensiblen Punkten aber kritische Literaturstimmen, die es reichlich gab, überhaupt nicht berücksichtigt und noch nicht einmal zitiert hat.

Der Beschluss weist die folgenden offenkundigen Schwächen auf:

  • Die selbstausführenden Normen der Bundesnotbremse hat das Gericht praktisch nicht näher problematisiert, auch nicht die damit vor allem verbundene Reduzierung des gerichtlichen Rechtsschutzes, die sich auch mit schlanken Hinweisen auf die Möglichkeit einer vorbeugenden oder negativen Feststellungsklage nicht einfach erledigen lässt.

  • Recht leicht macht es sich das Gericht zudem damit, dass die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3, 104 Abs. 1 Satz 1 GG „nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes“ und nicht unmittelbar durch Gesetz eingeschränkt werden kann, wie es durch die Bundesnotbremse möglich war. Die Hinweise, warum das entgegen dem Wortlaut möglich sein soll, sind wenig überzeugend.

  • Nicht behandelt wird in der Entscheidung das unklare Verhältnis von § 28a und § 28b IfSG. Denn § 28b kennt nur ein einziges Kriterium, die Inzidenzen, während § 28a eine Kriterienvielfalt oder doch Kriterienmehrheit aufweist, etwa neben den Inzidenzen noch die Auslastung des Gesundheitssystems. Auch wirkten die Stufungen gemäß § 28a IfSG und diejenigen nach § 28b merkwürdig unabgestimmt.

  • Und schließlich sei noch festgehalten, dass sich das lauthals angestrebte Ziel bundeseinheitlicher Regelungen mit § 28b IfSG nicht sicher erreichen ließ. Denn zum einen hatten die Länder bei Inzidenzen unter 100 die administrativen Zügel weiterhin fest in der Hand, ab 100 nicht mehr. Bei wiederholter Über- und Unterschreitung des Wertes waren hier interessante Jo-Jo-Effekte möglich. Da man den Ländern aber die Möglichkeit beließ, auch bei einer Inzidenz von über 100 noch weitergehende Schutzmaßnahmen zu erlassen (§ 28b Abs. 5 IfSG), war auch bei höheren Inzidenzen das Erreichen eines bundeseinheitlichen Standards nicht garantiert.

2 Ein Blick auf die aktuelle Lage

2.1 Impfpflicht

Die größte und nach wie vor einer Lösung harrende Frage im Zuge der Corona-Bekämpfung ist sicher die nach einer umfassenden Impfpflicht. Sie wurde von politischer Seite in den anderthalb Jahren seit Beginn der Pandemie mehr oder minder kategorisch ausgeschlossen. Das Bild änderte sich im Herbst 2021, als verschiedene Politiker verschiedener Parteien sowie andere Organisationen wie die Deutsche Krankenhausgesellschaft sich für eine allgemeine Impfpflicht aussprachen. Im Bundestag konnte keine Einigung erzielt werden: alle vier (fraktionsübergreifenden) Gesetzentwürfe, die nach längerer Vorgeschichte (Orientierungsdebatte im Januar 2022) im April 2022 dem Parlament vorlagen, verfehlten die erforderliche Mehrheit. Allerdings hatte der Bundestag schon im Dezember 2021 eine (im März 2022 in Kraft getretene) sogenannte einrichtungsbezogene Impfpflicht für solche Personen beschlossen, die im Gesundheitswesen tätig sind. Eilanträge gegen diese einrichtungsbezogene Impfpflicht hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2022 abgelehnt.

Die Meinungen über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer allgemeinen, also ab Volljährigkeit greifenden Impfpflicht gehen weit auseinander. Einige sehen sie als unproblematisch, andere als unverhältnismäßig an. In der Tat ist die Einschätzung nicht ganz einfach. Man wird zunächst zu konstatieren haben, dass die Impfpflicht einen Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) darstellt. Dieses Grundrecht steht aber unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt, so dass der Gesetzgeber nicht prinzipiell an einer solchen Regelung gehindert ist. Auch die Geeignetheit einer Impfpflicht wird man generell bejahen können. Für eine solche Impfpflicht lassen sich allgemein die Argumente des Selbstschutzes (jedenfalls vor einem schweren Krankheitsverlauf) und des Fremdschutzes, also des Schutzes Dritter, ins Feld führen. Allerdings ist der Selbstschutz für jüngere bis mittlere Jahrgänge (also grob: von 18 bis 50 Jahren) insofern kein besonders starkes Argument, als hier schwere Verläufe ohnehin selten zu verzeichnen sind. Beim Fremdschutz ist wiederum einschränkend zu berücksichtigen, dass auch Geimpfte infektiös sein können.

Andererseits lassen sich gegen eine Impfpflicht Argumente vorbringen, die sich vor allem auf die Neuartigkeit der Impfstoffe sowie auf ihren besonderen Wirkungsmechanismus beziehen. Bislang hat keiner der in Betracht kommenden Impfstoffe eine endgültige Zulassung der Behörden erteilt bekommen; die Zulassungen sind nur vorläufig. Der Grund: es liegen noch keine Langzeitstudien vor, wie sie bei Impfstoffen normalerweise üblich sind. Zum anderen ist der Wirkmodus jedenfalls der mRNA-Impfstoffe ein besonderer, der im Jahre 2022 erstmals überhaupt von einer staatlichen Behörde zugelassen worden ist. Denn hier werden durch die sogenannte Boten-RNA genetische Informationen für den Aufbau eines bestimmten Proteins in einer Zelle übertragen.

Dass diese beiden Punkte bei nicht wenigen Menschen Sorgen und Bedenken auslösen, wird man vielleicht nicht so einfach von der Hand weisen, sondern durchaus verstehen beziehungsweise nachvollziehen können. Von daher scheint eine gewisse Zurückhaltung bei der Durchsetzung einer Impfpflicht durchaus geboten. Eine sinnvolle und maßvolle, dabei vor allem die besonders gefährdeten älteren Jahrgänge in den Blick nehmende Regelung wäre deswegen eine altersbezogene Impfpflicht, die man vielleicht bei 60 Jahren ansetzen könnte. Das war auch der Vorschlag des Gesundheitsausschusses des Bundestages, der sich allerdings in der erwähnten April-Sitzung ebenfalls nicht durchsetzen konnte. Welche Schwierigkeiten eine allgemeine, also weder einrichtungs- noch altersbezogene Impfpflicht für alle Erwachsenen zu bewältigen hätte, zeigt das Beispiel Österreich. Die dort Ende 2021 eingeführte und im März 2022 bußgeldbewehrte Impfpflicht für alle volljährigen Personen wurde Ende Juni 2022 wegen des mangelnden Rückhalts in der Bevölkerung wieder abgeschafft.

2.2 Das Verhältnis von Bund und Ländern

In jedem Bundesstaat ist das Verhältnis zwischen dem Zentralstaat und den Gliedstaaten beziehungsweise, wie es in Deutschland heißt, das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, eine Dauerbaustelle. Nicht anders verhält es sich damit in Zeiten der Pandemie. Hier schwankte das Verhältnis im Laufe der vergangenen zweieinhalb Jahre zwischen zu viel und zu wenig Föderalismus. In der öffentlichen Debatte überwog dabei die föderalismuskritische Tendenz: Verbreitete Wörter wie „Flickenteppich“ oder „Landesfürsten“, mit denen die Uneinheitlichkeit der Maßnahmen und deren vermeintliche Urheber bezeichnet wurden, signalisierten einen starken anti-föderalen Reflex. Weithin in Vergessenheit geriet offenkundig, dass der Föderalismus gerade in Deutschland schon geschichtlich einen besonderen Wert besitzt. Nur in der NS-Zeit war Deutschland zentralistisch organisiert. Auch wird man kaum behaupten können, dass zentralistische Staaten wie Frankreich und Großbritannien bislang erheblich besser durch die Pandemie gekommen sind als wir. Zu wenig Föderalismus gab es zweifellos in Gestalt der Bundesnotbremse, wo die gebotene Feinsteuerung auf der Länderebene praktisch nicht mehr möglich war.

Man sollte daher einfach beim bewährten, im Grundgesetz vorgespurten Mittelweg bleiben: Der Bund trifft abstrakt-generelle Vorgaben und die Länder führen diese Gesetze (sei es direkt, sei es über den Weg konkretisierender Verordnungen) aus. Hier könnte es sich nun durchaus anbieten, etwas Wettbewerbsföderalismus zu praktizieren, auch in puncto Corona. Warum sollen nicht, wie in den USA in North und South Dakota, auch in Hessen und in Rheinland-Pfalz unterschiedliche Regelungen praktiziert und danach ausgewertet werden? Im europäischen Vergleich gibt es eine solche Vielfalt bereits. So waren die Schulen in Schweden und Dänemark nahezu immer offen, während es in Deutschland wochen- und monatelange Schulschließungen gab. Was war besser? Insbesondere, wenn man nicht allein auf die (ohnehin chronisch unsicheren) Coronainzidenzen schaut, sondern auch auf die unbeabsichtigten Nebenwirkungen der Maßnahmen – unter anderem schulische Defizite insbesondere in den sozial schwachen Schichten, ein signifikanter Anstieg an psychischen Problemen, deutlich mehr häusliche Gewalt – wird man die deutsche Alternative wohl nicht schlichtweg favorisieren können. Allerdings wäre eine sehr wichtige Voraussetzung für diese Art von Wettbewerbsföderalismus, dass die Landespolitiker auch bereit wären, die politische Verantwortung für den von ihnen gewählten Kurs zu tragen.

3 Ein Blick nach vorn

Abschließend geht der Blick nach vorn mit der Frage nach einem etwaigen Bedarf für neue rechtliche Regelungen auf der Ebene des Infektionsschutzgesetzes oder gar des Grundgesetzes.

3.1 Änderungen des IfSG?

Da das Infektionsschutzgesetz schon bislang sehr oft geändert worden ist, bedarf es keiner prophetischen Gabe, um auch weitere Änderungen für äußerst wahrscheinlich zu halten, zumal viele der bisherigen Maßnahmen Ende September 2022 auslaufen. Es stellt sich also die Frage, welche Änderungen vorgenommen werden sollten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht scheinen zwei Punkte recht klar zu sein: Zum einen bedarf es wohl keiner Neuauflage des § 5 Abs. 1 IfSG, aufgrund dessen die „Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag getroffen werden konnte. Ein derartiger Beschluss ist rechtskonstruktiv ungewöhnlich, weil erst dieser Beschluss die Anwendbarkeit der Normen ermöglicht, der Nicht-Beschluss also gleichsam wie eine Sperre wirkt. Es ist nicht recht einzusehen, warum nicht auch in einer Pandemie die übliche Handhabung ausreichen sollte, bei der allgemein-abstrakte Normen durch die Exekutive angewendet werden, wenn die Voraussetzungen ihres Vollzugs vorliegen. Zum anderen ist § 5 Abs. 2 IfSG verfassungsrechtlich nach ganz überwiegender Ansicht in der Rechtswissenschaft höchst problematisch, weil diese Norm das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, von gesetzlichen Vorschriften abzuweichen. Damit wird nicht nur die Normenhierarchie des Grundgesetzes auf den Kopf gestellt; auch verstößt die Weite und Unbestimmtheit der Norm, die eine ungewisse Fülle von gesetzlichen Vorschriften erfasst, gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. § 5 Abs. 2 IfSG sollte also ersatzlos gestrichen werden.

Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob und in welcher Hinsicht die Standardmaßnahmen der §§ 28, 28a IfSG einer Änderung unterzogen werden sollten. In den Beratungen des Gesundheitsausschusses ist der Punkt von einigen Sachverständigen immer wieder thematisiert und als vorzugswürdig eine Orientierung am Polizeirecht empfohlen worden. Das würde bedeuten, dass es Spezialermächtigungen geben müsste, die nach Art der Standardmaßnahmen des Polizeirechts aufgebaut sind. Abhängig von der steigenden Intensität der Betroffenheit wären hier jeweils höhere Anforderungen an Grundrechtseingriffe zu stellen. Doch so sympathisch der Ansatz auch ist: Angesichts der Ungewissheit über die Beschaffenheit der nächsten Pandemie dürfte es nicht leicht sein, hier hinlänglich abstrakt gefasste, die Grundrechtsbelastung aber einigermaßen genau taxierende Normen zu formulieren. Das Polizeirecht kann auf eine lange Tradition zurückblicken und hat die Standardmaßnahmen vor diesem Hintergrund letztlich nachvollziehbar und konsistent fassen können. Im Infektionsschutzrecht dürfte das noch etwas dauern.

3.2 Spezifische Notstandsregelungen im Grundgesetz?

Etwas grundsätzlicher als bei punktuellen Änderungen des IfSG setzt die Frage an, ob man vielleicht spezifische Notstandsregelungen in das Grundgesetz aufnehmen sollte, die dann auch im Falle einer Pandemie gelten könnten. Hierzu liegt ein konkreter, wenngleich schon vor der Pandemie entwickelter Vorschlag auf dem Tisch. Er entstammt der – sehr lesenswerten – Habilitationsschrift von Tristan Barczak [1]. Der Autor schlägt vor, in struktureller Parallele zu Art. 80a GG einen Art. 80b einzuführen, den er mit dem etwas sperrigen und ungewöhnlichen Begriff „Gesetzesbereitschaft“ umschreibt. Mit dieser Norm soll ein echtes, durch förmliche Feststellung zu aktivierendes Sonderregime für den Bereich des inneren Notstandes geschaffen und damit der Gefahr entgegengewirkt werden, dass es hier zur Ausbildung eines überpositiven Staatsnotrechts kommt. Konkret stellt der Autor sich das so vor, dass man einen bestimmten Katalog von Maßnahmen erstellt, der zur Bekämpfung der Notstandssituation gleichsam vorsorglich bereitgehalten, aber nur in der spezifischen Situation zum Einsatz gebracht wird. Voraussetzung dafür ist, wiederum wie bei Art. 80a GG, eine Zweidrittelmehrheit (der abgegebenen Stimmen) im Bundestag.

Es ist hier nicht der Ort für eine detailliertere Darstellung und eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Vorschlag. Er wirft das prinzipielle Problem auf, das alle Notstandsregelungen mit sich bringen: die ihnen innewohnende Tendenz zur Außerkraftsetzung parlamentarischer Sicherungen und die Gefahr einer „Gewöhnung“ an die eigentlich nur für besondere Situationen vorgesehene Notstandslage. Andererseits, und das ist die erklärte Motivation des Autors für seinen Vorschlag: Der Ausnahmezustand wird sichtbar gemacht und an bestimmte, klar benannte Voraussetzungen gebunden. Es scheint durchaus lohnenswert, über diesen Vorschlag ergebnisoffen und ohne Scheuklappen zu diskutieren.

3.3 Stellungnahme des Ethikrates

Einen ersten Versuch, die Pandemiezeiten einer intensiven Bewertung zu unterziehen, hat der Deutsche Ethikrat im Frühjahr 2022 unternommen [2]. Auch wenn der Titel der Stellungnahme („Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie“) zwei echte Modevokabeln kombiniert, die in den letzten Jahren geradezu endemisch geworden sind, ist doch der Ansatz einer umfassenden Analyse und dem Versuch der Entwicklung einer Langzeitstrategie ausdrücklich zu begrüßen. Diese Strategie ist allerdings nicht besonders juristisch und schon gar nicht in erster Linie verfassungsrechtlich ausgerichtet, weswegen der Text für unsere Betrachtung von eher geringer Relevanz ist. Auch sonst ist diese Stellungnahme gewiss nicht der Weisheit letzter Schluss, was sie auch gar nicht zu sein beansprucht. Sie stellt eher einen ersten Aufschlag für eine Gesamtanalyse dar, ist Ausgangspunkt, nicht Endpunkt einer breiten gesellschaftlichen Debatte, die wir – nicht nur, aber auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht – in Zukunft werden führen müssen.