Zusammenfassung
Die Gedichte in Nico Bleutges verdecktes gelände setzen prototypisch lyrische Sprachoperationen wie Metaphernbildung und Enjambement in einer Weise ein, die eine grundlegende Mehrdeutigkeit der konstituierten Gedichtwelt erzeugt bzw. ermöglicht: Welche Akteure hier in welcher Weise interagieren, kann auf verschiedenste Weise ausgelegt werden – abhängig von auch linguistisch erfassbaren bzw. gestützten textnahen Interpretationspfaden und -einstiegspunkten. Der vorliegende Aufsatz möchte aufweisen, dass eine mögliche Spielart von anthropozäner Lyrik (oder Lektüre) in einer Interdependenz oder Überlagerung von intensiver formaler Gestaltung und anschaulich-materieller Motivik und Dynamik liegen könnte, die eine erhöhte Aufmerksamkeit generiert für Sprache und Materie zugleich. Für die Analyse und Interpretation von Bleutges sprachbewusster und Ambiguitäts affiner Lyrik wird hier deshalb eine tentative Anreicherung einer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise mit grammatischen bzw. linguistischen Beobachtungen vorgenommen, die an den Sprachphänomenen des spezifischen Einzeltextes ansetzt. Etwas anders perspektiviert ist dieser Aufsatz als Vorschlag zu sehen, wie ein close reading von Nico Bleutges Gedichten als differierende, den Anthropos dezentrierende Assemblagen diese für ein anthropozänes Denken, Fühlen und Wahrnehmen fruchtbar machen könnte.
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – SFB 833 – Projektnummer 75650358.
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Notes
- 1.
Interessanterweise gilt der in der antiken griechischen Lyrik wurzelnde Adoneus als Element zum Ausdruck der Trauer; bei Sappho findet er seine prototypische Urform z. B. als Klageruf um den toten Adonis. Eventuell könnte man die auffällige Dominanz dieses metrischen Elementes im Gedicht sogar als Genrehinweis auffassen, so dass von einem ‚anthropozänischen Klagelied‘ gesprochen werden könnte, obwohl auch beachtet werden sollte, dass der Adoneus bei Sappho in der sapphischen Ode aufritt und nicht in einer Elegie.
- 2.
Eine andere Lesart wäre, im Gedichtverlauf eine Transition hin zu stärkerer (anthropomorpher) Agentialität der Zweige zu veranschlagen, also ein Hinübergleiten vom Literalsinn über anthropomorphe Metaphorik hin zur Personifikation, was auch anknüpfbar wäre an Theoreme des New Materialism von der dynamischen Wandlungsfähigkeit einzelner Agenzien (vgl. das Beispiel der Spule Odradek in Bennett 2004, 352). Eine Intensitätsänderung natürlicher Wirkmacht im Sinne einer solchen Dynamik wäre jedoch auch mit der im Haupttext beschriebenen Lesart kompatibel, dort jedoch im Rahmen der Personifikation selbst. Die Entscheidung für eine dieser Interpretationsoptionen hängt dann natürlich auch davon ab, ab wann eine Personifikation angesetzt wird etc.
- 3.
Vgl. das Bezugsgedicht [heut nacht durchschritt ich einen wald im traum] im selben Gedichtband. Anzumerken ist noch, dass in späteren Texten des Gedichtbandes mehrfach intertextuelle Rückverweise auf den ersten Zyklus vorkommen. So kann das erste Gedicht z. B. retrospektiv als Traumsequenz ausgewiesen werden, was der Konstruktionslogik der differierenden und interferierenden ontologischen Assemblagen einen weiteren möglichen Verschiebungsimpuls und zusätzlichen ‚verspäteten‘ Twist eröffnet.
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Im Sinne der von Horn und Bergthaller (2019, 126) geforderten instruktiven Wahrnehmbarmachung.
Literatur
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Bon, L. (2022). Formen des Anthropozän in der Gegenwartslyrik. Die sprachliche Ausgestaltung differierender Assemblagen in Nico Bleutges dämmerung. schwanken. In: Dürbeck, G., Probst, S., Schaub, C. (eds) Anthropozäne Literatur. Environmental Humanities, vol 1. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63899-6_12
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