1.1 Ausgangslage und Problemstellung

1.1.1 Tourismus im Kontext der COVID-19-Pandemie

Am 31.12.2019 wurde dem WHO-Länderbüro in China erstmals eine in Wuhan entdeckte Lungenentzündung unbekannten Ursprungs gemeldet. Bereits Anfang Januar 2020 lagen 41 Patienten mit bestätigten Infektionen durch eine neuartige Variante des Coronavirus (COVID-19) in chinesischen Krankenhäusern (Ren et al., 2020, S. 497). Obwohl sich das Virus in China rasch ausbreitete, wurde die Situation von politischen Verantwortlichen in weiten Teilen der Welt zunächst nicht ausreichend ernst genommen. Anfang 2020 hatte der weltweite Luftverkehr das Virus vermutlich bereits in alle Kontinente getragen, und bis Mitte März berichteten 146 Länder von Infektionen (Anderson et al., 2020, S. 931–934). Weltweit nahmen die bestätigten Infektionen fortan in einer ersten Ausbreitungswelle exponentiell zu und bis zum Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit im April 2020 näherte sich die Zahl der bestätigten Fälle in über 200 Ländern der 2-Millionen-Marke mit mehr als 125 000 Todesfällen (ECDC, 2020). Da bis zu diesem Zeitpunkt in den meisten Ländern nur wenige Tests durchgeführt wurden, beruhen die offiziellen Gesamtzahlen auf Hochrechnungen.

Die COVID-19-Pandemie stellt Regierungen, Gesellschaften und Unternehmen weltweit vor enorme Herausforderungen (Clark et al., 2020, S. 76; Gössling et al., 2020, S. 1). Mangels wirksamer Vakzine und aufgrund nur begrenzter medizinischer Therapiemöglichkeiten reagierten im Frühjahr 2020 viele nationale Regierungen mit Ausgangssperren (Isolierung von Häusern, freiwillige oder vorgeschriebene Quarantäne), sozialer Distanzierung, Schließung von Bildungseinrichtungen und sogenannter nicht systemrelevanter Arbeitsplätze, Absage von Veranstaltungen und Verboten von Menschenansammlungen ab einer bestimmten Anzahl Teilnehmer (Kraus et al., 2020, S. 1068). Internationale, regionale und lokale Reisebeschränkungen hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Volkswirtschaften und führten zu Problemen sowohl auf Nachfrage- als auch Angebotsseite. So stieg die Nachfrage in spezifischen Branchen wie dem Gesundheitswesen sprunghaft an, während sie in der Tourismusbranche zusammenbrach, da internationale Reisen, Inlandstourismus, Tagesausflüge und so unterschiedliche Bereiche wie Flugverkehr, Kreuzfahrten, öffentliche Verkehrsmittel, Unterkünfte, Cafés und Restaurants, Kongresse, Festivals, Tagungen oder Sportveranstaltungen von einem Tag auf den anderen erheblich eingeschränkt oder gar gänzlich untersagt wurden (Gössling et al., 2020, S. 1; Katzenberger-Ruf, 2020b, S. 5; Stumpf, 2020, S. 1–3). So lagen laut Pressemitteilung des deutschen Statistischen Bundesamts von April bis Juni 2020 die Umsätze der deutschen Reiseanbieter um 91 % unter denen des Vorjahreszeitraums (Destatis, 2021).

In der tourismusbezogenen Literatur gilt die COVID-19-Pandemie bereits jetzt als „Katastrophe von epischem Ausmaß“ (Romagosa, 2020, S. 2). Andere sind der Ansicht, dass „wir uns in einer Ära des großen Wandels befinden, die einem Weltkrieg oder einer großen Depression gleichkommt“ (Higgins-Desbiolles, 2020, S. 2–3) und dem Tourismus „möglicherweise ein […] Wechsel von einer nicht nachhaltigen Welt vor der Pandemie hin zu langfristigen, widerstandsfähigen und nachhaltigen globalen Praktiken“ bevorsteht (Aldao et al., 2021, S. 929–931).

Insbesondere kleine und mittelständische Tourismusunternehmen benötigen geeignete Mechanismen, um die wirtschaftliche Erholung in ihrem Sektor voranzubringen (Ozbay et al., 2022, S. 66; Vanhove, 2018, S. 19). Zunächst verhindert die Natur der touristischen Dienstleistung langfristig wirksame Nachholeffekte, um entgangene Einnahmen langfristig zu kompensieren: So kann ein während der Pandemie nicht abgerufener Bustransfer zu einem späteren Zeitpunkt nicht doppelt verkauft bzw. durchgeführt werden. Unklar bleibt, inwiefern sich die Wertschöpfung im Tourismusgeschäft angesichts neuer Hygienevorschriften, Social-Distancing-Regeln und möglicherweise zurückhaltender Gäste tiefgreifend verändern wird (Aldao et al., 2021, S. 931). So prognostiziert die Entrepreneurship-Forschung, dass die COVID-19-Pandemie etablierte Geschäftsmodelle beeinträchtigen wird (Ritter & Pedersen, 2020, S. 214). Erste wissenschaftliche Ansätze untersuchen zudem daraus entstehende unternehmerische Chancen (Ebersberger & Kuckertz, 2021, S. 125).

Wegen der Pandemie mussten nicht nur viele Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens, sondern auch Geschäftsaktivitäten von Unternehmen ins Internet verlagert werden. Im touristischen Bereich können viele Dienstleistungen aber nicht durch ein Onlineangebot ersetzt werden. Touristische Unternehmen mussten infolge staatlicher Beschränkungen vorübergehend ihren Betrieb einstellen, Vorsichtsmaßnahmen treffen oder ihre Tätigkeiten reduzieren. Es dauerte, bis sich Unternehmen in der neuen Situation zurechtfanden, in wesentlichen Aspekten ihrer unternehmerischen Tätigkeit innovative Lösungen fanden und politische Maßnahmen die Bereitstellung von Informationen, Beratung und finanzieller Unterstützung sicherten (Dvoulety et al., 2021, S. 489; Ebersberger & Kuckertz, 2021, S. 126).

1.1.2 Bedeutung der Flusskreuzfahrt

Bis 2020 galt die Kreuzfahrtindustrie als eines der am schnellsten wachsenden Segmente des Tourismus. Angetrieben von der Nachfrage aus Nordamerika und Europa (Bull, 2013; Cartwright & Baird, 1999; Domenech et al., 2020; Inger, 2018) hat sie seit den 1970er-Jahren eine rasante Entwicklung erlebt und zunehmend Forschungsinteresse auf sich gezogen (Dowling & Weeden, 2017; Klein, 2017; Papathanassis, 2017; Papathanassis et al., 2019). Bei einer Kreuzfahrt im touristischen Sinne steht nicht der Transport, sondern die Reise zu einem bestimmten Ziel bzw. Destination im Vordergrund. In der relevanten Literatur fehlt es zwar an einer allgemeingültigen Definition, dennoch werden meist ähnliche Inhalte beschrieben (Baker et al., 2016; Dowling & Weeden, 2017; Papathanassis, 2017; Papathanassis et al., 2019). So lässt sich eine Kreuzfahrt als „eine mehrtägige Schiffsreise mit Hotelcharakter beschreiben, bei der verschiedene Leistungen, wie z. B. Unterhaltungsangebote und die Möglichkeit von Landausflügen im jeweiligen Anlaufhafen, eine Pauschalreise bilden“. Auf einer „vorher festgelegten Route werden verschiedene Häfen angelaufen (ähnlich einer Rundreise auf dem Wasser), in denen Touristen Landausflüge unternehmen können“ (Kovacic et al., 2017, S. 28; Santos et al., 2019, S. 3). „Neben dem Ein- und Ausschiffungshafen muss mindestens ein weiterer Hafen angelaufen werden“, um die Reise als Kreuzfahrt zu bezeichnen. Zusätzlich muss mindestens eine Übernachtung auf See stattfinden (Cartwright & Baird, 1999, S. 28). Der Aufenthalt an Bord wird durch Annehmlichkeiten wie Restaurants, Bars, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Einkaufs- und Unterhaltungszentren sowie Kommunikationszentren zu einem zentralen Bestandteil dieser Reiseform; darüber hinaus „wirkt das Kreuzfahrtschiff selbst wie eine Destination“ (Baker et al., 2016, S. 74; Dowling & Weeden, 2017, S. 6). Das Ergebnis ist ein sozioökonomisches System, das auf der Interaktion zwischen den an der Kreuzfahrt beteiligten Menschen, Organisationen und geografischen Einheiten basiert (Papathanassis & Beckmann, 2011, S. 156). In der Regel steht hinter organisierten Kreuzfahrten eine Wertschöpfungskette, die Häfen, Destinationen, Transportunternehmen, Destinations-Management-Organisationen (DMO), Incoming-Agenturen, Anbieter von Speisen und Getränken sowie andere Dienstleistungen umfasst (Papathanassis, 2017, S. 108).

Der Kreuzfahrtmarkt differenziert sich in Hochsee- und Flusskreuzfahrten (Faieznor & Mohd, 2017, S. 176; Nezdoyminov & Milashovska, 2019, S. 149; Veretekhina et al., 2017, S. 533–534; Wild & Dearing, 2000, S. 320), beide Segmente mit zuletzt ähnlichen Wachstumsraten (Mankowska, 2019, S. 83). Auch Flusskreuzfahrten werden von einer permanent steigenden Zahl Touristen gebucht (Cooper et al., 2019, S. 418–419; Dragin & Erdeji, 2017, S. 116; Jaszberenyi & Asvanyi, 2016, S. 65–66; Poletan-Jugovic et al., 2020, S. 111).

Im Allgemeinen handelt es sich bei einer Flusskreuzfahrt um eine Reise, die auf einem Flussschiff zu Freizeitzwecken stattfindet (Veretekhina et al., 2017, S. 534). Es ist üblich, diesen Begriff nur für mehrtägige Reisen zu verwenden, bei denen die Passagiere die Nacht an Bord des Schiffs verbringen (van Balen et al., 2014, S. 71–72). Diese Beschreibung schließt Tageskreuzfahrten und Ausflüge aus. Im Gegensatz zu See- oder Hochseekreuzfahrten finden Flusskreuzfahrten auf schiffbaren Binnengewässern statt (Ruzic et al., 2018, S. 67–68). Heute konzentriert sich der Flusskreuzfahrtbetrieb vor allem auf Europa (Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 2). Gegenüber Hochseeschiffen sind Flusskreuzfahrtschiffe wesentlich kleiner, da sie gewässerspezifische Anforderungen an Schleusenlängen, Brückendurchfahrtshöhen und Tiefgang erfüllen müssen (Baker et al., 2016, S. 74; Jones et al., 2016, S. 2). Ein typisches Flusskreuzfahrtschiff ist zwischen 90 und 130 m lang und 11 m breit. Mit maximal drei Decks fasst es nur zwischen 80 und 200 Passagiere und bis zu 20 Besatzungsmitglieder (Dragin et al., 2009, S. 57; Ilcheva & Zhechev, 2010, S. 1–2; Kovacic et al., 2017, S. 28). Die wenigen Freizeitangebote an Bord sind nicht mit den zahlreichen Kinos, Theatern und Kletterwänden moderner Hochseekreuzfahrtschiffe vergleichbar und Flusskreuzfahrtteilnehmer verbringen mehr Zeit an Destinationen an Land als Reisende in der Hochseekreuzfahrt (Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 2). Bei Flusskreuzfahrten stehen das entspannte Reisetempo, das Erleben der Landschaft und häufige Landgänge im Vordergrund (Brodaric et al., 2017, S. 11–13; Fazenda et al., 2010; Gouveia et al., 2017, S. 2; Jones et al., 2016; Steinbach, 1995, S. 444–446). Aufgrund dieser wesentlichen Unterschiede sind Forschungsergebnisse aus dem Hochseebereich nur bedingt anwendbar und die Entwicklung flusskreuzfahrtspezifischer Untersuchungsansätze nötig (Dickinger & Zins, 2008, S. 140; van Balen et al., 2014, S. 72).

Die Flusskreuzfahrtindustrie hat sich in Europa erst seit den 1990er-Jahren zu einer Wachstumsbranche entwickelt, auch begünstigt durch die Eröffnung des 170 km langen Main-Donau-Kanals 1992 (Schindler & Zimmermann, 2021, S. 131–132). Anfang 2020 gab es auf Rhein und Donau 407 aktive Flusskreuzfahrtschiffe mit rund 60 100 Betten. Ihre Anzahl hat sich von 2004 bis 2017 mehr als verdoppelt (Hader, 2021, S. 14–17). Wirtschaftlich leistet die europäische Flusskreuzfahrtindustrie einen erheblichen Beitrag zur Wertschöpfung der Binnenschifffahrt. 2017 arbeiteten über 40 600 Menschen direkt oder indirekt für die Flusskreuzfahrtindustrie: 16 600 von ihnen an Bord, weitere 3514 an Land (ZKR, 2020, 2021b). Darüber hinaus sind etwa 11 000 Arbeitsplätze indirekt von Flusskreuzfahrten abhängig, wie z. B. bei Zulieferern, Häfen, Ausflugsagenturen und anderen Dienstleistern an Land. Allein von 2018 bis 2020 hat die Flusskreuzfahrtbranche von europäischen Werften insgesamt 27 neue Schiffe mit einem Investitionsvolumen von rund 585 Millionen Euro erworben (Heinrich, 2018, S. 1; ZKR, 2020, S. 12). Ein weiterer Wachstumsindikator für den europäischen Flusskreuzfahrtsektor ist der Nachfrageanstieg um fast 10 % auf 1,79 Millionen Passagiere 2019 (ZKR, 2020, S. 12). Diese dynamische Entwicklung der Flusskreuzfahrten in Europa lässt sich durch das ausgedehnte Netz schiffbarer Binnenwasserstraßen und die Fülle touristisch vermarktbarer Orte und Sehenswürdigkeiten (vgl. Kapitel 2) erklären (Ruzic et al., 2017, S. 12; Steinbach, 1995, S. 443–444; Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 2).

Die stärkste Nachfrage und damit letztlich auch das größte Angebot an Destinationen der Flusskreuzfahrt bestanden bis 2019 am Rhein und seinen Nebenflüssen (Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 2) und an der Donau (Mazilu et al., 2015, S. 80–84; Poletan-Jugovic et al., 2020, S. 112), was die Relevanz der für diese Arbeit gewählten Stichprobe unterstreicht. Die weiteren europäischen Flusskreuzfahrt-Zielgebiete Seine, Rhône, Mosel, Elbe, Oder, Douro (Gouveia et al., 2017, S. 2–3), Wolga, Dnjepr (Nezdoyminov & Milashovska, 2019, S. 149) oder Po fallen in Statistiken deutlich ab (Dragin & Erdeji, 2017, S. 116–117). Weltweit können unter anderen der Jangtse in China (Lam et al., 2020, S. 240), der Ayeyarwady in Myanmar (Cooper, 2017, S. 35), der Mekong in Kambodscha und Vietnam (Jones et al., 2016, S. 2–3), der Nil in Ägypten (Irincu et al., 2015, S. 277), der Chobe in Namibia und Botswana (Hader, 2021, S. 14–16), Klia in Malaysia (Faieznor & Mohd, 2017, S. 175–176) und der Murray in Australien (Prideaux & Cooper, 2009, S. 156–180) in die Liste der Kreuzfahrtflüsse aufgenommen werden.

Die bis 2020 boomende Flusskreuzfahrt-Branche und die mit ihr verbundenen touristischen „Zulieferer“ an den touristischen Destinationen wurden durch die COVID-19-Pandemie schwer getroffen (Hader, 2021, S. 14–17) und der Passagierverkehr (Flusskreuzfahrten) verzeichnete daher 2020 einen Rückgang der Fahrgastzahlen im Vergleich zum Vorjahr von 90–95 % (ZKR, 2021a, S. 128–135). So gilt bereits jetzt das Jahr 2020 „als annus horribilis in der Geschichte der Flusskreuzfahrt“ (Buchmüller, 2021, S. 1).

1.1.3 Flusskreuzfahrttourismus als Quellenmarkt der Destination Heidelberg

Heidelberg ist mit seinen knapp 160 000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt Baden-Württembergs und nicht nur als Inbegriff deutscher Romantik mit seiner pittoresken Altstadt und der Schlossruine auf der Wunschliste vieler Städtereisenden. Auch die Ruprechts-Karls-Universität trägt als eine der ältesten Universitäten Deutschlands zur Bekannt- und Beliebtheit der Stadt bei, deren Sehenswürdigkeiten auf überschaubarem Raum an den Ufern des Neckars gelegen sind. Heidelberg galt unter ausländischen Touristen viele Jahre lang als eines der attraktivsten deutschen Reiseziele (Partner, 2020, S. 4). Von 2009 bis 2019 folgte in der ehemaligen Residenz der Kurfürsten ein touristisches Rekordjahr auf das nächste. Über 1,6 Millionen Übernachtungen in Heidelberger Hotels und Herbergen wurden allein 2019 registriert (Partner, 2020, S. 4).

In der aktuellen Tourismusstudie für die Stadt Heidelberg wurden Tagestouristen, zu denen auch die Flusskreuzfahrttouristen gehören, als das größte touristische Marktsegment der Stadt identifiziert (ca. elf Millionen Aufenthaltstage 2015) und deren durchschnittliche Ausgaben mit 42 Euro pro Kopf und Tag ermittelt. Aus der touristischen Nachfrage resultieren rund 535,4 Millionen Euro Bruttoumsatz (Harrer & Neumann, 2015, S. 11–15). Besonders für das Wahrzeichen der Stadt, das Heidelberger Schloss, waren vor der Corona-Pandemie Flusskreuzfahrttouristen für annähernd 40 % des Umsatzes (750 000 von zwei Millionen Euro) verantwortlich (Hörnle, 2018b, S. 1). „Flusskreuzfahrtgäste sind für den Tourismus der Stadt überlebenswichtig“, so der Geschäftsführer der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg (Sommer, 2018, S. 1). Auch ca. die Hälfte der etwa 70 aktiven Gästeführer Heidelbergs lebt nach eigenen Angaben von dieser Klientel und schätzt das Aufkommen auf 200 000 Flusskreuzfahrt-Gäste pro Jahr (Hörnle, 2018b, S. 1). Diese Zahlen sind vergleichbar mit denen weiterer Flusskreuzfahrtdestinationen entlang Main und Donau. So zählten 2017 Bamberg 80 400, Regensburg 160 000 und Passau über 300 000 Flusskreuzfahrt-Gäste (Oßberger, 2018, S. 1–2). Angesichts der Wachstums- und Besucherzahlen waren viele Häfen und Destinationen bereits gesättigt und der massive Zustrom von Besuchern führte zu Staus in den Stadtzentren und Zufahrtsstraßen (Gui & Russo, 2011, S. 138; Hörnle, 2018c, S. 1; Katzenberger-Ruf, 2020b, S. 5; Partner, 2020, S. 4). So regten sich in Heidelberg bereits Widerstände von Anwohnenden, die mit „no rivercruise tourists!“-Aufstellern (Hörnle, 2018a, S. 2) gegen die „schiere Masse der Flusstouristen“ protestierten. Flusskreuzfahrer legen laut Geschäftsführer der städtischen Tourismus-Organisation nicht nur unmittelbar in Heidelberg an, sondern werden auch per Bus von den umliegenden Rhein-Häfen Mannheim, Speyer und Worms zum Heidelberger Schloss und in die Altstadt gefahren, weil die größeren Flusskreuzfahrtschiffe nicht durch die Neckarschleusen passen (Hörnle, 2018c, S. 1). Das für Flusskreuzfahrtgäste in Heidelberg etablierte Ausflugsprogramm lautet folgendermaßen: eine Stunde Schlossführung, eine Stunde Altstadtführung und mindestens eine Stunde Freizeit (Hörnle, 2018b, S. 2).

Auf diesen stetigen Aufstieg folgte im Frühjahr 2020 der harte Fall. Waren im Januar und Februar die Besucherzahlen nochmals um 14 % im Vergleich zum Vorjahr gestiegen (Partner, 2020, S. 4), kam es infolge der ab März geltenden Corona-Verordnungen zu einem historischen Einschnitt. Ab dem 17.03.2020 war das Heidelberger Schloss geschlossen (Manceron & Blaue, 2020, S. 3), Führungen waren nicht erlaubt, Museen und Sehenswürdigkeiten abgeriegelt und auch Schiffsverkehr zu touristischen Zwecken untersagt (Stumpf, 2020, S. 3). An der Destination Heidelberg sind von diesen Beschränkungen vor allem die Gästeführer intensiv betroffen (Lauer, 2021, S. 5). Sie sind freiberuflich tätig, arbeiten aber auch für private Agenturen oder für die städtische Tourismus-Gesellschaft (Stumpf, 2020, S. 3). Auch die regionalen Reisebusunternehmen befürchteten einen finanziellen Kollaps (Albrecht, 2020, S. 1). Selbst die städtisch finanzierten DMO oder die staatlich finanzierten Kulturdenkmäler wie das Heidelberger Schloss sind schwer getroffen – „das ist die massivste Krise, die ich bei den Staatlichen Schlössern und Gärten jemals erlebt habe“, betonte der Geschäftsführer der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg (Manceron & Blaue, 2020, S. 3).

Angesichts der andauernden Pandemielage benötigen insbesondere kleine und mittelständische Tourismusunternehmen im Inbound- bzw. Incoming-Tourismus, dem eingehenden Reiseverkehr an Destinationen, geeignete Mechanismen, um sich wirtschaftlich zu erholen und ihren Sektor voranzubringen (Ozbay et al., 2022, S. 66; Vanhove, 2018, S. 19). Ritter und Pedersen prognostizieren, dass die COVID-19-Pandemie etablierte Geschäftsmodelle beeinträchtigen wird (Ritter & Pedersen, 2020) und erste Untersuchungen adressieren daraus entstehende unternehmerische Chancen (Ebersberger & Kuckertz, 2021, S. 125).

1.2 Stand der Forschung

1.2.1 Krisenmanagement an der touristischen Flusskreuzfahrtdestination

Trotz der zunehmenden Anzahl von Publikationen und Sonderbeiträgen zur COVID-19-Pandemie in allen touristischen Bereichen wird aufgrund der einschneidenden Auswirkungen auf die Tourismusindustrie zu weiterer lösungsorientierter Forschung in diesem Bereich aufgerufen (Gössling et al., 2020, S. 15). Dabei sollte laut Lew (2020) Tourismusforschung im Kontext der COVID-19-Pandemie mit ihren spezifischen Resultaten dem Tourismus helfen, krisenbedingte Transformationen proaktiv zu gestalten, da ansonsten einfach eine Krise nach der anderen durchlaufen würde (Lew et al., 2020, S. 458). Gretzel et al. (2020) plädieren insbesondere im Bereich Digitalisierung für eine Tourismusforschung, die institutionelle Logiken wie beispielsweise Geschäftsmodelle sichtbar und transformierbar macht und dadurch die Zukunft des Tourismus gestalten kann (Gretzel et al., 2020, S. 319–320). Um eine „COVID-19-Forschungsblase zu vermeiden“, schlagen Sigala (2020) und weitere Autoren interdisziplinäre (Wen et al., 2021, S. 310), multidisziplinäre (Gössling et al., 2020, S. 2; Hall et al., 2020, S. 577) Forschung vor (Sigala, 2020, S. 313), wie beispielsweise eine Verbindung von Tourismus- und Entrepreneurship-Forschung, da aufgrund der Besonderheit der COVID-19-Krise die bisherige Forschung nicht ausreicht, um die Auswirkungen dieser Pandemie zu verstehen (Alves et al., 2020, S. 2).

Auch wenn die Anzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema steigt, liefern bisher nur wenige Studien einen umfassenden Rahmen für die Wahrnehmung von COVID-19 und Tourismus als langfristige und nachhaltige Lernmöglichkeit für die gegenwärtige Forschung (Persson-Fischer & Liu, 2021, S. 906–907). Besonders hinsichtlich der (Hochsee-)Kreuzfahrt sind wenige Studien mit COVID-19-Bezug erschienen (Radic et al., 2020, S. 6968–6970; Renaud, 2020, S. 679–681), ebenso ist der ohnehin unterforschte Bereich Flusskreuzfahrt wenig repräsentiert (Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 1). Sowohl Papathanassis und Beckmann als auch Hung (Literaturübersicht zur Kreuzfahrtforschung) stellen neben den Hauptthemen Nachhaltigkeit, Kreuzfahrtgäste, Kreuzfahrtpersonal, Kreuzfahrtschiffe sowie Kreuzfahrtunternehmen besonders den Forschungsbedarf für Kreuzfahrtdestinationen heraus (Hung et al., 2019, S. 207–208; Papathanassis, 2017, S. 104–105, 2020, S. 1715–1716; Papathanassis & Beckmann, 2011, S. 153–154; Vega-Munoz et al., 2020, S. 102354). Bezogen auf die Destination fehlen für ein systematisierbares Gesamtbild zudem Erkenntnisse über weitere Akteure im Incoming-Tourismus (Breier et al., 2021, S. 2; Kuscer et al., 2022, S. 247–248). Diese Erkenntnisse lassen sich im ebenso wenig beforschten Flusskreuzfahrt-Incoming gewinnen, dessen wesentliche Akteure Gästeführer, Reisebus-Unternehmer und lokale DMO sind (Lam et al., 2020, S. 240; Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 4). Für die vielen von Flusskreuzfahrten angefahrenen Destinationen hat der Wegfall dieser relativ stabilen Form des organisierten Reisens jedoch erhebliche Auswirkungen, die eine genaue Prüfung sowie wirksame Planungs- und Managementkonzepte erfordern (Bosnic & Gasic, 2019, S. 32; Mankowska, 2019, S. 90; Tomej & Lund-Durlacher, 2020, S. 1–2).

Bezüglich Krisen- und Katastrophenmanagement an touristischen Destinationen gibt es zwar einige Übersichten (vgl. Kapitel 2), die andere Phasen wie Planung und Vorbereitung allerdings nicht untersuchen (Ritchie & Jiang, 2019, S. 102912). Dabei muss aktuell der Schwerpunkt auf diesen Phasen liegen, um Unternehmen und Destinationen zu unterstützen, ihre Anfälligkeit für Krisen zu verringern und ihre Widerstandsfähigkeit im Vorfeld von Krisen und Katastrophen zu stärken (Ritchie & Jiang, 2019, S. 102912). Bereits vor der Pandemie wurden in der Forschung proaktive Empfehlungen für Destinationen vor (Risikomanagement), während (Reaktionsphase) und nach (Erholungsphase) einer Krise gefordert (Kozak & Kozak, 2019, S. 273; Kuscer et al., 2022, S. 249).

Eine große Anzahl verfügbarer Studien konzentriert sich auf Marketing, Positionierung und Medienmanagement von Destinationen nach Krisen, da Tourismus in hohem Maße von der physischen Infrastruktur und den Auswirkungen auf das Image der Destination betroffen ist (Ritchie & Jiang, 2019, S. 102812). Trotz der weiten Verbreitung touristischer KMU an Destinationen ist die Literatur zu deren Reaktion auf und Erholung nach Krisen, erst recht im Kontext einer Pandemie, überschaubar (Alves et al., 2020, S. 5). Vor allem aufgrund der zunehmenden Macht multinationaler Tourismuskonzerne gab es schon länger die Forderung nach mehr Forschung zu den in Destinationen arbeitenden touristischen, einheimischen KMU (Gui & Russo, 2011, S. 129; Irvine & Anderson, 2004, S. 20–29). Auch aus dem Entrepreneurship wird aktuell Forschung zu stark gefährdeten Sektoren wie Kultur, Gastgewerbe oder Tourismus (Betzler et al., 2021, S. 796–797; Breier et al., 2021, S. 102723; Silva et al., 2022, S. 115–116) gefordert, um bei gemeinsamen Forschungsaktivitäten und der Entwicklung von Maßnahmen zur Förderung des Unternehmertums zusammenzuarbeiten (Dvoulety et al., 2021, S. 493).

1.2.2 Krise als Auslöser von Geschäftsmodellinnovation und Digitalisierung

Trotz der Bedeutung von Krisen für den Wandel von Geschäftsmodellen wurde in der Literatur deren in dieser Hinsicht auslösende Rolle weitgehend übersehen (Ritter & Pedersen, 2020, S. 214). Die Unternehmensforschung – und vermutlich auch die Unternehmenspraxis – thematisiert diesen Einfluss typischerweise in Bezug auf Scheitern, Resilienz und Krisenmanagement bei bestehenden Unternehmen (Buchanan & Denyer, 2013, S. 207; Doern et al., 2019, S. 401; Korber & McNaughton, 2018, S. 1129–1130; Ritchie & Jiang, 2019, S. 102812–102813; Sutcliffe et al., 2017). Die COVID-19-Pandemie veranschaulichte jedoch die Grenzen dieser Ex-post-Forschung, zumal bereits davor die Treiber von Geschäftsmodellinnovationen (business model innovation) nicht identifiziert waren (Foss & Saebi, 2017, S. 202). Speziell inter- bzw. multidisziplinäre Forschung von Geschäftsmodellen, Innovation derselben und Tourismus ist noch selten, lässt aber erkennen, dass BM-Überlegungen und BMI in dieser Branche empirisch relevant sind (Bogers & Jensen, 2017, S. 2325–2326). So finden sich vereinzelt Studien zur positiven Wirkung von BMI während der COVID-19-Pandemie im Tourismus (Andrianto et al., 2021, S. 6; Breier et al., 2021, S. 102723; Renz & Vladova, 2021, S. 2–4; Silva et al., 2022, S. 115).

Die Forschung zu BMI führt die zusätzliche Dimension der Innovation ein und wirft dadurch eine Reihe entscheidender theoretischer und empirischer Fragestellungen bezüglich der Treiber, Förderer und Hemmnisse der BMI auf, speziell im Hinblick auf Krisen als Antezedenzien (Clauss, Abebe, et al., 2021, S. 4; Foss & Saebi, 2017, S. 201; Schneckenberg et al., 2022, S. 600; Schneider & Spieth, 2013, S. 134000112; Spieth et al., 2014, S. 237–238). Von einigen Studien abgesehen (vgl. Kapitel 3) werden Treiber von Geschäftsmodellinnovationen nicht identifiziert (Zhang et al., 2021, S. 804).

Ein überwiegender Anteil der Forschung adressiert nur ein einzelnes Unternehmen als Analysegegenstand. Dagegen sind Studien, die die Team- oder Netzwerk-Ebene wie beispielsweise bei den KMU einer touristischen Destination betrachten (vgl. Kapitel 2), unterrepräsentiert (Andreini et al., 2021, S. 4; Andreini & Bettinelli, 2017, S. 81; Osiyevskyy & Dewald, 2015, S. 9, 2018, S. 16; Sarkar & Osiyevskyy, 2018, S. 48). Nach wie vor fehlt es an empirischer Forschung zu Geschäftsmodellinnovationen und wenige Studien untersuchen, ob und wie verschiedene Faktoren die Innovation von Geschäftsmodellen beeinflussen können (Bhatti et al., 2021, S. 389). Trotz der Bedeutung von Krisen für Geschäftsmodelländerungen hat die Literatur deren Rolle bei der Förderung von Geschäftsmodellinnovationen weitgehend übersehen (Ritter & Pedersen, 2020, S. 214). Forschungspublikationen konzentrieren sich hauptsächlich auf große Unternehmen, obwohl KMU als die treibende Kraft für Beschäftigung, Innovation und Wachstum angesehen werden (Alves et al., 2020, S. 3; Bouwman et al., 2019, S. 5; Chesbrough, 2010, S. 361). Bisherige BMI-Studien fokussieren große Unternehmen und Forschung zu KMU, insbesondere zum Einfluss von Digitalisierung, fehlen (Bouwman et al., 2019, S. 4; Gruber, 2019, S. 116–117; Heikkilä et al., 2018, S. 108; Kraus, Jones, et al., 2021, S. 1–2; Parida et al., 2019, S. 392–394). Explizit weisen Marx und Klotz (2021) darauf hin, dass sich der Tourismussektor gut eignet, um das Phänomen von Innovation in der Krise bei KMU zu untersuchen, weil etablierte Ansätze der Innovation durch COVID-19 gestört wurden (Marx & Klotz, 2021, S. 2).

Die beschriebene Nachlässigkeit spielt insbesondere im aktuellen Kontext eine Rolle, da kleine Unternehmen krisenanfällig sind (Doern et al., 2019, S. 403–405), aber noch wenig darüber bekannt ist, wie lange sie Krisen wie die COVID-19-Pandemie bewältigen können (Alves et al., 2020, S. 3; Herbane, 2019, S. 5–6; Kraus, Mahto, et al., 2021, S. 8; Kuckertz et al., 2020, S. e00173). Dass diese Pandemie ein bedeutender exogener Schock für unternehmerische Aktivitäten darstellt, den es weiter zu untersuchen gilt, erkannte die wissenschaftliche Gemeinschaft schnell und initiierte eine Sammlung empirischer Erkenntnisse in Sonderausgaben führender Fachzeitschriften für Unternehmertum, wie beispielsweise Entrepreneurship Theory and Practice, Small Business Economics, Journal of Business Research oder Journal of Entrepreneurship in Emerging Economies, mit dem allgemeinen Forschungsaufruf, die COVID-19-Pandemie mit früheren Krisen und Schocks zu verknüpfen, etablierte Theorien zu überdenken und diese Reflexionen zu nutzen, um das unternehmerische Verhalten zur Bewältigung während und nach der Pandemie besser zu verstehen (Dvoulety et al., 2021, S. 489). Der Mangel an Wissen zu diesem wichtigen Thema wurde während der Corona-Pandemie insofern besonders deutlich, als viele Unternehmen plötzlich der Notwendigkeit einer erheblichen Geschäftsmodellanpassung gegenüberstanden (Ritter & Pedersen, 2020, S. 214).

Auch bezüglich des Zeitpunkts und methodischen Vorgehens ergibt sich aus der aktuellen Forschung ein spezifischer Bedarf. So wird bemängelt, dass Studien zum Krisenmanagement in der Regel nach Krisen durchgeführt werden und daher Studien während Krisen notwendig sind (Lai & Wong, 2020, S. 3138). Bezüglich des Forschungsdesigns werden in der Krisenforschung im Gegensatz zur allgemeinen Wirtschafts-, Management- und Organisationsforschung Fallstudien und kleine Stichproben geschätzt (Buchanan & Denyer, 2013, S. 206), weil sie die zeitliche, sich entfaltende Natur von Krisen und den Ablauf von Krisenereignissen effektiv zu erfassen geeignet sind und sich in Forschungsdesigns zur Krisenforschung gleichsam eine Beschränkung auf bestimmte Orte anbietet (Doern et al., 2019, S. 403–405). Dabei ist in der Entrepreneurship-Forschung die akteurszentrierte Perspektive überwiegend anerkannt (Davidsson et al., 2021, S. 1) und speziell im Kontext der Forschung zu Geschäftsmodellinnovation, die als aufstrebendes, noch wenig ausgereiftes Gebiet gilt, stellen Fallstudien den geeignetsten Untersuchungsansatz dar (Yang et al., 2017, S. 1797).

1.3 Forschungslücke, Zielsetzung und Forschungsfragen

Mit den bisherigen Überlegungen kann in den sich überschneidenden Bereichen von Tourismus- und Entrepreneurship-Forschung relevanter Forschungsbedarf identifiziert werden. So beleuchtet aktuelle Forschung die derzeitige Welttourismusindustrie aus verschiedenen Blickwinkeln und versucht sich an Prognosen über die Zukunft des Tourismus nach COVID-19. Dennoch haben nur wenige Studien COVID-19, krisenbezogene Tourismusforschung, Krisenmanagement an Destinationen, speziell in der Flusskreuzfahrt, und Entrepreneurship-Forschung zu Geschäftsmodellinnovation von KMU vollständig integriert, um innovative Ansätze zur Krisenbewältigung zu erarbeiten.

Die Tourismusforschung zum Krisenmanagement in Destinationen sieht als mögliche Lösungsansätze bisher lediglich (1) ein verstärktes Marketing für regionale Gäste, (2) das Herunterfahren der Angebotsinfrastruktur und (3) Krisenkommunikation vor (Ertas et al., 2021, S. 14). In der Branche werden (4) staatliche Hilfen als bislang wichtigster Faktor zur Bewältigung von Krisen angesehen (Israeli & Reichel, 2003, S. 379; Mansfeld, 1999, S. 35). Aktuelle – bisher überwiegend theoretische – Ansätze des touristischen Krisenmanagements im Kontext von organisationalem Lernen und Resilienz plädieren, das „System“ der touristischen Destination in einem ständigen Zustand der Innovation und Evolution zu halten, um touristische Nachfrage erfolgreich zu erhalten und fortwährend zu generieren (Cheer & Lew, 2021, S. 241; Gretzel & Scarpino-Johns, 2018, S. 269). So besteht Einigkeit, dass die bisherigen Modelle Ausmaß und Intensität der durch COVID-19 verursachten Krise nicht berücksichtigen (Hall et al., 2020, S. 577–578; Silva et al., 2022, S. 115–116). Da bisherige Präventivmaßnahmen nicht anwendbar sind, ist es wichtig zu verstehen, welche strategischen Optionen für die Wiederbelebung des Geschäftsnetzes einer Destination angeboten werden können.

In der Entrepreneurship-Forschung gilt BMI als proaktive Innovationsstrategie zur Krisenbewältigung als richtungsweisend, da sie eine krisenbedingte Chancenverwertung anstößt (Marx & Klotz, 2021, S. 1). Es hat sich gezeigt, dass Unternehmen, die eher explorative Strategien für neue Produkt- und Marktentwicklungen verfolgen, Krisen besser bewältigen (Clauss, Breier, et al., 2021, S. 308). Einerseits hat die COVID-19-Pandemie die Tourismusbranche zum Erliegen gebracht, andererseits könnte Innovationsmanagement die Tourismusindustrie in diesem Kontext positiv verändern (Breier et al., 2021, S. 1; Ritter & Pedersen, 2020, S. 214). Eine solche vorübergehende (Clauss, Breier, et al., 2021, S. 294) oder dauerhafte Innovation für das System der touristischen Destination (Breier et al., 2021, S. 309; Silva et al., 2022, S. 117) sieht die vorliegende Arbeit ähnlich wie in Ansätzen von Souto (2015) in der Möglichkeit der Geschäftsmodellinnovation der einzelnen touristischen KMU als Akteure der Destination (Souto, 2015, S. 152). Geschäftsmodellinnovation könnte zudem als proaktive Maßnahme des Krisenmanagements für Destinationen vor (Risikomanagement), während (Reaktion) und nach (Erholung) einer Krise dienen (ähnlich Kozak & Kozak, 2019, S. 273; Silva et al., 2022, S. 118).

Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, die identifizierte Forschungslücke zu füllen, indem sie einerseits einen theoretischen Wissensrahmen für die Überschneidung der aufstrebenden Forschungsfelder bereitstellt und andererseits durch empirische Forschung ergänzt. Der Forschungsstand wird in den Kapiteln 2 und 3 (Tourismus- bzw. Entrepreneurship-Forschung) präzisiert.

So konzentriert sich die vorliegende Arbeit anders als der vorherrschende Diskurs über die negativen Auswirkungen der Krise auf die Möglichkeit eines positiven Einflusses der Pandemie, die befähigenden Auswirkungen auf die unternehmerische Tourismus-Praxis oder im akademischen Sinne auf positive, befähigende Effekte der Entrepreneurship-Forschung für Tourismusforschung sowie die COVID-19-Pandemie als Auslöser von Geschäftsmodellinnovation und Digitalisierung bei KMU in Tourismusdestinationen. Das konkrete Forschungsinteresse besteht also in der Gewinnung neuer Erkenntnisse über die COVID-19-Krise als Auslöser für Geschäftsmodellinnovation und deren mögliche Integration als proaktive Maßnahme im touristischen Krisenmanagement bei KMU einer Flusskreuzfahrtdestination.

Da diese Krise in ihrer globalen Reichweite, in ihren wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen besonders bedeutsam ist, beabsichtigt vorliegende Arbeit, neue konzeptionelle und empirische Erkenntnisse für das Feld des Krisenmanagements von Destinationen (Tourismus und KMU) sowie der Geschäftsmodellinnovation (Entrepreneurship und KMU) zu verbinden und klare Implikationen für die Praxis zu formulieren. Ziel der Forschung ist, dass diese Erkenntnisse und Faktoren zur Verbesserung staatlicher Hilfs- und Förderprogramme sowie beim Krisenmanagement in Destinationen herangezogen werden können. Dabei beschränkt sich der Anwendungsbereich nicht nur auf – wie in der bisherigen Forschung üblich – DMO (vgl. Kapitel 2), sondern gibt auch den zahlreichen kleinen und mittleren touristischen Akteuren an Destinationen proaktive Ansätze zur Bewältigung dieser und zukünftiger Krisen an die Hand.

Ausgangsvermutung ist unter anderem, dass – auch nur vorübergehende – Geschäftsmodellinnovation ein proaktiver Lösungsansatz für Akteure der Flusskreuzfahrtdestination in der Krise sein kann und mithin eine Rolle für die Resilienz der Destination als Ganzes spielt. Eine weitere Annahme lautet, dass die durch COVID-19 ausgelöste Krise bzw. der daraus resultierende finanzielle Druck ein begünstigender Faktor für Geschäftsmodellinnovation darstellt und staatliche Unterstützung diesem positiven Aspekt entgegenwirkt. Mit Verweis auf das qualitative Forschungsparadigma der Arbeit wird von anfänglichen Vermutungen und nicht von Hypothesen gesprochen.

Um die dargestellte Zielsetzung zu erfüllen und die beschriebene Forschungslücke zu schließen, wurden folgende Hauptforschungsfragen formuliert und thematisch im Hinblick auf das touristische Krisenmanagement der Destination sowie die Krise als Auslöser von Geschäftsmodellinnovation in weitere Forschungsfragen untergliedert:

Forschungsfrage 1: Inwiefern nehmen Akteure einer Flusskreuzfahrtdestination die COVID-19-Pandemie als Krise wahr und ergreifen (Sofort-)Maßnahmen, um deren Auswirkungen entgegenzuwirken?

Vor der COVID-19-Pandemie:

  • Inwiefern wurden Ereignisse vor der COVID-19-Pandemie als Krisen wahrgenommen?

  • Inwiefern hatten vergangene Ereignisse Auswirkungen auf die touristische Tätigkeit?

  • Inwieweit wurden aufgrund vergangener Ereignisse Maßnahmen ergriffen?

Ab der COVID-19-Pandemie:

  • Inwiefern wird die COVID-19-Pandemie als Krise wahrgenommen?

  • Inwiefern hat die COVID-19-Pandemie Auswirkungen auf die touristische Tätigkeit?

  • Inwieweit werden aufgrund der COVID-19-Pandemie Maßnahmen ergriffen?

Forschungsfrage 2: Wie und in welcher Weise wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf Geschäftsmodelle von Akteuren an einer Flusskreuzfahrtdestination aus?

  • Inwiefern verändern Akteure ihre Geschäftsmodelle während der COVID-19-Pandemie?

  • Inwiefern handelt es sich um Geschäftsmodellinnovationen?

  • Inwiefern ist die COVID-19-Krise Auslöser für diese Veränderungen?

  • Welche Faktoren begünstigen oder erschweren diese Veränderungen?

  • Inwiefern ist die Digitalisierung von Bedeutung?

1.4 Struktur der Arbeit

Nach der Einführung in den forschungsrelevanten Kontext, den Stand der Forschung sowie die daraus abgeleiteten Forschungsfragen wird in den Kapiteln 2 und 3 näher auf hier relevante theoretische Grundlagen eingegangen (vgl. Abbildung 1.1). Auch wenn explorative Studien die offenen Forschungsfragen empirisch beantworten, um den Gegenstand besser zu erfassen und Theoriebildung vorzubereiten, greifen sie auf etablierte theoretische Konzepte und Modelle zurück (Döring & Bortz, 2016, S. 165). Um solche – im qualitativen Forschungsparadigma so bezeichneten – „sensibilisierenden Konzepte“ geht es in den Kapitel 2 und 3. Da sich die Arbeit in der Schnittmenge zweier Querschnittswissenschaften – Tourismuswissenschaft und Unternehmertum – bewegt, wurde dahingehend eine Unterteilung in diese beiden Bereiche gewählt.

So liegt der Fokus im Kapitel 2 auf Tourismusforschung im Kontext von Krisen und Krisenmanagement touristischer Destinationen. Darin werden zum einen die relevanten Konzepte aus dem Tourismus rund um die touristische Flusskreuzfahrtdestination und ihre Akteure, also das Forschungssubjekt und letztendlich die Stichprobe, theoretisch erörtert. Zum anderen werden touristische Krisen mit der Thematik des Krisenmanagements von Destinationen verbunden und abschließend von der Resilienz von Destinationen abgegrenzt.

Kapitel 3 erläutert die relevanten Konzepte aus dem Unternehmertum rund um Geschäftsmodell, Geschäftsmodellinnovation und Krise als deren Auslöser, widmet sich also dem Forschungsobjekt. In diesem Kontext wird Digitalisierung, insbesondere touristischer Geschäftsmodelle, detailliert problematisiert und von weiteren Forschungsgebieten abgegrenzt.

Die Kapitel 4 und 5 bilden den empirischen Teil der Arbeit. Gegenstand von Kapitel 4 sind die eingesetzte Methodik und die gewählte Datenbasis. Genauer eingegangen wird auf die Entscheidung für ein qualitatives Vorgehen, für das konkrete Design der explorativen Fallstudie und deren Elemente. Dabei werden Erhebungs-, Transkriptions- und Auswertungsmethoden dargestellt sowie auf Details zur Stichprobe eingegangen. Besondere Sorgfalt wurde auf die Schilderung der konkreten Praxis der Untersuchung gelegt, sowohl bezogen auf organisatorische Fragen, wie etwa den Feldzugang und die Kontaktaufnahme, als auch reflektiert unter den Gesichtspunkten von Gütekriterien.

Die aus der Anwendung der Methode auf das Datenmaterial erzeugten Ergebnisse stehen dann in Kapitel 5 im Mittelpunkt der deskriptiven Darstellung. In diesem Kontext werden Meinungen und Bewertungen der Befragten sowie Ergebnisse bezüglich der forschungsleitenden Frage diskutiert und der Bezug zum Stand der Forschung sowie zu theoretischen Grundlagen hergestellt.

Abschließend werden in Kapitel 6 nach einer Zusammenfassung der Kernaussagen und der Beantwortung der Forschungsfragen deren Implikationen für Forschung und Praxis erläutert. Auf Basis der abschließend besprochenen Limitationen und Grenzen der Arbeit wird weiterer Forschungsbedarf abgeleitet und ein Ausblick formuliert.

Abbildung 1.1
figure 1

Struktur der Arbeit. (Quelle: Eigene Darstellung)